Lausanne ist nicht Clichy-sous-bois und wird es wohl auch nie sein

Die jüngsten Unruhen im Lausanner Quartier Prélaz wurden in der Schweiz sofort mit Ereignissen in französischen Vororten verglichen. Dieser Beitrag wirft einen genaueren Blick auf die Realitäten in Lausanne und in der Westschweiz. Er zeigt auf, dass die Ursachen für die Unruhen weder in Stadtplanung noch in den prekären Lebensverhältnissen gesucht werden müssen, sondern mit einem wachsenden Gefühl der Ungerechtigkeit angesichts des strukturellem Rassismus und einem gemeinsamen Bewusstsein der Jugendlichen mit Diskriminierungserfahrungen in der Westschweiz zusammenhängen.

2005 kam es in Frankreich zu schweren Unruhen, nachdem Zyed Benna und Bouna Traoré, zwei Jugendliche aus Clichy-sous-Bois, einem Vorort von Paris, durch einen Stromschlag ums Leben gekommen waren. Sie starben in einer Transformatorenstation, in die sie geflüchtet waren, um einer Polizeikontrolle zu entgehen. Darauf kam es im ganzen Land zu Ausschreitungen, die lange anhielten, sehr gewalttätig verliefen und ein grosses Ausmass an Sachbeschädigungen mit sich brachten – zudem forderten diese Ausschreitungen drei weitere Todesopfer.

Vor gut zwei Jahren, im Juni 2023, starb der 17-jährige Nahel Merzouk durch einen Schuss aus nächster Nähe, der ein Polizist bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre bei Paris abfeuerte. Sein Tod löste ebenfalls heftige Unruhen aus, die weit über die französischen Landesgrenzen hinaus Beachtung fanden.

In Lausanne verloren zwischen Juni und August 2025 zwei Jugendliche ihr Leben beim Versuch, vor der Polizei zu fliehen: Camila, 14 Jahre, und Marvin, 17 Jahre. Diese aufeinanderfolgenden Tragödien führten im Quartier Prélaz in Lausanne zu Unruhen, an denen Müllcontainer in Brand gesetzt und Bushaltestellen demoliert wurden. Rund einhundert Personen nahmen an den Ausschreitungen teil, was manche Kommentatorinnen und Kommentatoren aus der Schweiz dazu veranlasste, Vergleiche mit Clichy-sous-Bois oder Nanterre zu ziehen und die Lausanner Arbeiterquartiere unter Berufung auf eine vermeintliche „Verwilderung“ durch Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu stigmatisierten. [1]

Die Vergleiche hinken

Allerdings haben Lausanne und die Pariser Vororte auf demographischer, sozioökonomischer und städtebaulicher Ebene nur wenig gemeinsam. Zunächst die Grössenordnung: Die betroffenen französischen Stadtviertel zählen oft zehntausende Einwohnerinnen und Einwohner und liegen teilweise mehrere Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In Clichy-sous-Bois betrug die Armutsquote im Jahr 2022 hohe 42 Prozent (gegenüber 14,4 Prozent im französischen Landesdurchschnitt), die Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen lag bei 30 Prozent, und das jährliche Medianeinkommen betrug ein Viertel weniger als im französischen Durchschnitt. Zudem lag der Anteil an Sozialwohnungen bei einem Drittel (sogenannte HLM).[2]

In Nanterre sind die Zahlen vergleichbar, der Anteil der Sozialwohnungen liegt mit 56 Prozent sogar deutlich über der in Frankreich gesetzlich vorgeschriebenen Mindestquote von 25 Prozent (gemäß SRU-Gesetz).[3] In Vierteln wie der Cité Pablo-Picasso leben fast alle der rund 14 000 Bewohnerinnen und Bewohner in Sozialwohnungen.[4] Bezeichnend ist, dass wohlhabende Nachbargemeinden von Nanterre wie auch von Paris, zum Beispiel Neuilly-sur-Seine (die Stadt, in der der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy auch einmal Stadtpräsident war) lieber Bussen bezahlen als die Vorgaben für den sozialen Wohnbau einzuhalten. In Neuilly-sur-Seine liegt der Anteil an Sozialwohnungen daher nur bei 2,6 Prozent (Pinçon & Pinçon-Charlot, 2007).

