Zum Verhältnis von Justiz und Politik in der Schweiz

Wie gross ist hier­zu­lan­de der Ein­fluss der Poli­tik auf die Jus­tiz und umge­kehrt? Regi­na Kie­ner, Pro­fes­so­rin für Staats- und Ver­wal­tungs­recht an der Uni­ver­si­tät Zürich, und Rudolf Ursprung, alt Bun­des­rich­ter, erör­ter­ten am Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au die heik­len Stel­len in Bezug auf die Unab­hän­gig­keit der Rich­ter­schaft.

Die Unab­hän­gig­keit der Jus­tiz ist ein Grund­pfei­ler der Demo­kra­tie. Doch die­ser  wird  man­cher­orts Schritt für Schritt aus­ge­he­belt. Bei­spiels­wei­se in Polen: Dort erreich­te der Angriff der natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Regie­rung auf die Jus­tiz die­sen Som­mer einen neu­en Tief­punkt. Nach­dem 2016 bereits das Ver­fas­sungs­ge­richt ent­mach­tet wur­de, erliess die Regie­rung am 12. Juli 2017 ein Gesetz, das auch die all­ge­mei­ne Gerichts­bar­keit unter ihre Kon­trol­le bringt. Damit unter­gräbt sie die Gewaltenteilung.

 Wie steht es um die Unabhängigkeit der Gerichte in der Schweiz?

Wie es um die Unab­hän­gig­keit der Gerich­te in der Schweiz bestellt sei, wur­de ver­gan­ge­ne Woche bei einem Anlass der Freun­de des Zen­trums für Demo­kra­tie Aar­au dis­ku­tiert. In der Schweiz gehö­ren die meis­ten Rich­te­rin­nen und Rich­ter einer Par­tei an. Die Fra­ge, ob damit kein Druck ent­steht, Urtei­le zu fäl­len, die mit der Far­be des Par­tei­buchs har­mo­nie­ren, steht folg­lich im Raum. Doch Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit per se beein­träch­ti­ge die Unab­hän­gig­keit der Jus­tiz nicht, führt Regi­na Kie­ner, Pro­fes­so­rin für Staats- und Ver­wal­tungs­recht, aus. Zudem sor­ge der Par­tei­en­pro­porz dafür, dass alle wesent­li­chen gesell­schaft­li­chen Grup­pen an den Gerich­ten ver­tre­ten seien.

Pro­ble­ma­tisch fin­det Kie­ner hin­ge­gen, dass eine Par­tei­mit­glied­schaft die Bedin­gung ist, um über­haupt gewählt zu wer­den. Par­tei­lo­se sei­en prak­tisch chan­cen­los, auf einen Rich­ter­pos­ten gewählt zu wer­den. Eben­falls kri­tisch beur­teilt sie die Par­teib­in­dung im Fal­le von Ein­zel­ge­richts­ent­schei­den, wie sie am Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt vor­kom­men (z.B. in der Abtei­lung IV, die für die Geschäf­te aus dem Gebiet des Asyl­rechts zustän­dig ist). Eine Kri­tik, die alt Bun­des­rich­ter Rudolf Ursprung teilt: „Dass zwei ent­schei­den, ist falsch.“

Trend hin zur Politisierung von Rechtsfragen

Regi­na Kie­ner macht aus­ser­dem einen Trend hin zur Poli­ti­sie­rung von Rechts­fra­gen aus. Zum Bei­spiel bei reli­giö­sen Fra­ge­stel­lun­gen oder betref­fend des Ver­hält­nis­ses von Lan­des- und Völ­ker­recht. Gera­de letz­te­re Debat­te zei­ge aller­dings nicht nur den Ein­fluss der Poli­tik auf die Jus­tiz, son­dern auch den Ein­fluss der Jus­tiz auf die Politik.

Kie­ner nennt als Bei­spiel einen Bun­des­ge­richts­ent­scheid vom 12. Okto­ber 2012. An die­sem Tag befand das Bun­des­ge­richt nach einer öffent­li­chen Bera­tung über einen Aus­schaf­fungs­fall [1], dass die direk­te Anwend­bar­keit der Aus­schaf­fungs­in­itia­ti­ve auf­grund eines Kon­flikts mit der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) nicht mög­lich sei und auch durch das Par­la­ment nicht ent­spre­chend umge­setzt wer­den dürfe.

