Wahrnehmung von Informationen und Bewertung ihres Wahrheitsgehalts

Die Digitalisierung der politischen Information und der Medien im Allgemeinen stellt eine Herausforderung für die politische Meinungsbildung in etablierten Demokratien dar. Die dezentrale Verteilung von Informationen wirft die Frage auf, ob die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, den Wahrheitsgehalt der Informationen, denen sie ausgesetzt sind, korrekt zu beurteilen. Die grosse Verbreitung der digitalen Kommunikationsmittel und die damit verbundenen Kosteneinsparungen machen es wahrscheinlicher, dass die Menschen falschen Informationen ausgesetzt sind – ein Phänomen, das auch unter dem NamenDesinformation diskutiert wird. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu beurteilen und ihre Aussagen angesichts neuer Kenntnisse zu korrigieren.

Im Rahmen eines nationalen Forschungsprojekts zur digitalen Transformation (NFP77) haben wir uns mit dem Phänomen der Desinformation befasst. In einer Umfrage nach der eidgenössischen Wahl führten wir ein Experiment durch, um zu untersuchen, inwieweit verschiedene Quellen eine falsche Wahrnehmung des Wahrheitsgehalts einer Information korrigieren können. In einem ersten Schritt baten wir die Befragten, den Wahrheitsgehalt von zehn Behauptungen zu verschiedenen Themen zu bewerten. In Tabelle 1 sind diese zehn Aussagen aufgeführt.

Tabelle 1. Liste der Aussagen, die den Befragten in der Umfrage vorgelegt wurden

Nummer der AussageAussage
1Der September 2023 war in der Schweiz der wärmste September seit Beginn der Aufzeichnungen
2Das Schweizer Gesundheitssystem is gemessen an den Ausgaben pro Kopf eines der teuersten der Welt.
3Es gibt in der Schweiz inzwischen 32 bestätigte Tote als Folge einer Covid-19 Impfung.
4
Die Steuerbelastung für eine Familie mit zwei Kindern und einem  jährlichen Einkommen von 200’00 CHF beträgt in Zürich ca. 37%.
5
Die Anzahl der schweren Gewaltdelikte war 2022 so hoch wie  noch nie seit Einführung der Statistik im Jahr 2009.
6
In der Schweiz verfügt derzeit ungefähr ein Drittel der Wohnbevölkerung über keinen Schweizer Pass.
7
Die Kondensstreifen der Flugzeuge sind für das Klima schädlicher  als das beim Fliegen ausgestossene CO2.
8
Der Rindviehbestand in der Schweiz betrug 2022 über 3  Millionen Tiere.
9
Die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich haben in der Schweiz in den letzten 10 Jahren stark zugenommen.
10
Über 40 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in der Schweiz  haben inzwischen eine bezahlte Arbeit gefunden.

Hinweis: Die grün markierten Aussagen sind richtig, die lila markierten Aussagen sind verzerrt.

Jede/r Befragte bewertete den Wahrheitsgehalt von zwei der ersten acht zufällig ausgewählten Aussagen sowie einer der letzten beiden Aussagen. Abbildung 1 zeigt den Anteil der Fehlwahrnehmungen für jede Aussage.

Abbildung 1: Anteil der richtigen und falschen Bewertungen für die zehn Aussagen Abbildung : Alix d’Agostino, DeFacto · Daten : durchgeführte Umfrage

Abbildung 1 zeigt, dass von den 10 Aussagen nur drei von mehr als der Hälfte der Personen falsch bewertet wurden. Zudem sieht man, dass bei den Aussagen 9 und 10 ganz unterschiedliche Anteile der Befragten diese beiden falschen Aussagen richtig bewertet hat. Diese erste Analyse zeigt uns, dass die Schweizerinnen und Schweizer im Allgemeinen relativ gut informiert sind und dass es keine massive Desinformation in der Bevölkerung gibt. Andererseits stellen wir fest, dass bei einigen Aussagen der Anteil der falsch informierten Personen recht hoch ist. Die falschen Einschätzungen betreffen die Themen Einwanderung, wirtschaftliche Ungleichheiten und Umweltschutz – Themen, bei denen die parteipolitische Debatte wichtig ist.

