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«Eure Demokratie ist längst nicht so toll, wie ihr glaubt»

Pascal Burkhard
24th März 2016

Rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung besitzt keinen roten Pass und darf deshalb politisch kaum mitbestimmen. Verträgt sich das mit den Idealen der Demokratie, auf welche die Schweiz so stolz ist? Nein, lautet der eindeutige Tenor unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an den 8. Aarauer Demokratietagen teilnahmen.

Aarauer Demokratietage

Geht es darum, möglichst grosse Teile der Bevölkerung am demokratischen Entscheidungsprozess zu beteiligen, schneidet kaum eine moderne Demokratie so schlecht ab wie die SchweizDaniel Kübler, Professor für Demokratieforschung und Public Governance an der Universität Zürich, rechnet vor: "Heute sind nur gerade 83 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz wahlberechtigt." Dabei gibt es durchaus Migrantinnen und Migranten, die sich in ihrer lokalen Gemeinschaft einbringen möchten. Dies zeigt das Beispiel der Mitwirkung in Elternräten von Primarschulen: Im Schnitt beträgt der geschätzte Anteil der Ausländerinnen und Ausländer zwischen 10 und 15 Prozent.

Demokratiedefizit in deutschsprachigen Ländern

Zum gleichen Schluss kommt Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Luzern. Er stellte den IMIX vor, ein Messinstrument der elektoralen Inklusion von Immigranten. Dieses berücksichtigt u.a. die Einbürgerungspraxis eines Landes oder die Gewährleistung des Ausländerstimmrechts

Blatters Ranking der inklusivsten Länder wird von den nordischen Staaten angeführt. Deutschsprachige Länder weisen diesbezüglich ein deutliches Demokratiedefizit auf, wobei die Schweiz einen der letzten Plätze belegt. Sein aus verschiedenen Demokratietheorien abgeleitetes Ideal, wonach Migranten bereits nach fünf Jahren das Wahlrecht erhalten sollten, erfüllt jedoch kein Land Europas. Blatter betont aber auch, dass sein Messinstrument nicht die sozio-ökonomische Integration messe, denn da würde die Schweiz vermutlich deutlich besser abschneiden.

Die politische Forderung, dass das Stimmrecht für Immigranten alleine durch Einbürgerungen erwerbbar sein soll, lässt Blatter nicht gelten. „Unsere Untersuchung zeigt, dass Einbürgerungen und Ausländerstimmrecht keine Alternativen sind, sondern eine Korrelation aufweisen. Sie verdeutlichen, wie weit ein Land bereit ist, seine Immigranten zu inkludieren.“

Belebung des kriselnden Milizsystems

Gerade in der Schweiz könnte diese Inklusion einen schönen Nebeneffekt aufweisen: Andreas Müller von Avenir Suisse sieht im passiven Ausländerwahlrecht eine Möglichkeit, mehr Menschen für das kriselnde Milizsystem zu gewinnen.

Warum verwehrt man Menschen, die sich aktiv betätigen wollen, den Zugang zur Politik und beklagt gleichzeitig, dass zu wenig Leute für politische Ämter gefunden werden?

Andreas Müller, Avenir Suisse

Müller weist darauf hin, dass das Ausländerwahlrecht in der Deutschschweiz nicht etwa in den liberalen, urbanen Gemeinden eingeführt worden ist, sondern in kleinen, ländlichen Gebieten. Es sind jene Gemeinden, die in der Regel mehr Probleme haben, Personen für ihre Ämter zu finden und vom passiven Ausländerwahlrecht profitieren können.

Die bisherigen Erfahrungen in den 600 Gemeinden, die diese politischen Rechte für Ausländerinnen und Ausländer bereits kennen, zeigen aber auch, dass sich nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner mit ausländischem Pass aktiv an der Kommunalpolitik beteiligen. Dennoch ist für Müller klar: „Keine Gemeinde, die das passive Ausländerwahlrecht eingeführt hat, würde es wieder abschaffen.“

Kaum Auswirkungen auf Wahl- und Abstimmungsergebnisse

Dass sich Schweizerinnen und Schweizer ohne Migrationshintergrund in der Regel fleissiger politisch beteiligen, ergaben auch Umfragen zum Wahl- und Stimmverhalten. Welche parteipolitischen Auswirkungen das allgemeine Ausländerwahlrecht hätte, sind gemäss Oliver Strijbis, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Carlos III von Madrid, jedoch nur schwer voraussehbar. „Bei der Masseneinwanderungsinitiative haben gemäss unserer Umfrage Personen mit Migrationshintergrund nahezu identisch abgestimmt, selbst nicht wahlberechtigte Personen mit Migrationshintergrund hätten die Initiative zu grossen Teilen angenommen", so Strijbis.

Es gibt also kaum wahl- oder abstimmungsstrategische Gründe gegen das Ausländerwahlrecht.

Oliver Strijbis, Universität Carlos III von Madrid

Eine Frage der Perspektive

Während die Politikwissenschaftler im ersten Panel das Verbesserungspotenzial der Demokratie in der Schweiz aufzeigen, eröffnet die rechtswissenschaftliche Sichtweise im zweiten Panel eine andere Perspektive: Andreas Glaser, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich, betont, dass die Schweiz im internationalen Vergleich gar nicht derart schlecht abschneide. So dürfen beispielsweise Ausländerinnen und Ausländer in EU-Staaten in vielen Fällen nur an Kommunalwahlen teilnehmen, wenn sie die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes besitzen. Ob es sich dabei um ein Ausländerstimmrecht im engeren Sinne handelt, sei fraglich.