Ins Posi­ti­ve gewen­det, kön­ne man die­ses „Urteil als Aus­druck eines moder­nen dia­lo­gi­schen Grund­ver­ständ­nis­ses des Zusam­men­spiels von Gesetz­ge­ber und Jus­tiz sehen (…)“, schreibt der Staats­recht­ler Gio­van­ni Biag­gi­ni in sei­nem Kom­men­tar zum Fall.[2] Ins Nega­ti­ve gewen­det kön­ne man es aber auch als eine „Ein­mi­schung in einen lau­fen­den Gesetz­ge­bungs­pro­zess deu­ten, inhalt­lich wohl auf die ‘Bot­schaft’ hin­aus­lau­fend: Was immer der Gesetz­ge­ber bei der Umset­zung des ‘Aus­wei­sungs­ar­ti­kels’ beschlies­sen wird, das Bun­des­ge­richt wird am Ende eine Inter­es­sens­ab­wä­gung bzw. eine Ver­hält­nis­mäs­sig­keits­prü­fung vor­neh­men (wie sie Art. 8 Ziff. 2 EMRK erfor­dert).“[3]

Dem Bun­des­ge­richts­ur­teil folg­te ein poli­ti­sches Nach­spiel:  Zum einen wur­den Mit­glie­der des Bun­des­ge­richts mit einem schlech­te­ren Resul­tat wie­der­ge­wählt, zum ande­ren lan­cier­te die SVP die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­ti­ve. Die­se for­dert „Schwei­zer Recht statt frem­de Rich­ter“, ist aber auch ein Denk­zet­tel an die eige­nen Rich­ter, sich nicht ins Polit­ge­schäft einzumischen.

 Demokratisches Prinzip versus Wahl auf Lebzeit

Rich­ter sei­en in aller Regel zurück­hal­tend, sagt Rudolf Ursprung, der über fünf­zehn Jah­re Bun­des­rich­ter war und per Ende 2016 zurück­ge­tre­ten ist. Nach sei­ner Erfah­rung ten­die­ren sie zur Mit­te und zum Aus­gleich hin. „Par­tei­pro­gram­men ste­hen sie skep­tisch gegen­über.“ Die Fra­ge nach der Unab­hän­gig­keit kön­ne für Rich­ter erst dann zum Pro­blem wer­den, wenn die eige­ne Mei­nung vom Par­tei­pro­gramm abwei­che. Den­noch zwei­felt er am Vor­teil einer Par­tei­lo­sig­keit im Fal­le von Rich­te­rin­nen und Rich­tern. Dann wis­se man gar nicht, wo Kan­di­die­ren­de poli­tisch genau stün­den, was nicht zur Trans­pa­renz beitrage.

Ent­schei­dend ist für Ursprung, dass ein Gericht sei­ne Abtei­lun­gen so zusam­men­stellt, dass kei­ne poli­ti­schen Mehr­hei­ten ent­ste­hen. Garant für die Unab­hän­gig­keit sei die gute Zusam­men­set­zung des Spruch­kör­pers. Die Kon­trol­le, ob jemand befan­gen sei, leis­te das Gre­mi­um sel­ber. In der Schweiz funk­tio­nie­re das gut; Jus­tiz­skan­da­le sei­en selten.

Schliess­lich wur­de die Fra­ge erör­tert, ob eine Wahl auf Lebens­zeit die Qua­li­tät der Gerich­te ver­bes­se­re, weil damit ein Fak­tor für mög­li­che Beein­flus­sung ver­schwin­de. Regi­na Kie­ner beob­ach­tet eine Ver­un­si­che­rung unter der Rich­ter­schaft vor der Wie­der­wahl, die sich zum Bei­spiel dar­in äus­se­re, dass poli­tisch heik­le Urtei­le nach hin­ten ver­scho­ben wür­den. Aller­dings sei­en Wah­len ein demo­kra­ti­sches Prin­zip. Wür­de die Wie­der­wahl abge­schafft, gehe dies zulas­ten die­ses Prinzips.

Rudolf Ursprung schätzt die Angst vor der Wie­der­wahl in der Schweiz als gering ein, zumin­dest beim Bun­des­ge­richt. Die Vor­schlä­ge zur Wie­der­wahl erfolg­ten durch die Gerichts­kom­mis­si­on des Par­la­ments. Mit die­sem Mecha­nis­mus habe man damals den Drang der Par­tei­en abge­bremst, ihr Pro­gramm durch­zu­zwän­gen. Poli­ti­schen Dro­hun­gen gegen Rich­te­rin­nen und Rich­ter gebe es nicht, dem wür­de sofort Ein­halt gebo­ten, sagt er. „Des­halb wird es unterlassen.“


[1] BGE 139 I 16.

[2] Biag­gi­ni, G. (2013). Über die Aus­le­gung der Bun­des­ver­fas­sung und ihr Ver­hält­nis zur EMRK, Schwei­ze­ri­sches Zen­tral­blatt für Staats- und Ver­wal­tungs­recht, S. 316–337, S. 337. Dank an Cor­sin Bisaz für den Literaturhinweis.

[3] Ebd.

Bild: Schwei­ze­ri­sches Bun­des­ge­richt, Lausanne

image_pdfimage_print