Fachleute befürchteten, dass Covid-19 wegen der Lockdowns und des damit verbundenen Stresses zu einer Zunahme häuslicher Gewalt führen könnte. Diese «Pandemie in der Pandemie» zeigte sich in den amtlichen Statistiken zwar nicht deutlich, doch die Gesundheitskrise hat die Anfälligkeit der sozialen Schutzsysteme in Bezug auf häusliche Gewalt und das Kindeswohl in der Schweiz verdeutlicht.
«[Die Eltern haben] das Kind ohne Anwendung von Gewalt zu erziehen.» Am 9. September 2025 folgte der Ständerat dem Nationalrat und stimmte zu, das Prinzip der gewaltfreien Erziehung ohne «körperliche Bestrafungen und andere Formen erniedrigender Behandlung» ins Schweizerische Zivilgesetzbuch aufzunehmen. Der Weg dorthin war lang: Eine erste parlamentarische Motion für eine gewaltfreie Erziehung hatte die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats bereits im Jahr 1996 eingereicht, also vor fast dreissig Jahren.
Die Covid-19-Pandemie hat vermutlich zu diesem positiven Ergebnis beigetragen, vermerkt Tim Tausendfreund von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Der Wissenschaftler leitet das Projekt «Kindesschutz während und nach Covid-19» im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Covid-19 in der Gesellschaft» (NFP 80). Er unterstreicht, dass die Pandemie dazu beigetragen hat, Fragen des Kindeswohls zu thematisieren. Das Abstimmungsergebnis mache aber vor allem einen gesellschaftlichen Wandel deutlich, der sich bereits seit Jahrzehnten abzeichne: Gewalt in der Erziehung wird weltweit immer weniger akzeptiert.
Covid-19 hat die Akteure des Kindesschutzes stark mobilisiert. Diese haben schon früh vor den Risiken einer Zunahme von Misshandlungen gewarnt, betont der Forscher. Es sei zu erwarten gewesen, dass eine solche Krise viele bekannte Risikofaktoren verstärkt, darunter Stress am Arbeitsplatz, finanzielle Sorgen oder auch die Tatsache, dass man über einen längeren Zeitraum auf engem Raum zusammenleben muss, präzisiert Paula Krüger von der Hochschule Luzern. Sie leitet das Projekt «Häusliche Gewalt» im Rahmen des NFP 80. Zahlreiche Fachleute befürchteten eine «Pandemie in der Pandemie», also einen starken Anstieg der häuslichen Gewalt zusätzlich zu den direkt mit dem Virus verbundenen Gesundheitsproblemen. Ist es tatsächlich zu einer solchen «Pandemie in der Pandemie» gekommen?
Die Daten entwirren
Das Bild sei komplex, antwortet die Forscherin. Eine erste Schwierigkeit bestehe darin, die Entwicklung des untersuchten Phänomens – in diesem Fall «Misshandlungen» – von den Gründen, die seine Messbarkeit beeinflussen, zu trennen. Die Medien aber auch Kampagnen für eine gewaltfreie Erziehung haben das Bewusstsein für das Phänomen geschärft und die Menschen ermutigt, Hilfe zu suchen oder Alarm zu schlagen. Ein Anstieg der Zahlen in den Statistiken der Polizei oder der Sozialdienste kann daher sowohl mit einer besseren Aufdeckungsrate der Fälle als auch mit einer Zunahme ihrer Häufigkeit zusammenhängen. Dies zeigt ein Bericht vom November 2020.
Die Forschungsgruppe um Paula Krüger wertet Daten von Hilfsangeboten für gewaltbetroffene Personen und Spitälern aus sowie die Daten der polizeilichen Kriminalitätsstatistiken. Seit 2020 befragt sie regelmässig rund 1’500 bis 1’750 Personen zu häuslicher Gewalt und bekannten Risikofaktoren wie Stress oder Elternburnout. Sie führt ausserdem Gespräche mit Menschen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind oder selbst Gewalt ausgeübt haben.
