Spielerisch das Gesundheitsverhalten erkunden

Spiele regen an, deshalb sind sie ein Mittel, um Personen an der Forschung teilhaben zu lassen. Im NFP 80 «Covid-19 in der Gesellschaft» haben sich mehrere Forschungsgruppen für diese Option entschieden  – und dabei herausfordernde und wertvolle Erfahrungen gesammelt.

Die meisten Menschen spielen gern. Verhaltensforscher sehen im Spielen eine Art aktiven Lernens: Wer spielt, erkundet eine (oft simulierte) Welt. Und kann so entdecken, welche Konsequenzen sich aus welchen Handlungen ergeben. Im Spiel kann man Widersprüche auflösen, Rätsel knacken – oder sogar sterben, ohne das eigene, echte Leben in Gefahr zu setzen.

Vor diesem Hintergrund liegt es quasi auf der Hand, dass Spiele auch ein grosses Potenzial für die Forschung bergen. Im Nationalen Forschungsprogramm «Covid-19 in der Gesellschaft» (NFP 80) dienen die für die Wissenschaft entwickelten Spiele verschiedenen Zwecken: Einige Forschende möchten damit Versuchspersonen motivieren, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen. Andere Forschende nutzen Spiele, um im Publikum Diskussionen über Forschungsergebnisse anzustossen.

Im Projekt «Soziale Beziehungen in einer Pandemie» untersucht eine Forschungsgruppe, wie sich Menschen als Mitglieder in einer Gruppe verhalten. Das von den Forschenden entwickelte Computerspiel ist in erster Linie ein Instrument für die Datenerhebung, die aber den Studienteilnehmenden auch Spass machen soll. In den Projekten «Den öffentlichen Diskurs stärken» und «Ungleichheit und Wohlbefinden» entstehen hingegen Rollenspiele, die sich auf das erarbeitete Wissen stützen – und das Publikum dazu einladen, sich spielerisch mit den Erkenntnissen auseinanderzusetzen.

In der virtuellen Landwirtschaftsgruppe

«Ich bin überhaupt keine Gamerin», stellt Alexandra Freund gleich zu Beginn des Gesprächs klar. Sie leitet zusammen mit Urte Scholz ein Team am Psychologischen Institut der Universität Zürich, das mit dem Computerspiel «das Gesundheitsverhalten während der Pandemie beobachten» möchte, ohne dabei nochmals die Pandemie herstellen zu müssen. In ihrem Projekt gehen die Forschenden um Freund und Scholz der Frage nach, wie soziale Beziehungen das Gesundheitsverhalten beeinflussen. «Soziale Identitäten sind ruckzuck geschaffen», sagt Freund. Das könne man etwa auf Pausenplätzen beobachten, wo Kinder beim Ballspielen kein Problem damit haben, die Mitglieder der eigenen und der gegnerischen Mannschaft auseinanderzuhalten. «Es ist erschreckend, wie schnell das manchmal geht», meint die Psychologieprofessorin.

Zu Zeiten der Corona-Pandemie haben viele Menschen das Vertrauen in das Gesundheitssystem verloren. Einige davon seien «in einen Sog reingekommen», der sie immer tiefer hineingezogen habe, bis sich auch zuvor sehr brave und unbescholtene Personen dazu veranlasst sahen, «sich gegen Regierungsvorgaben zu stellen», erklärt Freund. Um diese Sogbildung genauer anzuschauen, haben die Forschenden ein Game entworfen, in dem die Spielerinnen und Spieler ihre Gruppenzugehörigkeit in mehreren Schritten entwickeln.

Das Game heisst «Der Acker ruft!». Wer es spielt, versetzt sich in die Lage einer Figur, die mit anderen zusammen Landwirtschaft betreibt, also Samen sät, Pflanzen giesst und dann auf dem Markt Tomaten oder Gurken verkauft. Die Doktorandin Sophie Kittelberger hat die Entwicklung des Spiels massgeblich vorangetrieben. «Für mich war das totales Neuland», sagt Kittelberger. Sie ist zu diesem Zweck tief in die Hobby-Programmier-Szene eingetaucht, wo sich Personen anonym auf Servern einklinken, um meist während ihrer Freizeit – also abends und an Wochenenden – an Teilen des Open-Source-Codes weiterzufeilen.

Screenshot vom Computerspiel: Die Figur ohne Hut in der Mitte ist noch kein vollwertiges Mitglied ihrer Freundes- oder Familiengruppe, der «Rothüte». Sie darf daher beispielsweise noch keine Produkte auf dem Markt verkaufen oder an Gruppenabstimmungen teilnehmen. Sie wird erst im Verlaufe des Spiels vollwertiges Gruppenmitglied.
Bildquelle: NFP 80, Forschungsprojekt «Soziale Beziehungen in einer Pandemie»

Insgesamt waren rund 70 Personen an der Programmierung beteiligt. «Es war anstrengend und anspruchsvoll, die Fäden in der Hand zu halten», erzählt Kittelberger. Sie habe dabei auch lernen müssen, die Kontrolle abzugeben und flexibel zu bleiben. Herausgekommen ist ein Game im aktuell beliebten Retro-Look, das «völlig anders aussieht, als wir uns das ursprünglich vorgestellt hatten», sagt Kittelberger. «Aber inhaltlich entspricht es genau dem, was drin sein muss: Es erlaubt uns, eine soziale Identität mit einer virtuellen Gruppe herbeizuführen.»

