Das Jahr 2024 hat auf beeindruckende Weise gezeigt, dass die Schweizer Stimmbevölkerung der politischen Elite in der Sozialpolitik einen Strich durch die Rechnung machen kann. Sowohl bei der 13. AHV-Rente als auch bei der BVG-Reform, gegen die erfolgreich das Referendum ergriffen worden war, überstimmte das Volk Bundesrat und Parlament. Kann deshalb von einem Sonderfall Sozialpolitik gesprochen werden oder sind die beiden Entscheide Ausnahmen zur Bestätigung der Regel? Eine Studie der Universität Bern analysiert genau dies.
Die Schweizer Sozialpolitik wird seit der Gründung des Bundesstaates aktiv von der Stimmbevölkerung mitgestaltet. So ist der Ausbau des Sozialstaates bis heute eng verknüpft mit der kontinuierlichen Schaffung neuer Bundeskompetenzen (Bonoli und Fosati 2023; Wagschal und Obinger 2000). Dadurch ergibt sich für die Schweizer Stimmbevölkerung eine doppelte Mitbestimmungsmöglichkeit. Einerseits kann sie über das obligatorische Verfassungsreferendum direkt mitentscheiden, welche Aufgaben der Bund im Bereich der Sozialpolitik überhaupt übernehmen soll. Zweitens kann sie bei der konkreten Ausgestaltung der Bundeskompetenzen über das fakultative Referendum erneut Einfluss nehmen. Unterscheidet sich die tatsächliche Einflussnahme in der Sozialpolitik von jener in allen anderen? Dies habe ich anhand aller obligatorischen und fakultativen Referenden im Zeitraum von 1874 bis 2024 untersucht.
Sozialpolitik umfasst alle politischen Bemühungen, individuelle und gesellschaftliche Missstände und Nöte abzufedern. Sie richtet sich demnach an Menschen in einer prekären Situation, sei es aufgrund von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder auch durch die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe. Hier wird die Sozialpolitik in Anlehnung an Swissvotes (2024a) und Möckli (2012) in drei Bereiche unterteilt. Sozialversicherungen umfassen die Abdeckung individueller Risiken und Einkommensausfälle durch Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, Militär und Elternschaft. Soziale Gruppen betreffen Geflüchtete, Ausländer:innen, Familien, Frauen, queere Menschen, Menschen mit Behinderung, Senior:innen, Kinder und Jugendliche, Arbeitnehmende und Landwirt:innen. Zum Bereich der Gesundheit schliesslich gehören die Gesundheitspolitik im engeren Sinne, Medizinberufe, Medizinforschung, Betäubungs- und Suchtmittel.
Betrachtet werden alle obligatorischen und fakultativen Referenden seit er Einführung des fakultativen Referendums 1874. Ausgeschlossen aus der Analyse sind Volksinitiativen. Datengrundlage für die Analyse sind die Übersicht der Bundeskanzlei sowie von Swissvotes (2024d).
Konstante bei den obligatorischen Referenden
Eine detailliertere Betrachtung aller obligatorischen Referenden seit 1874 zeigt, dass deren Anzahl für den Bereich der Sozialpolitik relativ konstant geblieben ist (Abbildung 1). Und das obwohl die Anzahl obligatorischer Referenden insgesamt angestiegen ist und zwischen 1970 und 2000 einen Höhepunkt erreicht hat. Ein Blick auf die Quote der Ablehnungen an der Urne zeigt, dass die Unterstützung für Verfassungsänderungen in der Sozialpolitik sich nicht stark von anderen Politikbereichen unterscheidet. Von 164 Vorlagen aus anderen Bereichen wurden 127 angenommen (77.44%) während das Volk 23 von 36 sozialpolitischen Vorlagen zugestimmt hat (63.89%). Seit 1990 wurden jedoch 6 von 13 sozialpolitischen Verfassungsänderungen abgelehnt (46.15%), während in nicht sozialpolitischen Bereichen nur 4 von 40 (10.00%) Vorlagen vom Volk nicht gutgeheissen wurden. Das deutet auf eine Zunahme der Konfliktivität bei sozialpolitischen Verfassungsänderungen hin.
Abbildung 1. Anzahl obligatorische Referenden pro Jahr, 1874-2024
Abbildung. Alix d’Agostino, DeFacto · Quelle: Berechnungen des Autors, Swissvotes (2024d) · N(nicht sozialpolitische OR) = 164, N(sozialpolitische OR) = 36
Mehr Referenden mit geringeren Erfolgschancen
Ein klareres Bild zeigt sich für die fakultativen Referenden. Seit 1874 ist die Zahl der jährlich verabschiedeten Bundesgesetze und -Beschlüsse, die dieser Möglichkeit unterstellt sind, deutlich angestiegen (Abbildung 2). Während die gesetzgeberische Tätigkeit bis zum 2. Weltkrieg relativ konstant auf dem Niveau von 10 pro Jahr verblieb, wurden seit 2000 jährlich zwischen 50 und 93 erlassen. Die fakultativen Referenden folgen diesem Trend, allerdings erst mit einer gewissen Verzögerung. Erst seit 1976 lässt sich ein schwacher Anstieg der jährlich ergriffenen Referenden beobachten, wobei dieser starken Schwankungen unterliegt (Abbildung 3).