In der Schweiz kennen Ausländerinnen und Ausländer das Wahl- und Stimmrecht auf kommunaler Ebene in rund einem Viertel aller Gemeinden. In den Kantonen Jura und Neuenburg wird ihnen dieses Recht ebenfalls auf kantonaler Ebene zugesprochen und im Kanton Neuenburg dürfen sich Migrantinnen und Migranten auch an der Ständeratswahl beteiligen. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz hiermit eine Seltenheit, denn kaum ein anderes Land kennt Ausländerstimm- und -wahlrechte über der kommunalen Ebene.

Auch in einer anderen Hinsicht nahm die Schweiz eine Vorreiterrolle ein: "Die Menschen, die hier leben, sind immer häufiger auch Beteiligte anderer staatlicher Systeme", stellte Walter Leimgruber im Eröffnungsreferat fest. Diese Vorstellung fand bereits 1990 mit der Einführung der mehrfachen Staatsbürgerschaft Eingang ins Gesetz. Zum Vergleich: Deutschland kennt die Doppelbürgerschaft für EU-Bürger faktisch seit 1999 und Österreich erlaubt die doppelte Staatsbürgerschaft bis heute nur in Ausnahmefällen.

Weiterentwicklung der Grundrechte

Lange war man in der Rechtslehre der Ansicht, dass die Verfassung keine rechtliche Grundlage für die Einführung des Ausländerstimmrechts enthalte. Vanessa Rüegger, Lehrbeauftragte an der Juristischen Fakultät der Universität Basel, beobachtet während der letzten Jahrzehnte aber eine Weiterentwicklung des Demokratieprinzips und der Grundrechte sowie eine Aushandlung eines neuen Volksbegriffs.

Das führt zu einem Grundrechtsverständnis, wonach politische Rechte grundsätzlich jeder Person gleich zustehen sollten.

Vanessa Rüegger, Universität Basel

Bis diese Entwicklung aber Eingang in geltendes Recht findet und Migranten vor Gericht ihr Stimmrecht einklagen könnten, dürfte es noch dauern.

Rechtsungleichheiten in der Praxis

Wie das Ausländerstimmrecht in der heutigen Praxis zu Rechtsungleichheiten führt, zeigt Corsin Bisaz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZDA/c2d. Während nämlich in fünf Kantonen der Romandie das kantonale Recht das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene vorschreibt, überlassen es die Deutschschweizer Kantone Basel-Stadt, Appenzell Ausserrhoden und Graubünden ihren Gemeinden, ob und in welcher Form sie das Ausländerstimmrecht einführen möchten.

Die meisten dieser Deutschschweizer Gemeinden nehmen u.a. eine Niederlassungsbewilligung als Kriterium für das Ausländerstimmrecht. Weil aber Niederlassungsbewilligungen je nach Herkunft der Migrantinnen und Migranten nach unterschiedlichen Kriterien erteilt werden, führe dies zu einer Diskrepanz zwischen dem Demokratie- und dem Gleichheitsprinzip.

"Eure Demokratie ist nicht so toll, wie ihr glaubt"

Der Tenor an den Panels ist eindeutig: Aus politik- und rechtswissenschaftlicher Sicht mag viel für die Einführung des Ausländerwahl- und -stimmrechts sprechen, trotzdem können sich Gegnerinnen und Gegner vorerst zurücklehnen.

Für die Einführung bräuchte es eine Verfassungsänderung und an der Urne hätte eine solche Vorlage keine Chance.

Lelia Hunziker, Anlaufstelle Integration Aargau

Auch in anderen Ländern scheiterten bisher alle Versuche, ein vollumfängliches Ausländerstimm- und -wahlrecht einzuführen. 

Wie eine Einführung des Ausländerstimmrechts dennoch gefördert werden könne, fragt eine Zuhörerin. "Man müsste die Schweizer bei ihrem Stolz auf ihre Demokratie packen: 'Solange ihr so exklusiv seid, ist eure Demokratie längst nicht so toll, wie ihr glaubt'“, meint Joachim Blatter.

Partizipative Demokratie in Vernier

Zum Schluss berichtet Juristin Ardita Driza Maurer zusammen mit Verniers Bürgermeister Thierry Apothéloz vom innovativen Weg, den die Stadt Vernier eingeschlagen hat, um Ausländerinnen und Ausländer in den politischen Entscheidungsprozess einzubeziehen.

Vernier weist einen Ausländeranteil von 46 Prozent auf, davon wiederum beteiligt sich trotz des kommunalen Ausländerwahlrechts nur gerade ein Viertel an Wahlen. Angesichts dieser Situation konzipierte die Stadt einen „Contrat de Quartier“ (Quartiersvertrag): Ein System, das es allen Bewohnerinnen und Bewohnern eines Quartiers unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft erlaubt, sich an der Konzeption und Umsetzung von Projekten in ihrer Nachbarschaft zu beteiligen.

Mit 250 realisierten Projekten entpuppte sich das System als Erfolg und bewirkte zudem einen erfreulichen Nebeneffekt: Im Jahr 2015 vermochte Vernier bei den Kommunalwahlen als einzige Stadt des Kantons einen deutlichen Anstieg der Wahlbeteiligung aufzuweisen. Vernier fand mit dem „Contrat de Quartier“ also ein System, dass trotz zahlreicher Herausforderungen die partizipative Demokratie und die politischen Rechte für Ausländerinnen und Ausländer gleichzeitig fördert.  


Titelbild: Zentrum für Demokratie Aarau

Lektorat: Sarah Bütikofer

Layout: Pascal Burkhard