Im weiteren Verlauf der Umfrage legten wir Personen, die den Wahrheitsgehalt der präsentierten Informationen falsch eingeschätzt hatten, nach dem Zufallsprinzip einen korrigierten Vorschlag für eine der beiden letzten falschen Behauptungen vor. Die Korrektur konnte aus drei verschiedenen Quellen stammen – einer Facebook-Story, von RTS/SRF/RSI oder der Regierung, war aber sonst identisch. Dies ermöglicht uns zu beurteilen, wie die verschiedenen Quellen der Überprüfung die falsche Wahrnehmung des Wahrheitsgehalts einer Information durch Einzelpersonen verändern. Abbildung 2 zeigt den Anteil der Befragten, die ihre schlechte Bewertung einer Information geändert und korrigiert haben, nachdem sie den korrigierten Vorschlag je nach präsentierter Informationsquelle zur Kenntnis genommen haben.

Abbildung 2: Korrekturrate bei falscher Informationswahrnehmung nach einer Korrektur durch Facebook, die Tagesschau oder die Regierung
Abbildung : Alix d’Agostino, DeFacto · Daten : durchgeführte Umfrage

Abbildung 2 zeigt, dass die Personen ihre Wahrnehmung des Wahrheitsgehalts der neunten (links) präsentierten Aussage weniger stark korrigiert haben als die zehnte (rechts). Tatsächlich ist zu erkennen, dass eine Mehrheit der Befragten, die den Wahrheitsgehalt der Aussage zur Einkommensungleichheit nicht richtig eingeschätzt haben, ihre Position nicht korrigiert. Betrachtet man den Effekt der Quellen genauer, sieht man, dass die Informationen von der Regierung und von SRF/RTS/RSI eine größere Fähigkeit haben, falsche Wahrnehmungen zu korrigieren, als die Facebook-Story. Dieser Effekt gilt umso mehr für die Aussage, die nach der Korrektur am schlechtesten bewertet wird. Dies zeigt, dass Informationen, die von der Regierung oder einem etablierten Medium (SRF/RTS/RSI) präsentiert werden, im Allgemeinen eher akzeptiert werden als Informationen, die in sozialen Netzwerken gelesen werden. Dies deutet auf ein höheres Maß an Vertrauen in diese Institutionen hin.

Allerdings haben nicht alle Befragten die gleiche Sicherheit in Bezug auf ihre Einschätzung. Es ist interessant zu sehen, wie sich die Korrekturwahrscheinlichkeit bei Personen mit hoher und niedriger Bewertungssicherheit unterscheidet. Um zu sehen, wie sich die Gewissheit der ersten Bewertung auf ihre potenzielle Korrektur auswirkt, baten wir die Befragten anzugeben, wie sicher sie sich in ihrer Antwort über den Wahrheitsgehalt der Information waren, bevor ihnen der korrigierte Vorschlag vorgelegt wurde. Abbildung 3 zeigt die Korrekturrate nach Quelle und Grad der Gewissheit der ersten Bewertung.

Abbildung 3: Korrekturquoten nach Sicherheit der Bewertung und Quelle der Korrektur Abbildung : Alix d’Agostino, DeFacto · Daten : durchgeführte Umfrage

Abbildung 3 zeigt zum einen, dass Personen mit einer höheren Gewissheit ihre Fehlwahrnehmung einer Information weniger korrigieren und zum anderen, dass die korrigierten Vorschläge, die von der Regierung vorgelegt wurden, mehr überzeugen als die Vorschläge der Nachrichtensendung sowie von Facebook.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Experiment zeigt, dass Menschen bis zu einem gewissen Grad in der Lage sind, eine falsche Wahrnehmung einer Information zu korrigieren, wenn sie gegenteiligen Informationen ausgesetzt sind. Die verschiedenen Korrekturquellen – Regierung, SRF/RTS/RSI oder Facebook-Story – führen alle zu einer gewissen Korrektur. Es zeigt sich jedoch, dass Regierungsmitteilungen mehr Korrekturen erzeugen als Tagesschau-Mitteilungen, die ihrerseits in der Regel etwas mehr Korrekturen erzeugen als eine Facebook-Story. Welche Folgen hat das für die Demokratie? In einer digitalisierten Welt ist es schwierig, soziale Medien und damit einhergehend die Vertreibung von gewissen Falschinformationen zu beeinflussen, besonders da die Kommunikation via soziale Medien so einfach ist. Um eine bessere Einschätzung des Wahrheitsgehalts von politischen Informationen durch die Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen, scheint deshalb die Existenz etablierter öffentlichen Medien wichtig, die das Risiko einer falschen Wahrnehmung von Informationen zu verringern – vorausgesetzt, die wahrheitsgetreuen Informationen werden auf verständliche Weise präsentiert.


Bild: Unsplash.com

Dieser Artikel wurde von Raed Hartmann bearbeitet.

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KategorienComportement politique, Kommunikationswissenschaft, Politisches Verhalten, Science de l'information et de la communicationThemen
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