Abbildung 2. Anzahl Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse pro Jahr, 1874-2024 
Abbildung. Alix d’Agostino, DeFacto · Quelle: Berechnungen des Autors, Swissvotes (2024d) · N(nicht sozialpolitische Gesetze) = 2’640, N(sozialpolitische Gesetze) = 672
Abbildung 3. Anzahl erfolgreich ergriffene Referenden pro Jahr, 1874-2024 
Abbildung. Alix d’Agostino, DeFacto · Quelle: Berechnungen des Autors, Swissvotes (2024d) · N(nicht sozialpolitische Referenden) = 140, N(sozialpolitische Referenden) = 70
Die Betrachtung der Referendumswahrscheinlichkeit offenbart nun jedoch deutliche Unterschiede zwischen der Sozialpolitik und allen anderen Politikbereichen: Gegen sozialpolitische Gesetze wird häufiger das Referendum ergriffen als in anderen Politikfeldern. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ist der Anteil der sozialpolitischen Gesetze, gegen die das Referendum ergriffen wurde, mehr als doppelt so hoch (11.2%) als bei nicht sozialpolitischen Gesetzen (5.3%).
Die höhere Referendumshäufigkeit bedeutet allerdings nicht, dass die Stimmbevölkerung in der Sozialpolitik tatsächlich häufiger erfolgreich Opposition betreibt. So zeigt sich bei der Betrachtung der Ablehnungsquoten ein gegenteiliges Bild: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Vorlage von der Stimmbevölkerung in einem fakultativen Referendum abgelehnt wird, ist in der Sozialpolitik deutlich geringer (32.0%) als in allen anderen Politikfeldern (47.9%).
Zunehmendes Konfliktpotenzial
Um genauer zu verstehen, wie sich die Rolle der Bevölkerung in der Schweizer Sozialpolitik seit der Einführung des fakultativen Referendums entwickelt hat, kann der Untersuchungszeitraum in vier Phasen eingeteilt werden. Dabei habe ich mich an den vier Entwicklungsphasen des schweizerischen Sozialstaates orientiert (Bonoli und Fossati 2023). Die Periodisierung (1874-1944, 1945-1969, 1970-1989, 1990-2024) offenbart, dass die signifikant höhere Referendumshäufigkeit in der Sozialpolitik erst in der jüngsten Phase von 1990 bis 2024 auftritt.
Streitpunkt Minderheitenschutz
Zuletzt stellt sich nun die Frage, ob das zunehmende Streitpotenzial in der Sozialpolitik für das gesamte Politikfeld gilt, oder ob bestimmte Bereiche besonders für diese Entwicklung verantwortlich sind. Zu diesem Zweck kann die Sozialpolitik in Gesundheit, Sozialversicherungen und verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterteilt werden (siehe Methodik-Kasten).
Die Referendumshäufigkeit ist in allen Teilbereichen höher als bei nicht-sozialpolitischen Politikfeldern. Der Unterschied ist aber besonders gross für Vorlagen, die Geflüchtete und Ausländer:innen betreffen. Im Gegenzug deuten die Daten aber auch darauf hin, dass Gesetzesvorlagen zu diesen Themen vom Volk auch seltener abgelehnt werden.
Die Fallzahlen werden allerdings durch die Unterteilung zu klein, um statistisch signifikante Effekte ausweisen zu können. Es gibt aber Hinweise dafür, dass die Spannung zwischen Volk und Parlament insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Geflüchteten und Ausländer:innen gross ist.
Mehr Konfliktpotenzial, aber nicht genug
Insgesamt wurden 3’312 Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse betrachtet, wovon 602 der Sozialpolitik zugeordnet wurden. Das fakultative Referendum wurde gegen 210 erhoben (6.34%), 70 der Referenden betrafen die Sozialpolitik, was 10.42% aller sozialpolitischen und 2.11% aller Vorlagen entspricht. Von den 70 sozialpolitischen Vorlagen wurden 23 vom Volk abgelehnt, was einer Ablehnungsquote von 32.86% entspricht. Bei den nicht sozialpolitischen Vorlagen wurden 67 von 140, also 47.86% der Vorlagen abgelehnt. Betrachtet man alle referendumsfähigen Gesetze und Beschlüsse des Parlamentes, so wurden 23 von 602 vom Volk verworfen (3.82%). Bei den nicht sozialpolitischen Gesetzen und Beschlüssen sind es 67 von 2’710 (2.47%).
In der Summe deuten die Ergebnisse auf einen Anstieg der Konfliktivität in der Sozialpolitik in den vergangenen 30 Jahren hin. Es wird häufiger das fakultative Referendum ergriffen als in anderen Politikbereichen, dennoch reicht die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht aus, um die Vorlagen dann auch tatsächlich abzulehnen. Im Gegenteil haben sozialpolitische Vorlagen an der Urne sogar bessere Chancen. In Bezug auf alle vom Parlament erlassenen Entscheide weisen sowohl Sozialpolitik als auch alle anderen Politikbereiche eine ähnlich hohe Unterstützungsquote durch das Volk auf. Insgesamt erweist sich die Schweizer Stimmbevölkerung also in sozialpolitischen Fragen nicht als grössere Vetomacht als in anderen Bereichen.
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