Zweite Röhre am Gotthard? Ja, aber…

57 Pro­zent der Stimm­bür­ger sag­ten am 28. Febru­ar 2016 Ja zur zwei­ten Gott­hard-Röh­re. Doch ein Mehr­heits­ent­scheid zu Guns­ten einer Vor­la­ge kann häu­fig nicht als ein bedin­gungs­lo­ses Ja inter­pre­tiert wer­den. Schliess­lich ste­cken hin­ter den indi­vi­du­el­len Ent­schei­dun­gen der Stimm­bür­ger unter­schied­li­che Moti­ve, wie For­schen­de der Uni­ver­si­tät Bern mit­tels einer neu­en Vor­ge­hens­wei­se verdeutlichen.

Bei Volks­ab­stim­mun­gen in der Schweiz ste­hen die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger oft vor der Her­aus­for­de­rung, dass sie sich mit Vor­la­gen kon­fron­tiert sehen, bei denen sie mög­li­cher­wei­se eini­gen Aspek­ten zustim­men, wäh­rend sie ande­ren ableh­nend gegen­über ste­hen. Ein Nein oder ein Ja an einem Abstim­mungs­sonn­tag besteht somit aus zahl­rei­chen indi­vi­du­el­len Abwä­gun­gen. Dabei wer­den unter­schied­li­che Moti­ve und Prä­fe­ren­zen unter­schied­lich stark gewichtet.

Den so zustan­de gekom­me­nen Mehr­heits­ent­scheid als ein­fa­ches Ja oder Nein zu inter­pre­tie­ren, ist damit eigent­lich dop­pelt pro­ble­ma­tisch. Ers­tens wird aus dem Abstim­mungs­re­sul­tat nicht ersicht­lich, wie stark ein­zel­ne Moti­ve für oder gegen einen Ent­scheid wogen. Zwei­tens ist auch nicht klar, wie sta­bil die­ser Mehr­heits­ent­scheid über­haupt ist. Blie­be ein Ja oder ein Nein bestehen, wenn bei der Umset­zung ein­zel­ne Aspek­te ver­än­dert würden?

Verschiedene Motive, gleicher Stimmentscheid

Dass die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung der Vor­la­ge zen­tral ist für die indi­vi­du­el­le Mei­nungs­bil­dung und letzt­lich also für das Abstim­mungs­er­geb­nis, zeigt fol­gen­des, stark ver­ein­fach­tes Bei­spiel: Es wird ange­nom­men, dass fünf Indi­vi­du­en an der Abstim­mung teil­neh­men und dass für deren Ent­schei­dung vier Aspek­te der Vor­la­ge eine Rol­le gespielt haben:

  • (A) der Bau einer zwei­ten Röh­re zur Sanie­rung des Gott­hard­stras­sen­tun­nels als eigent­li­che Abstimmungsfrage

  • (B) die Über­le­gung, dass alter­na­tiv ein Ver­lad via NEAT mög­lich wäre

  • (C) die Fra­ge der Anzahl genutz­ter Spu­ren bei zwei Röhren

  • (D) die Idee einer Tunnelgebühr

Das sind vier Punk­te, über die im Vor­feld der Abstim­mung teil­wei­se hef­tig dis­ku­tiert wur­de. Sie sind also mit ziem­li­cher Sicher­heit in die Über­le­gun­gen für ein Ja oder Nein mit ein­ge­flos­sen. Neh­men wir nun an, dass die fünf Indi­vi­du­en die­se Aspek­te unter­schied­lich gewich­ten, dass sie also eine unter­schied­li­che Prä­fe­renz­ord­nung haben (vgl. Abbil­dung 1).

Abbildung 1:

Graph 2

In die­sem Bei­spiel setzt Indi­vi­du­um 1 stark auf indi­vi­du­el­le Mobi­li­tät. Es prä­fe­riert also die zwei­te Röh­re (A) auch des­halb, weil dann zumin­dest die Mög­lich­keit besteht, dass einst vier Spu­ren (C) befah­ren wer­den könn­ten (und es so zu weni­ger Stau kommt). Eine Maut (D) näh­me die­ses Indi­vi­du­um 1 dann noch eher in Kauf als einen Neat-Ver­lad (B).

Ganz anders sehen etwa die Über­le­gun­gen von Indi­vi­du­um 5 aus: Wenn dies zur Debat­te stün­de, wür­de es den Neat-Ver­lad (B) deut­lich prä­fe­rie­ren und gar bei der bestehen­den Röh­re eine Maut ein­füh­ren (D). Die zwei­te Röh­re (A) oder gar die Mög­lich­keit von vier Spu­ren (C) ste­hen auf der Prä­fe­renz­ord­nung zuunterst.