Unterschiedliche Auswirkungen in unterschiedlichen Phasen
«Zwar weisen einige offizielle Statistiken keine nennenswerten Auswirkungen der Pandemie auf die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt aus, es ist aber möglich, dass ihnen die Datengrundlage fehlt, da sie lediglich die Prävalenz der letzten zwölf Monate analysieren», erklärt die Forscherin. «In unserem Forschungsprojekt haben wir die Familien auch zu den letzten vier Wochen befragt.» Diese detaillierte Analyse ermöglicht es, die verschiedenen Phasen der Pandemie zu unterscheiden. Der Lockdown im Frühling 2020 war zwar ein Schock für die Menschen, aber viele gingen davon aus, dass dieser schnell vorüber sein würde, was den Stress reduzierte. Die zweite Phase der Einschränkungen von Herbst 2020 bis Frühling 2021 führte zu mehr Unsicherheit und damit zu mehr Stress, einem wichtigen Risikofaktor für häusliche Gewalt oder Vernachlässigung in der Erziehung, so Paula Krüger.
Man hat oft gehört, dass wohlhabende Kreise besser mit den Schwierigkeiten der Pandemie – wie Telearbeit oder Homeschooling – umgehen konnten und dass Covid-19 vor allem die Probleme wirtschaftlich benachteiligter oder sozial isolierter Menschen verschärft hat. Doch Gewalt ist komplex und betrifft alle Bevölkerungsschichten, erläutert Paula Krüger: «In einem Gespräch hat uns eine finanziell unabhängige Frau anvertraut, dass sie lange gebraucht habe, um zu erkennen, dass sie häusliche Gewalt erlebte. Sie konnte sich nicht vorstellen, betroffen zu sein, da sie häusliche Gewalt mit Armut assoziierte.»
Es gibt nicht nur körperliche Misshandlung, sondern auch psychische, verdeutlicht die Forscherin: «Viele Eltern glauben immer noch, es sei in Ordnung, tagelang mit ihrem Kind nicht zu sprechen.» Sie erinnert daran, dass Kinder nicht nur unter Gewalt leiden, sondern auch unter Vernachlässigung, insbesondere wenn ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Sicherheit, Zuneigung oder Kontakt zu anderen Kindern nicht abgedeckt werden. Weil viele Eltern gestresst und Kinder isoliert waren, habe sich Covid-19 auch in diesem Bereich negativ ausgewirkt, ergänzt Tim Tausendfreund von der ZHAW.
Nicht ohne Radar fliegen
Wie jede grössere Krise war auch Covid-19 ein Härtetest, der sowohl die Verwundbarkeit bestimmter Menschen als auch die des Systems, das zu ihrem Schutz eingerichtet worden ist, offenbart hat. «Ein solches Ereignis wirkt oft wie eine Lupe, die unsere Aufmerksamkeit auf Phänomene lenkt, die wir eigentlich bereits kannten», fährt Tim Tausendfreund fort. «Manchmal deckt es aber auch bisher wenig Sichtbares auf. Im Fall der Pandemie nicht nur die erhöhte Vulnerabilität bestimmter Personen, sondern auch die Komplexität und die Schwachstellen des Kinderschutzsystems in der Schweiz.»
Dieses ist komplex und bezieht verschiedene Sektoren mit ein. Als Erste können Familienmitglieder, Nachbarschaft, Schulen, Kinderärztinnen und Kinderärzte, Spitäler oder auch Sportvereine Alarm schlagen, wenn ein Verdacht auf Misshandlung besteht. Wenn nötig können die Polizei, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde oder die Sozialdienste im Anschluss eingreifen.
Ist dieses durch eine Vielzahl von Akteuren geprägte System krisensicher? Das ist die zentrale Frage, mit der sich Tim Tausendfreund und sein Team im Rahmen des NFP 80-Projekts «Kindesschutz während und nach Covid-19»beschäftigen. Die Pandemie habe gezeigt, wie stark das System von den Akteuren am Anfang der Kette abhängig sei, die die Fälle von Missbrauch erkennen müssen, erklärt der Forscher. In erster Linie sind dies die Schulen, die jedoch geschlossen waren, die Betreuerinnen und Betreuer von ausserschulischen Aktivitäten, die verboten waren, und auch die Spitäler, die nicht so viele Kinder untersuchen konnten wie sonst, da sie sich auf die dringendsten Operationen konzentrieren mussten. «Das Schutzsystem hatte die Folgen des Lockdowns und der Schliessung der Schulen nicht vollständig antizipiert. Für eine Weile hatte es einen wichtigen Sensor verloren. Wir müssen die Krisensicherheit des Systems erhöhen, denn wir können es uns nicht leisten, bei einer nächsten Krise wieder ohne diesen Radar zu fliegen.», so der Forscher. Regula Bernhard Hug, Direktorin der gesamtschweizerisch tätigen Stiftung Kinderschutz Schweiz, bestätigt: «Ein vierjähriges Kind ruft nicht von selbst die Polizei an. Es ist auf einen Erwachsenen angewiesen.»