Schweizer Städte: attraktiv, friedlich und sozial durchmischt

Die grösstenen Schweizer Städte – Zürich, Basel, Genf oder Lausanne – entwickeln sich in einem völlig anderen Kontext als die französischen Vorstädte. Seit über 30 Jahren mehrheitlich von linken Mehrheiten regiert, verfügen sie über starke wirtschaftliche Standbeine: Finanzsektor, Pharmaindustrie, Wissenschaft, Diplomatie und internationale Sportinstitutionen. Sie sind attraktiv, sehr gut mit ihren Agglomerationen verbunden und bleiben auch für tiefere soziale Schichten vergleichsweise zugänglich. Das zeigen die sozioökonomischen Indikatoren: In Lausanne liegt das jährliche Medianeinkommen nur vier Prozent unter dem Schweizer Durchschnitt, die Arbeitslosenquote beträgt ebenfalls vier Prozent – leicht über dem kantonalen Mittel der Waadt (Jaffar, 2025). Lausanne weist zudem eine jüngere und vielfältigere Bevölkerung auf als der nationale Durchschnitt: 45 Prozent sind Ausländerinnen und Ausländer. Doch Vielfalt bedeutet nicht automatisch soziale Ausgrenzung: Die überwiegende Mehrheit dieser Menschen ist in das lokale Wirtschafts- und Sozialgefüge integriert. Die kommunale Politik unterstützt diese Integration durch ein dichtes Netz von Vereinen und Quartierorganisationen, die in 17 Stadtteilen präsent sind. Sie bieten unter anderem auch den einkommensschwachen Familien kostenlose Aktivitäten für Kinder und Jugendliche wie Sommerlager, Ausflüge und Freizeitangebote an, die für sie sonst kaum erschwinglich wären.

Schweizer Städte sind dennoch ungleich

Dieses insgesamt beruhigende Bild soll aber nicht über doch vorhandene Ungleichheiten hinwegtäuschen. Auch Schweizer Städte weisen Ungleichheiten auf, die sich häufig auf bestimmte Quartiere konzentrieren. In Lausanne zeigt die räumliche Einkommensverteilung eine klare Trennlinie: Auf der einen Seite das „goldene Crescendo“ der wohlhabenden Viertel (auf der untenstehenden Karte grün markiert), auf der anderen die ehemaligen Industriegebiete im Westen der Stadt, die stärker von Bewohnerinnen und Bewohnern tieferer sozialer Gruppen geprägt sind. Sozialwohnungen konzentrieren sich ebenfalls auf wenige bestimmte Zonen. In der Bourdonnette etwa liegen die Einkommen durchschnittlich 20 Prozent unter dem Lausanner Median und das Quartier war jüngst sogar von einer Unterversorgung mit Lebensmittelläden betroffen.[5]

Abbildung 1.Abbildung: Autor · Quelle: Statistisches Amt Lausanne

In Zürich sind die Ungleichheiten noch ausgeprägter: Im Quartier Hirzenbach, dem ärmsten der Stadt, liegt das Einkommen 35 Prozent unter dem Median der Stadt (Jaffar, 2025). Dennoch erklären diese Faktoren in keiner Weise den Aufstand der Jugendlichen in Prélaz.