Auf­grund die­ser fiki­ven Prä­fe­renz­ord­nun­gen führt die eigent­li­che Abstim­mungs­fra­ge, ob eine zwei­te Röh­re gebaut wer­den soll oder nicht, zu einem Ja. Frei­lich unter­schei­den sich aber die Moti­ve, die sich aus die­ser Ord­nung able­sen las­sen: Wäh­rend Indi­vi­du­um 1 die Mobi­li­tät ins Zen­trum stellt, steht für Indi­vi­du­um 2 die Sicher­heit an ers­ter Stel­le. Indi­vi­du­um 3 sagt „Ja, aber“, weil es zwar die NEAT-Vari­an­te bevor­zu­gen wür­de, die zwei­te Röh­re aber zumin­dest als zwei­te Prä­fe­renz angibt. Die Indi­vi­du­en 4 und 5 leh­nen die zwei­te Röh­re hin­ge­gen (eher) ab, zum Bei­spiel weil sie den Stras­sen­ver­kehr im All­ge­mei­nen so weit wie mög­lich redu­zie­ren möch­ten. Der Mehr­heits­ent­scheid führt also zu einem 3:2‑Ja.

Die Crux ist nun aber, dass die Fra­ge nach einem NEAT-Ver­lad in unse­rem fik­ti­ven Bei­spiel zu einem ande­ren Resul­tat füh­ren wür­de als die Fra­ge nach einer zwei­ten Gott­hard-Röh­re. Sogar wenn man den fünf Indi­vi­du­en die Aus­wahl zwi­schen zwei­ter Röh­re und NEAT-Ver­lad lies­se, wür­de der NEAT-Ver­lad prä­fe­riert. Die Indi­vi­du­en 1 und 2 wür­den zwar für die zwei­te Röh­re stim­men, die Indi­vi­du­en 3 und 5 wären aber bestimmt, und Indi­vi­du­um 4 eher für den NEAT-Verlad.

Abstimmung entschied sich am Sicherheitsargument

Das hypo­the­ti­sche Bei­spiel zeigt, wel­che wich­ti­ge Rol­le die Motiv­kon­stel­la­tio­nen hin­ter Abstim­mungs­ent­schei­den spie­len. Mit Hil­fe einer Online-Umfra­ge zur Gott­hard-Abstim­mung wur­de nun kon­kret erho­ben, wel­che Moti­ve für die Mei­nungs­bil­dung bei der Stimm­bür­ger­schaft beson­ders bedeut­sam waren. Die Con­joint-Metho­de erlaubt es dabei, die rela­ti­ve Wich­tig­keit die­ser ver­schie­de­nen Aspek­te für den Stimm­ent­scheid zu erhe­ben und qua­si eine Prä­fe­renz­ord­nung zu ermit­teln (sie­he Info­box “Umfra­ge“).

Die Aus­wer­tung der Umfra­ge lässt den Schluss zu, dass der zen­tra­le Aspekt bei der Abstim­mung um die zwei­te Gott­hard-Röh­re die Ver­kehrs­si­cher­heit war: Wer die höhe­re Ver­kehrs­si­cher­heit auf­grund einer zwei­ten Röh­re als wich­tig erach­te­te, stimm­te der Vor­la­ge im Wesent­li­chen zu. Ersicht­lich wird dies in Abbil­dung 2 dar­an, dass Ja-Stim­men­de die Vari­an­te mit getrenn­ten Röh­ren gegen­über den Vari­an­ten mit Sicher­heits­li­ni­en oder Mit­tel­leit­plan­ke signi­fi­kant bevor­zug­ten. Hin­ge­gen kann das Ja zur zwei­ten Röh­re kei­nes­falls als Ja zu einem Kapa­zi­täts­aus­bau gedeu­tet wer­den, die Vari­an­te mit einer zwei­spu­ri­gen Stras­sen­füh­rung wur­de gegen­über einem Kapa­zi­täts­aus­bau sowohl von den Befür­wor­tern als auch von den Geg­nern der Gott­hard-Sanie­rung präferiert.

Abbildung 2:

Graph 1

Die Umfra­ge zeigt zudem, dass sich die zuge­schrie­be­ne Bedeu­tung der ein­zel­nen Aspek­te der Vor­la­ge zwi­schen Ja- und Nein-Lager unter­schei­den: Bei den Ja-Stim­men­den kris­tal­li­sier­te sich die Sicher­heits­fra­ge somit als das zen­tra­le Motiv für eine Annah­me der Vor­la­ge her­aus. Die Sicher­heit scheint sämt­li­che „Hemm­fak­to­ren“ inkl. Kapa­zi­täts­aus­bau zu kom­pen­sie­ren. Dies deu­tet dar­auf hin, dass das Ver­spre­chen des Bun­des­rats, die zwei­te Röh­re nicht für einen Kapa­zi­täts­aus­bau zu nut­zen, für den Erfolg der Vor­la­ge an der Urne wich­tig war.

Die Geg­ne­rin­nen und Geg­ner der Gott­hard­vor­la­ge mas­sen dem Sicher­heit­s­ar­gu­ment hin­ge­gen kei­ne beson­de­re Bedeu­tung bei. Gleich­zei­tig ste­hen sie einem poten­ti­el­len Kapa­zi­täts­aus­bau noch kri­ti­scher gegen­über als die Befür­wor­ter-Sei­te. Ihre Ableh­nung kann ins­be­son­de­re auf öko­lo­gi­sche Moti­ve zurück­ge­führt wer­den: Die Vari­an­ten ohne Beschrän­kung des Tran­sit­ver­kehrs oder mit Kapa­zi­täts­aus­bau (ins­be­son­de­re bei gleich­zei­tig erfolg­tem Ver­weis, dass so der Alpen­schutz­ar­ti­kel ver­letzt wür­de) wer­den von den Vor­la­gen­geg­ner als unge­eig­net beurteilt.

