Stellen Sie sich vor, Ihre Stimme hätte bei einer Wahl deutlich mehr Gewicht als die eines anderen – nur aufgrund der Menschen, die in Ihrem Wahlkreis leben. Politikwissenschaftliche Studien zeigen seit Langem, dass ländliche Regionen in vielen Ländern systematisch bevorzugt werden, was oft zu konservativen Verzerrungen des Wahlergebnisses führt. Neue Forschung von André Walter und Patrick Emmenegger, veröffentlicht in der British Journal of Political Science, zeigt jedoch eine überraschende Perspektive auf: Auch städtische Gebiete mit hohen Anteilen an Einwohnerinnen und Einwohnern ohne Staatsbürgerschaft können von der Art und Weise profitieren, wie Parlamentssitze auf Regionen verteilt werden.
Im Zentrum der Studie steht die Frage, ob die Verteilung der Sitze auf Grundlage der Gesamtbevölkerung oder nur der Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern bzw. Wahlberechtigten erfolgt. Der Unterschied scheint zunächst technisch, hat aber große Auswirkungen: Nicht-staatsangehörige Einwohnerinnen und Einwohner, die oft in Städten leben, werden bei einer Verteilung nach Gesamtbevölkerung mitgezählt, obwohl sie nicht wählen dürfen. Das führt dazu, dass urbane Regionen mehr Sitze erhalten und dadurch das Stimmengewicht ihrer wahlberechtigten Bürger steigt.
Besonders relevant ist dies für Länder wie die Schweiz. Dort hat beispielsweise der urbane Kanton Genf aufgrund seiner demographischen Zusammensetzung deutlich weniger Wahlberechtigte pro Abgeordneten als andere Regionen was bedeutet, dass dort abgegebene Stimmen mehr Einfluss haben. In einem weiteren Arbeitspapier zeigt André Walter genauer, dass ein Wechsel zu einer Verteilung auf Basis der Wahlberechtigten für die Nationalratswahlen den Kantonen Genf, Waadt und Zürich jeweils zwei Sitze kosten würde. Gleichzeitig würden ländlichere Kantone wie Bern, Freiburg, Luzern und Solothurn Sitze hinzugewinnen. Solche Veränderungen könnten erhebliche Auswirkungen auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments und die daraus resultierende Politik haben.
Diese Erkenntnisse fordern die verbreitete Annahme heraus, dass vor allem ländliche oder konservative Gebiete von einer unausgewogenen Vertretung profitieren. Stattdessen zeigen André Walter und Patrick Emmenegger, dass auch Immigration und demografische Veränderungen die politische Repräsentation auf subtile, aber entscheidende Weise beeinflussen können. Wer in einer Demokratie repräsentiert wird, ist also nicht nur eine Frage wer wählen darf, sondern auch der Frage, wer überhaupt gezählt wird.
Referenzen
Walter A. and Emmenegger P. (2025) Who Counts? Non-Citizen Residents, Spatial Sorting, and Malapportionment. British Journal of Political Science 1–11. https://doi.org/10.1017/S0007123424000541
Walter A. (2024) The Partisan Consequences of Apportionment in Switzerland, Working Paper. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.20411.63522
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