Schweizer Gemeinden liegen im europäischen Vergleich hinsichtlich ihrer Autonomie an der Spitze, und dies obwohl sie mehrheitlich sehr klein sind. Für die Schweiz ist dies insofern erfreulich, weil Staaten mit autonomen Gemeinden auch in wirtschaftlicher und demokratischer Hinsicht besser abschneiden. Zu diesem Schluss kommt ein europäisches Forschungsprojekt, welches die Autonomie der Gemeinden in 39 Ländern untersuchte.
In keinem Land Europas geniessen die Gemeinden mehr Autonomie als in der Schweiz. Zusammen mit den nordischen Staaten Finnland, Schweden, Island, Dänemark und Norwegen, sowie Deutschland führt die Schweiz das Gemeindeautonomie-Ranking im Jahr 2014 an. Dahinter folgen Länder wie Polen, Liechtenstein, Frankreich, Italien, Serbien und Österreich. Das Schlusslicht bilden Georgien, Irland und Moldawien (siehe Karte).
Abbildung 1: Stärke der lokalen Autonomie 2014
Anmerkung: Je dunkler das Land, desto höher ist die Autonomie seiner Gemeinden.
Betrachtet man die letzten 25 Jahre, so wechselt der Spitzenrang zwischen der Schweiz, Finnland und Island, während Polen, Italien, Frankreich und Serbien erst in jüngerer Zeit so weit vorne anzutreffen sind. Einen substanziellen Zuwachs an lokaler Autonomie seit Beginn der 1990er Jahren verzeichnen vor allem die neuen Demokratien des ehemaligen Ostblocks, während etwa in Grossbritannien und in Irland die Gemeinden traditionell wenig autonom sind.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie vom Forschungsinstitut IDHEAP der Universität Lausanne, in welcher versucht wurde, die Autonomie der Gemeinden anhand von elf Kriterien zu messen.
Dezentralisierung und autonome Gemeinden werden gemeinhin als positive Werte und zentrale Bestandteile von Good Governance verstanden. Davon zeugen nicht nur die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auch die diesbezüglichen Stellungnahmen von OECD und Weltbank oder die Regionalpolitik der Europäischen Kommission. Autonome, starke und selbstverwaltete Gemeinden stehen für einen sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen, notwendige und realisierbare wirtschaftliche Investitionen. Gleichzeitig garantieren sie einen bessere Berücksichtigung der Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger und deren Teilnahme an den politischen Entscheidungen.
Allerdings, so die Kritiker einer allzu weitreichenden Autonomie, kann sie auch zu grossen Unterschieden zwischen den Gemeinden und Konflikten mit den übergeordneten Ebenen führen. Zudem besteht die Gefahr, dass die Gemeinden bei fehlenden finanziellen Mitteln auf sich allein gestellt bleiben. Entsprechend ist von grossem Interesse, welche Wirkungszusammenhänge sich zwischen der lokalen Autonomie und anderen anzustrebenden gesellschaftlichen Zielen in Realität nachweisen lassen.
Viele Freiheiten, aber beschränkte Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten
Dass die Schweiz zusammen mit den nordischen Staaten das Autonomie-Ranking anführt, erstaunt zumindest insofern, als hier zwei unterschiedliche Staatsmodelle aufeinander treffen. Während beispielsweise in Dänemark die Gemeinden gross und stark sind – das Land zählt nur 98 Gemeinden für 5.7 Mio. Einwohner – und als Garanten des Wohlfahrtsstaats-Modells gelten, sind die Schweizer Gemeinden grossmehrheitlich ausgesprochen klein: aktuell verteilen sich die 8.4 Mio. Einwohner auf 2294 Gemeinden. Was nicht vom Bund gemacht wird, teilen sich die Kantone und die Gemeinden.
Diese unterschiedlichen Staatsmodelle schlagen sich auch in den unterschiedlichen Autonomieprofilen der beiden Länder nieder (vgl. Abbildung 2). Die Schweizer Gemeinden geniessen eine grössere finanzielle Selbstständigkeit und Autonomie was ihre Steuern und ihren Finanzhaushalt anbelangt, haben grossenteils eine verfassungsmässig verankerte Bestandsgarantie und Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Entscheidungen auf höheren politischen Ebenen, während die dänischen Gemeinden einen grösseren Wirkungskreis haben und vor allem über mehr Entscheidungskompetenzen bei der Erbringung ihrer Aufgaben verfügen. Die Transfers, die sie in starkem Masse von Zentralstaat erhalten, sind auch nicht gebunden, wie dies bei den Transfers, die die Schweizer Gemeinden allerdings in deutlich beschränkterem Ausmass erhalten, der Fall ist.