Erfassung von Motiven als Herausforderung an die Umfrageforschung

Die Kennt­nis von Moti­ven bei Abstim­mungs­ent­schei­den ist wich­tig. Die Dis­kus­si­on und allen­falls die Umset­zung eines Mehr­heits­ent­schei­des soll­te des­sen Natur Rech­nung tra­gen. Ein ein­fa­cher Ja-Nein-Ent­scheid kann die Prä­fe­renz­ord­nun­gen nicht abbil­den und sich als insta­bil erwei­sen, wenn ein­zel­ne Aspek­te ver­än­dert werden.

Für die­sen Bei­trag haben wir neue Mög­lich­kei­ten getes­tet, wie Moti­ve bei Abstim­mun­gen mehr­di­men­sio­nal erfasst wer­den kön­nen. Mit Con­joint-Ana­ly­sen wer­den Moti­ve nicht direkt, son­dern in vari­ie­ren­den Kom­bi­na­tio­nen ver­schie­de­ner Aspek­te einer Vor­la­ge abge­fragt. Damit kann die Situa­ti­on des indi­vi­du­el­len Ent­schei­des, in der eine Bür­ge­rin oder ein Bür­ger unter­schied­li­che Aspek­te gegen­ein­an­der abwägt, bes­ser simu­liert wer­den. Zudem lässt sich so die zuge­schrie­be­ne Wich­tig­keit die­ser unter­schied­li­chen Aspek­te eru­ie­ren. Aus ers­ten Tests zie­hen wir ein posi­ti­ves Fazit: Ins­ge­samt erweist sich die Con­joint-Ana­ly­se als inter­es­san­te Mög­lich­keit, die Stimm­mo­ti­ve der Indi­vi­du­en bei mehr­di­men­sio­na­len Vor­la­gen zu erfassen.

INFOBOX: Umfra­ge

Mit einer Online-Umfra­ge unter rund 1’500 Smart­vo­te-Nut­ze­rin­nen und Nut­zern haben wir die­se Vor­ge­hens­wei­se im Rah­men der Gott­hard-Abstim­mung vom 28. Febru­ar 2016 ein ers­tes Mal getes­tet. Neu an die­ser Befra­gung war, dass die Moti­ve nicht direkt bzw. als ein­zel­ne Items abge­fragt wur­den. Ange­lehnt an das oben erwähn­te fik­ti­ve Bei­spiel wur­de mit der so genann­ten Con­joint-Metho­de ver­sucht, die Prä­fe­ren­zen der Indi­vi­du­en mit­tels Ent­scheidvari­an­ten zu erfas­sen, die gleich­zei­tig meh­re­re Aspek­te umfassen.

Frei­lich ist zu beto­nen, dass bei der Gene­ra­li­sie­rung der Befun­de Vor­sicht gebo­ten ist, weicht doch unse­re Stich­pro­be erwar­tungs­ge­mäss in wesent­li­chen Punk­ten von einem für die Schweiz reprä­sen­ta­ti­ven Sam­ple ab. Abge­se­hen davon, dass die Umfra­ge ledig­lich in Deutsch vor­lag und somit fran­zö­sisch- und ita­lie­nisch­spra­chi­ge Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer mehr­heit­lich aus­schloss, weist das rea­li­sier­te Sam­ple ins­be­son­de­re eine star­ke Über­ver­tre­tung an Män­nern auf. Zudem sind die befrag­ten Per­so­nen im Ver­gleich zur Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung über­durch­schnitt­lich hoch gebil­det und poli­tisch informiert.

Schliess­lich wei­chen die Ja- bzw. Nein-Antei­le auf­grund des selbst­be­rich­te­ten Abstim­mungs­ver­hal­tens ziem­lich stark vom rea­len Urnen-Ergeb­nis ab. Zu erwäh­nen ist hier ins­be­son­de­re, dass eine Mehr­heit der Befrag­ten die Gott­hard-Vor­la­ge ablehn­te. Wir gehen den­noch davon aus, dass durch das Gegen­über­stel­len der Ja- und Nein-Stim­men­den rele­van­te Hin­wei­se über die Bedeu­tung unter­schied­li­cher Moti­ve hin­ter den Volks­ent­schei­den vom 28. Febru­ar gewon­nen wer­den konn­ten, wel­che durch­aus für die kon­kre­te Umset­zung und den künf­ti­gen Betrieb der bei­den Röh­ren von Belang sind. Um dies sicher­zu­stel­len, stre­ben wir jedoch in Zukunft die Erhe­bung repräsentativer(er) Sam­ples an.


Titel­bild: Wiki­me­dia Commons

Lek­to­rat, Lay­out und Gra­fi­ken: Pas­cal Burk­hard, Sarah Bütikofer

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