20 Jahre Doppelproporz — eine Rückschau

Die Einführung des doppelt-proportionalen Sitzzuteilungsverfahrens (“doppelter Pukelsheim”) in zahlreichen Schweizer Kantonen hat nicht nur den politischen Diskurs über Wahlsysteme bereichert, sondern auch neue Massstäbe für die Proportionalität von Wahlen gesetzt. Doch hinter der mathematischen Präzision verbirgt sich ein Spannungsfeld aus politischen Interessen, juristischen Vorgaben und unerwarteten Nebeneffekten. Meine kürzlich eingereichte Dissertation beleuchtet diese komplexen Wechselwirkungen und zeigt, dass das Verfahren zwar erhebliche Fortschritte gebracht hat, aber auch neue Fragen aufwirft.

Ein Quantensprung in der Wahlsystempraxis

Das doppelt-proportionale Verfahren ist in seiner Funktionsweise einzigartig: Indem die Sitzverteilung zunächst auf kantonaler Ebene proportional auf die Parteien erfolgt und erst im zweiten Schritt auf die Wahlkreise “rückverteilt” wird, ermöglicht es eine nahezu ideale Abbildung der Wählerstimmen im Parlament. Die Reform verschaffte insbesondere kleinen Parteien, die in traditionellen Systemen durch hohe implizite Quoren und parteiische Sitzzuteilungsformeln benachteiligt waren, eine signifikante Besserstellung. In Schwyz beispielsweise hätten die Grünliberalen bei den Wahlen 2016 nach dem alten Hagenbach-Bischoff-Verfahren keinen einzigen Sitz erhalten — mit der neuen Methode gewann sie jedoch drei Sitze im Parlament. Gleichzeitig konnten grosse Parteien wie die SVP oder die CVP ihren bisherigen, systembedingten Vorteil nicht mehr im gleichen Masse ausnutzen.

Das Verfahren hat aber auch Grenzen: Ein bekannter Nebeneffekt ist das Auftreten sogenannter “gegenläufiger Sitzverteilungen“. Damit wird eine Sitzzuteilung gemeint, bei welcher eine Partei in einem Wahlkreis weniger Sitze erhält als eine andere Partei im selben Wahlkreis, obwohl sie dort mehr Stimmen erzielt hat. Im Grunde handelt es sich um einen unauflösbaren Zielkonflikt: Die Optimierung der Proportionalität auf kantonaler Ebene erfordert in bestimmten Konstellationen zwangsläufig Abstriche bei der Proportionalität innerhalb der Wahlkreise. Solche Anomalien sind ein Preis für die angestrebte Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen, werfen aber auch Fragen nach der Akzeptanz solcher Ergebnisse auf.

Politisches Seilziehen um die Reformen und deren Ausgestaltungen

Eine unerwartete Erkenntnis der Dissertation betrifft das Verhalten der politischen Akteure während der Reformprozesse. Grosse Parteien, die von den bestehenden Systemen profitierten, wirkten in der Mehrzahl der Fälle auf eine Verhinderung oder Verwässerung der Reform hin. In Zürich und Aargau versuchte die SVP beispielsweise, die Einführung von Quoren in die Reform zu integrieren, um die Parteienvielfalt künstlich einzudämmen und einen befürchteten “Wildwuchs” an Kleinstparteien zu verhindern. Überraschend war jedoch, dass in Kantonen mit starkem politischem Widerstand — etwa in Schwyz oder Nidwalden — die Reformen letztlich weniger verzerrt umgesetzt wurden. Der Grund: Wo Konsens fehlte, griffen externe Akteure wie das Bundesgericht oder die Vereinigte Bundesversammlung ein und sorgten dafür, dass die Reformen in ihrer ursprünglich beabsichtigten Form durchgesetzt wurden.

Besonders bemerkenswert ist die Rolle des obersten Gerichts. Das Bundesgericht machte in einer Reihe von Urteilen ab 2002 deutlich, dass kantonale Wahlsysteme mit der Verfassung und dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit in Einklang stehen müssen. Diese Rechtsprechung zwang die Kantone faktisch zu Reformen, auch wenn der politische Wille dafür oft fehlte. In Uri und Zug führten diese Vorgaben sogar zu Standesinitiativen, mit dem Ziel, die Bundesgerichtskompetenzen in Wahlrechtsfragen zu beschneiden — letztlich erfolglos.

