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Die entzauberte Schweizer Demokratie

Daniel Bochsler, Regula Hänggli, Silja Häusermann
20th November 2015

Der Aufstieg der SVP und die Polarisierung der Politik haben die Schweizer Demokratie grundlegend verändert. Bis in die 1980er-Jahre charakterisierten die drei  - vielfach als magisch verstandenen - Grundprinzipien Souveränität, Bürgernähe und Konkordanz die Schweizer Politik. Diese Grundprinzipien haben sich im Zuge der Polarisierung der Politik stark verändert. Im neuen Sonderheft der Schweizer Zeitschrift für Politikwissenschaft untersuchen wir diese Veränderungen hin zur neuen, entzauberten Schweizer Demokratie.

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Polarisierung

Die Veränderung der Parteienlandschaft hat die Politik in der Schweiz stark polarisiert. Abbildung 1 zeigt dies eindrücklich: Im Vergleich mit allen europäischen Ländern ist die Schweiz sowohl auf der ökonomischen links-rechts Achse als auch bezüglich gesellschaftspolitischer Themen stark polarisiert.

Abbildung 1: Polarisierung bezüglich wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Fragen

INFOBOX: Polarisierungsindex

Abbildung 1 zeigt den Polarisierungsgrad entsprechend der Formel von Dalton (2008) in allen europäischen Ländern anhand von Daten des Chapel Hill Expert survey 2014. Die horizontale Achse (lreco) bezieht sich auf die ökonomische links-rechts Achse, während die vertikale Achse (gal-tan) die Polarisierung bezüglich gesellschaftspolitischer Themen zeigt.

Der Polarisierungsindex wird gemäss der folgenden Formel berechnet:

wobei vp der Stimmenanteil der Partei p ist, LR die Position der Partei auf der entsprechenden Achse (lrecon oder gal-tan), und LRmean die Mittelposition aller Parteien auf derselben Achse, gewichtet nach Wähleranteil vp.

Polarisierung der Parteien

Abbildung 2 zeigt die Positionen aller Parteien Westeuropas mit einem Wähleranteil von über fünf Prozent auf den gleichen Achsen. Die Grösse des Symbolkreises jeder Partei ist proportional zu ihrer Wählerstärke (Abkürzungsverzeichnis der Parteien am Ende des Beitrages).

Die Schweizerische Volkspartei hat annähernd dreissig Prozent Wähleranteil. Die SVP ist eine der grössten und prononciertesten rechtsnationalistischen Parteien Europas, wie aus Abbildung 2 klar hervorgeht. Die Sozialdemokraten sind die zweitstärkste Partei der Schweiz. Die SPS ist ebenfalls deutlich radikaler positioniert als die meisten ihrer europäischen Schwesterparteien in der linksliberalen Ecke des politischen Spektrums.

Abbildung 2: Parteipositionen im zweidimensionalen Raum

Man kann in der grossen parteipolitischen Polarisierung auch einen Vorteil sehen: die Parteien widerspiegeln weitgehend die Einstellungen ihrer Wählerinnen und Wähler in den wichtigsten Politikbereichen (vgl. Bornschier). Heutzutage vertreten die Parteien ihre Wählerschaften besser, als dies in den 1970er Jahren der Fall war.

Die Polarisierung hat das Funktionieren des Politiksystems der Schweiz hinsichtlich der Konkordanz, der Bürgernähe und der nationalen Souveränität grundlegend verändert.

Konkordanzmodell

Das Konkordanzmodell ist Geschichte. Es stand nicht nur für den Einbezug der politischen Minderheiten in die Regierung, sondern insbesondere auch für geteilte Verantwortung, die allerdings in der Regel im Hinterzimmer der Macht ausgehandelt wurde.

Heute hat das Parlament eine Aufwertung erfahren, Regierungswahlen erfolgen kompetitiv (vgl. Udris/Lucht/Schneider). Dass die Linke ihre Regierungsvertretung behaupten und in den Kantonen sogar ausbauen konnte, hat sie der Uneinigkeit unter den Bürgerlichen zu verdanken (vgl. Bochsler/Bousbah). Wenn sich die bürgerlichen Parteien nicht mehr gegenseitig unterstützen, haben linke Kandidierende plötzlich Chancen, auch in Mehrheitswahlen zu bestehen.

Die breiten Politikkompromisse von früher, die Parteien und Wirtschaftsverbände im Hinterzimmer (sprich: Expertenkommissionen, Vernehmlassungen) aushandelten, haben einer aktiven Rolle des Parlamentes Platz gemacht: dieses prägt die Reformen selber, handelt nach dem Mehrheitsprinzip, mit stark wechselnden Allianzen. Je nach Politikbereich setzen sich dabei unterschiedliche Koalitionen durch (vgl. Traber).

Die unklaren Mehrheitsverhältnisse führen aber auch dazu, dass Lösungen viel öfter erst im Parlament ausgehandelt werden. Dadurch gewinnt das Parlament an Bedeutung, was sich auch in einer hohen Qualität der Debatten widerspiegelt (vgl. Beste/Wyss/Bächtiger). Allerdings fällt auf, dass die Polparteien in den Politikfeldern, die sie in ihrem Wahlkampagnen bewirtschaften, häufig unwillig sind, Allianzen zu bilden. Für die SVP ist das die Migrations- und Europapolitik, für die SP die Sozial- und Wirtschaftspolitik. (vgl. Traber und Afonso/Papadopoulos).