Struktureller Rassismus und eine transnationale Bewusstseinsbildung

Was Lausanne mit Nanterre oder Paris verbindet, ist nicht die Stadtplanung oder die soziale Prekarität, sondern das geteilte Gefühl der Ungerechtigkeit angesichts strukturellen Rassismus – insbesondere in polizeilichen Praktiken. Diese Feststellung ist nicht neu. 2022 stellte eine vom Bundesrat eingesetzte UN-Expertengruppe das Vorhandensein systemischer Diskriminierung in der Schweiz fest – ein Befund, den auch die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) bestätigte.[6] Im Kanton Waadt, besonders in Lausanne, haben sich Fälle von Polizeigewalt gehäuft. Innerhalb von neun Jahren verloren sieben dunkelhäutige Männer in Folge von Polizeieinsätzen ihr Leben.

Am Tag nach Marvins Tod wurde zudem bekannt, dass es innerhalb des Polizeikorps von Lausanne WhatsApp-Gruppen mit rassistischen Inhalten gab, an denen mindestens ein Zehntel des Korps beteiligt waren – konkret rund fünfzig Polizeibeamte.[7] Über soziale Netzwerke entwickelt ein Teil der Jugendlichen – insbesondere solche mit Migrations- oder Rassismuserfahrungen – ein kollektives Bewusstsein für diese Missstände. Ereignisse werden von ihnen nicht mehr als Einzelfälle wahrgenommen, sondern als Symptome eines Systems von gegen sie gerichteten Ungerechtigkeiten.

Aus lauter Ordnung – der Exzess

Vielleicht liegt genau hier das eigentliche Paradox der Schweiz: In einem Land, das so friedlich ist, in dem Ruhe die Norm und Spannungen die Ausnahme sind, wird bereits der kleinste Ausbruch zu einem aussergewöhnlichen Ereignis. Dies ist auch die einzige sinnvolle Analogie, die sich hier ziehen lässt: nicht zwischen Lausanne und den französischen Banlieues, sondern zwischen dieser Überreaktion der organisierten Jugendlichen und jener der Polizei. Wie Didier Fassin (2011) gezeigt hat, können Polizeikräfte, die es gewohnt sind, in konfliktfreien Umgebungen zu patrouillieren, im Falle eines Zwischenfalls mit übersteigerter Intensität reagieren – getrieben von einem Adrenalinschub. Ordnung wird so zur eigenen Falle: Je grösser die gewohnte Ruhe, desto heftiger die Reaktion auf jede Störung derselben.

Die Jugendlichen, die an den Lausanner Unruhen teilnahmen, sind weder ausgegrenzt noch radikalisiert, sondern vor allem empört über das, was sie als anhaltende, nicht anerkannte Ungerechtigkeit erleben. Angesichts dessen ist eine doppelte Haltung erforderlich: Die Ausschreitungen sind keine Lösung – sie werden im Übrigen von den Familien der Opfer und der grossen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung klar abgelehnt. Doch die Wut zu ignorieren und die strukturellen Ungerechtigkeiten nicht zu hinterfragen, die sie nährt, birgt das Risiko, dass sich morgen dieselben Szenen wiederholen – in Lausanne, in Nanterre oder in Paris.


[1] https://udc-vaud.ch/les-elus-ne-peuvent-plus-fermer-les-yeux-sur-le-declassement-securitaire-de-lausanne/

[2] https://www.insee.fr/fr/statistiques/2011101?geo=COM-93014

[3] https://www.insee.fr/fr/statistiques/8201670?geo=COM-92050

[4] https://www.streetpress.com/sujet/115904-la-cite-pablo-picass-est-elle-2-0

[5] https://www.24heures.ch/sans-epicerie-la-bourdonnette-est-un-desert-alimentaire-777268117738

[6] https://www.unine.ch/sfm/wp-content/uploads/sites/100/SFM-Studies-81f.pdf

[7] https://www.swissinfo.ch/fre/politique-suisse/racisme-syst%C3%A9mique-au-sein-de-la-police-de-lausanne-un-cas-isol%C3%A9/89901970


Referenzen: 

Abbildung: wikimedia.org

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