Von einem “Demokratieschub” keine Spur

Die Reformen hatten nicht nur technische Ziele, sondern auch politische Ambitionen: Es wurde erwartet, dass die verbesserte Proportionalität die Wahlbeteiligung erhöht und neue politische Akteure mobilisiert. Doch die Analyse zeigt, dass diese Effekte weitgehend ausblieben. Kurzfristig führte der Doppelproporz sogar zu einer Demobilisierung, die sich nach ein bis zwei Wahlzyklen jedoch wieder auf das Niveau vor der Reform einpendelte.

Auch die Fragmentierung des Parteiensystems blieb weitgehend aus — ein überraschender Befund. Obwohl die Reform die Abbildungsgenauigkeit des Wahlsystems erhöhte und damit die Erfolgsaussichten für kleinere Parteien verbesserte, lassen sich keine Hinweise darauf finden, dass die Wählerinnen und Wähler in erwarteter Weise auf diesen wahlpsychologischen Stimulus reagierten und verstärkt kleinere Parteien oder Wahlgruppierungen unterstützten. Die Reform zeigte demnach keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Wahlverhalten.

Die Auswirkungen des Doppelproporzes auf den politischen Wettbewerb zeigen ein ambivalentes Bild. Während die Reform ursprünglich darauf abzielte, die Chancengleichheit für kleinere Parteien zu erhöhen und dadurch den Wettbewerb zu intensivieren, blieb der erwartete Effekt auf die Anzahl der Wahllisten und kandidierenden Personen aus. Tatsächlich ist in vielen Reformkantonen sogar eine Konsolidierung des politischen Angebots zu beobachten. Die Parteien haben sich strategisch an die neuen Gegebenheiten angepasst, indem sie verstärkt auf eine einzelne, kantonsweite Hauptliste setzen, anstatt wie zuvor zahlreiche Nebenlisten einzureichen. Diese Reduktion der Listenvielfalt spiegelt auch eine optimierte Ressourcenallokation wider: Mit einer einheitlichen Liste und einer Präsenz in sämtlichen Wahlkreisen können die Parteien ihre Erfolgsaussichten bei der Oberzuteilung maximieren. Auch wenn in einem bestimmten Wahlkreis nicht ausreichend Stimmen für einen Mandatsgewinn erzielt werden, zählen diese “Reststimmen” gleichwohl zum kantonalen Stimmensaldo der Partei, auf dessen Basis die Sitzzuteilung erfolgt.

Obwohl die Anzahl der eingereichten Kandidaturen im interkantonalen Durchschnitt kontinuierlich auf über 1000 gestiegen ist, führte die Reform entgegen den Erwartungen nicht zu einem Anstieg der Gesamtzahl der Kandidierenden; in einigen Kantonen war sogar ein moderater Rückgang zu verzeichnen. Ein möglicher Erklärungsansatz liegt im Wegfall der Möglichkeit zu (Unter-)Listenverbindungen, wodurch auch der Bedarf an sogenannten “Listenfüllern” — also rein wahltaktisch motivierten, nicht-genuinen Kandidaturen — entfiel.

Bilanz und Ausblick

Die Einführung des Doppelproporzes markierte einen Meilenstein im Schweizer Wahlrechtsdiskurs und in der Wahlsystempraxis. Sie hat gezeigt, wie Mathematik zur Verwirklichung wahlrechtlicher Prinzipien beitragen kann. Doch die Reformen offenbaren auch die Grenzen technischer Lösungen: Ohne politische und gesellschaftliche Begleitmassnahmen bleiben tiefgreifende Veränderungen in Wahlbeteiligung und politischer Mobilisierung aus. Zudem zeigt sich, dass Wahlrechtsfragen immer auch Machtfragen sind — und damit ein Feld, auf dem Reformen hart erkämpft werden müssen. Die Dissertation bietet Einblicke in diese Dynamiken und liefert Impulse für die zukünftige Gestaltung demokratischer Institutionen.


Anmerkung: Dieser Artikel wurde von Raed Hartmann, DeFacto, bearbeitet.
Bild: Pexels.com

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KategorienSchweizer PolitikThemen
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