Abbildung 2:
Gemeindeautonomie, wirtschaftlicher Erfolg und Demokratie
Der Grad der Gemeindeautonomie lässt sich nun mit verschiedenen Leistungsindikatoren in Verbindung bringen und tatsächlich lässt sich zeigen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Autonomie und dem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt pro Kopf besteht (vgl. Abbildung 3): Je autonomer die Gemeinden, desto reicher ist ein Land. Ganz ähnlich lässt sich auch zeigen, dass in Ländern mit autonomen Gemeinden die Korruption tiefer und die Qualität der Demokratie höher ist. Und schliesslich lässt sich auch ein positiver Zusammenhang mit der Gemeindeautonomie und der Zufriedenheit der Menschen in einem Land finden.
Abbildung 3:
Dass dem so ist, ist eigentlich nicht erstaunlich. Betrachtet man die Länder, die das Autonomie-Ranking anführen, so sind es diejenigen, die bei den meisten Rankings auf den Spitzenplätzen anzutreffen sind. Statistische Zusammenhänge müssen auch immer mit einer gewissen Vorsicht genossen werden.
Es kann nicht einfach darauf geschlossen werden, dass Autonomie direkt und unmittelbar zu wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Erfolg führt. Erfolg und Gemeindeautonomie sind vielmehr das gemeinsame Produkt einer jahrhundertelangen gesellschaftlichen Entwicklung, zu der auch andere Faktoren beigetragen haben. Vor dem allzu schnellen Schluss, dass es nur autonome Gemeinden braucht, um die Menschen glücklich zu machen, ist zu warnen. Autonome Gemeinden scheinen aber zumindest ein Anzeichen dafür zu sein, dass Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren.
Das Messen der Autonomie der Gemeinden ist eine komplexe Angelegenheit. Die einfachste Masszahl ist der Anteil der Ausgaben der lokalen Ebene an den Gesamtausgaben des Staates. Weitere statistische Grössen, die sich mehr oder weniger direkt erheben lassen, sind der Anteil der Steuern, der von der untersten Ebene erhoben wird oder der Umfang und die Art der Transferleistungen, die von den höheren Ebenen zu den Gemeinden fliessen. Diese Werte, die heute auf den einschlägigen Seiten für eine grössere Zahl von Ländern zugängig sind, decken aber nur einen Teil der Realität ab. Die rechtliche Stellung und der Schutz der Gemeinden vor zentralstaatlichen Eingriffen sowie ihr Einfluss auf die übergeordneten politischen Entscheidungen werden beispielsweise nicht berücksichtigt.
Die Generaldirektion Regionalpolitik und Stadtentwicklung der Europäischen Kommission hat deshalb das IDHEAP der Universität Lausanne beauftragt, das Ausmass und die Entwicklung der Gemeindeautonomie in den Ländern Europas in einem umfassenderen Sinne zu erheben. Motiviert war der Auftraggeber durch die Erkenntnis, dass ein beachtlicher Teil der für die Regionalentwicklung vorgesehenen Fördergelder nicht ausgeschöpft werden kann, da vielerorts die notwendigen lokalen Strukturen fehlen, um diese Gelder sinnvoll und zielgerichtet zu investieren.
In der nun vorliegenden Studie wurde versucht, die Autonomie der Gemeinden und allfällige Veränderungen im Zeitraum 1990 bis 2014 mit elf Kriterien zu messen. Auf der Basis eines gemeinsam entwickelten Code-Buchs galt es, die effektive Autonomie der Gemeinden in den verschiedenen Ländern zu bestimmen und zu dokumentieren. Die erhobenen Kriterien beinhalten Fragen wie die institutionelle Position der Gemeinden bei der Zuweisung der Aufgaben, der Umfang der kommunalen Aufgaben, die Entscheidungskompetenzen bei den zu erbringenden Aufgaben, der Grad der Steuerautonomie, die finanzielle Eigenständigkeit, der Anteil und die Form der Transfers von den höheren politischen Ebenen, die Möglichkeit Kredite aufzunehmen, die verfassungsmässige Verankerung, die Form der Kontrolle durch die höheren Ebenen und den Einfluss der Gemeinden auf die Entscheidungen auf den höheren politischen Ebenen. Bewältigt werden konnte diese Aufgabe mit Hilfe eines Netzwerks von rund 40 internationalen Experten, die mehrheitlich bereits in Rahmen der COST Aktion „Local Public Sector Reforms“ zur Förderung der europäischen Forschungszusammenarbeit kooperierten.
Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Ladner, Andreas, Nicolas Keuffer und Harald Baldersheim (2015): “Local Autonomy Index for European countries (1990-2014)” Release 1.0. Brussels: European Commission.
Foto: DeFacto