Bürgernähe

Das Milizsystem und die ausgebaute direkte Demokratie stehen für eine Nähe der Politik zu ihren Bürgerinnen und Bürgern. Beide haben sich verändert: in den Kantonsregierungen und in der Bundesversammlung dominieren heute Berufs- oder Halbberufspolitiker, die Parteien haben sich professionalisiert, und zentralisiert (vgl. Bailer/Bütikofer).

Die Polarisierung der Schweizer Politik hat zu einem vermehrten Gebrauch der direktdemokratischen Instrumente geführt. Eine verstärkte Nutzung der Volksinitiative – sogar durch Bundesratsparteien - reflektiert und befeuert gleichzeitig den neuen, dominanten Kulturkonflikt zwischen dem ökologisch-gesellschaftsliberalen und dem traditionell-nationalistischen Pol (vgl. Leemann). Gleichzeitig beteiligen sich die Regierungsparteien auch zunehmend an Referenden. Sie betreiben damit Opposition gegen eigene Bundesratsmitglieder, die auf Grund des Kollegialitätsprinzips neue Gesetze mittragen müssen.

Die starke Nutzung der direkten Demokratie ist ein Zeichen von Bürgernähe. Doch die vermehrte Nutzung führt auch ihre Grenzen vor Augen. Wenn Volksentscheide mit anderen Rechtsnormen, internationalen Zwängen, oder schlicht mit dem Willen der Parlamentsmehrheit kollidieren, besteht die Gefahr, dass sie nicht umgesetzt werden. Das Resultat sind Politikblockaden. Entsprechende Diskussionen gab es um die Alpeninitiative, die Zweitwohnungsinitiative, Abzockerinitiative, die Verwahrungsinitiative und den SVP-Initiativen in der Migrations-/Integrationspolitik in jüngerer Zeit.

Souveränität

Die Schweizer Demokratie setzte traditionell auf die Souveränität und zwar in doppeltem Sinne: die weitestgehende Autonomie und Kompetenzen der Schweizer Kantone im Bundesstaat und die unverhandelbare Souveränität der Schweiz gegenüber Europa und dem internationalen Umfeld.

Beides ist unter Druck gekommen. Die zunehmende wirtschaftliche Integration und die gesellschaftliche Mobilität haben zu einem politischen Integrationsdruck geführt; die Politik wird zunehmend koordiniert, und auf internationaler Ebene bestimmt (vgl. Jenni). Durch das institutionelle Abseitsstehen und wegen einer fehlenden Strategie hat die Schweiz im internationalen Umfeld an Handlungsfähigkeit verloren. In wichtigen Politikbereichen bestimmt die Schweiz ihren Weg längst nicht mehr selbst, sondern rennt der internationalen Entwicklung hinterher, etwa in der Bankenpolitik (vgl. Eggenberger/Emmenegger). Das müsste nicht sein, wie ein Vergleich mit der Politik anderer europäischer Kleinstaaten zeigt.

Die Kantone haben auf die Herausforderung zunehmender Verflechtung anders reagiert: wenn sie unter Druck stehen, dann koordinieren sie ihre Politik stärker (vgl. Wasserfallen). Dies hat auch die Kantone selbst verändert. Immer mehr Politikbereiche kantonaler Kompetenz werden nicht länger in den jeweiligen Kantonsparlamenten bestimmt, sondern in Regierungskonferenzen ausgehandelt.

Bilanz

Die Politik der Kompromisse ist in der Schweiz seltener geworden. Der ehemals dominante Bürgerblock ist auseinandergebrochen. Heute werden die politischen Entscheide von unterschiedlichen Allianzen zwischen den politischen Lagern getroffen, ein dominantes Lager gibt es nicht mehr. Damit hat sich die Schweizer Politik auch demokratisiert: Zum einen beruht sie auf einem flexibleren, aber breiteren Einbezug unterschiedlicher Stimmen, je nach Politikbereich. Zum anderen stützt sie sich auf breiterer Partizipation ab, weil wichtige Entscheide weniger oft hinter geschlossenen Türen, sondern häufiger im Parlament oder in Volksabstimmungen entschieden werden.

Die entzauberte Schweizer Demokratie ist unberechenbarer geworden. Sie hat an Handlungsfähigkeit verloren und schwankt zunehmend zwischen innovativen Würfen und Blockade. Von der Sozial- und Rentenpolitik bis zur Europapolitik stehen anspruchsvolle Reformen an. Sie im Parlament zu debattieren, einen Kompromiss zu finden und diesen zu verabschieden, wird unter den neuen Bedingungen in der Schweizer Politik schwierig.


Hinweis: Eine kürzere Fassung des vorliegenden Beitrags ist im Tages-Anzeiger vom 13. November 2015 publiziert worden. Der Beitrag basiert auf einem Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (Heft 21(4), 2015) mit folgendem Inhalt:

Abkürzungsverzeichnis zur Abbildung 2:


Referenz:

  • Dalton, Russel J. 2008. "The Quantity and the Quality of Party Systems. Party System Polarization, Its Measurement, and Its Consequence." Comparative Political Studies 41 (7): 899-920.

Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern, parlament.ch