Den Kindern zuhören
Tim Tausendfreund betont, wie wichtig es ist, Menschen, die mit Kindern in Kontakt stehen, zu schulen, insbesondere um Hemmschwellen abzubauen, die sie davon abhalten könnten, bei Verdacht auf Missbrauch Alarm zu schlagen. «Man verbindet Misshandlung leicht mit dem Eingreifen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und der Angst, dass den Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entzogen werden könnte. Doch solche Massnahmen sind eine Ausnahme.» Das System muss in der Tat verhältnismässig, subsidiär und ergänzend reagieren. Es geht darum, die am wenigsten einschneidende Massnahme zu ergreifen. Diese soll in der konkreten Situation angemessen sein und die Eltern unterstützen, nicht ersetzen.
Das Verteilen von Informationsblättern in einem Sportverein kann helfen, reicht aber nicht aus: «Ein Kind vertraut sich nur an, wenn es vertraut. Das Wichtigste ist, ihm zuzuhören, wenn es mit Ihnen spricht, auch wenn die Geschichte, die es erzählt, zusammenhangslos erscheint, denn durch Zuhören baut sich ein Vertrauensverhältnis auf.»
Es sei auch wichtig, die Stimme der Kinder besser in wissenschaftliche Studien einzubeziehen, fügt der Forscher hinzu. In Studien, die sich mit der Frage befassen, wie die Kinderschutzdienste die Pandemie erlebt haben, fehlen die Stimmen der Kinder noch häufig, wie eine von seinem Team durchgeführte Literaturrecherche zeigt. Eine weitere Analyse des Teams steht vor der Veröffentlichung und zeichnet ein komplexes Bild davon, wie die Schutzdienste in rund zwanzig Ländern in der Pandemie reagiert haben. Sie zeigt einerseits, dass Hilfesuchende Telefon- oder Online-Hilfsdienste in dieser Zeit häufiger kontaktierten. Andererseits zeigt sie einen Rückgang der Anzahl der Fälle, die den Behörden gemeldet wurden, sowie der Massnahmen, die die Sozialdienste ergriffen haben. Die Zahlen aus dem Gesundheitswesen waren stark vom Kontext abhängig. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass alle am System Beteiligten während der Krise unterschiedlich reagiert haben.
«Bereits der erste Lockdown hatte unterschiedliche Auswirkungen auf die Anzahl der Meldungen», erklärt der Forscher. «Einerseits wurde durch die Schliessung der Schulen ein wichtiger Warnindikator deaktiviert. Andererseits hatten Nachbarinnen und Nachbarn, die normalerweise tagsüber nie zu Hause waren, möglicherweise Verdachtsmomente und gaben diese weiter.»
Lückenhafte Daten
Die Komplexität des Kinderschutzsystems in der Schweiz hat noch eine weitere Konsequenz: «Die Daten, mit welchen sich die Entwicklung der Situation verfolgen lässt, sind nach wie vor lückenhaft und werden von verschiedenen Akteuren erhoben», stellt Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz fest. «Es fehlt noch immer ein Gesamtüberblick.» Für sie hat die im September 2025 beschlossene Verankerung der gewaltfreien Erziehung im Zivilgesetzbuch insbesondere symbolische Bedeutung: «Es ist ein starkes Signal an die Eltern, aber auch ein solides Argument für Fachpersonen in diesem Bereich wie Kinderärztinnen und Kinderärzte, Psychologinnen und Psychologen, Lehrerinnen und Lehrer oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Sie alle können nun klar sagen: ‹Das ist nicht normal›.» Das neue Gesetz hat ausserdem eine konkrete Auswirkung: Die Kantone müssen Massnahmen zur Gewährleistung einer gewaltfreien Erziehung ergreifen, insbesondere indem sie Unterstützungsdienste für Eltern und Kinder anbieten.
Referenzen:
NFP 80, Forschungsprojekt «Kindesschutz während und nach Covid-19»
NFP 80, Forschungsprojekt «Häusliche Gewalt»