«Zu Beginn ist man noch kein vollwertiges Mitglied der Gruppe, erst mit der Zeit fügt man sich mehr in die Gemeinschaft ein», führt Kittelberger aus. Die eigene Spielfigur erwirbt eine blaue Kette und später einen roten Hut, die «symbolisch dafür stehen, dass man zusehends mehr Privilegien hat – und auch mehr Verantwortung übernimmt, also etwa mitbestimmt, welches Gemüse auf dem Markt verkauft werden soll», erklärt Kittelberger. Der Markterlös dient dazu, einen Umzug zu ermöglichen, der sich wegen eines drohenden Vulkanausbruchs aufdrängt.

Für das Spielszenario mit dem Vulkan haben sich die Forschenden entschieden, weil sie eine bedrohliche Situation herstellen wollten, «ohne aber direkte Erinnerungen an die durchlebte Covid-19-Pandemie wachzurufen», erklärt Freund. «Wir möchten vermeiden, dass diese Erinnerungen das im Spiel gezeigte Verhalten prägen und so den Einfluss der sozialen Identität verschleiern.»

«Die Bugs sind behoben», sagt Freund. «Wir stehen jetzt am Punkt, wo wir mit der Datenerhebung beginnen.» Die Forschenden suchen Freiwillige, die sich an drei Tagen jeweils 30 Minuten auf den virtuellen Acker begeben und Online-Fragebögen ausfüllen. «Wie fühlen sich Menschen in einer neuen Gemeinschaft? Und wie finden sie ihren Platz darin? Genau das möchten wir in dieser Studie herausfinden – und zwar auf spielerische Weise!», halten die Forschenden auf der Anmeldung zur Studie fest.

Rollenspiele mit einer aufklärerischen Komponente

Für das Projekt «Den öffentlichen Diskurs stärken» spannen Forschende am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich mit Kolleginnen und Kollegen vom Swiss Tropical and Public Health Institute in Basel zusammen. Ihre Hypothese lautet, dass moralische Schlüsselbegriffe wie «Verantwortung» oder «Solidarität» unterschiedliche Bedeutungen haben, wenn sie von verschiedenen Personen oder Institutionen verwendet werden. Und dass deshalb auch Missverständnisse dazu beigetragen haben, dass viele Debatten während der Corona-Pandemie so erhitzt geführt wurden.

Mit ausgeklügelten, KI-gestützten Methoden haben die Forschenden verglichen, wie einerseits der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Begriffe wie «Freiheit» gebrauchen – und andererseits in welchem Kontext diese Begriffe in Zeitungsartikeln oder in Posts auf elektronischen Plattformen wie Facebook auftauchten. Gestützt auf diese sprachlichen Analysen entwickeln die Forschenden eine Art Online-Quiz. In Planung ist auch ein Rollenspiel, sagt Doktorand Franc Fritschi: «Ein bisschen wie «Werwölfe», kennen Sie das?» Das Rollenspiel richte sich in erster Linie an Jugendliche im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. «Sie schlüpfen in die Rolle der Grossmutter oder eines Besitzers einer kleinen Bar», sagt Fritschi. «Und entscheiden dann gemeinsam, was zu tun ist, wenn eine fiktive Pandemie ausbricht.»

Dabei entwickeln die Jugendlichen zuerst verschiedene Szenarien – und «einigen sich dann in der Diskussion darauf, was eine faire Lösung ist», führt Fritschi aus. Er erhofft sich, dass «das Spiel einen kritischen Reflexionsprozess auslöst», und dass die Jugendlichen beim Spielen «lernen, zu diskutieren». Sie sollen sich so klar werden, was sie genau meinen, wenn sie von Freiheit oder Gerechtigkeit sprechen. «Das Spiel hat eine aufklärerische Komponente», sagt Fritschi.

Etwas Ähnliches zu dem, was Fritschi noch vorschwebt, haben Nolwenn Bühler und Joachim Marti von Unisanté in Lausanne schon entwickelt. Sie leiten das Projekt «Ungleichheit und Wohlbefinden» und haben in Zusammenarbeit mit den Fachpersonen für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft von «L’éprouvette» für die Tage der offenen Türe an der Universität Lausanne ein Rollenspiel für Familien mit Kindern ab 10 Jahren kreiert. «Wir wollten nicht, dass das Publikum passiv zuhört, während Forschende vortragen», sagt Bühler. «Wir wollten Diskussionen anstossen», so Bühler.

Das Rollenspiel baut auf den Erkenntnissen auf, die Bühler (für ein vorgängiges Forschungsprojekt im Rahmen des NFP 78 «Covid-19 ») während der Corona-Pandemie gewonnen hat. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen hat Bühler damals zahlreiche Gespräche geführt. Sie hat mit Personen aus der Allgemeinbevölkerung gesprochen und mit Personen, die beim Paketdienst der Post oder an den Supermarkt-Kassen auch während des Lockdowns weiterarbeiten mussten. Sowie mit Asylbewerberinnen und -bewerbern, die in ihren Heimen viel weniger Rückzugsmöglichkeiten hatten – und deshalb besonders stark von den Einschränkungen betroffen waren.

Die Thematik, wie die Pandemie schon zuvor bestehende Ungleichheiten aufdeckte und verstärkte, sei komplex und deshalb nicht einfach zu vermitteln, meint Bühler. Doch indem das spielende Publikum sich in die Haut von Samira, einer 16-jährigen Gymnasiastin, von Jacques, einem 86-jährigen Pensionär, oder von Sélim, einem 25-jährigen Asylsuchenden, also von Personen mit jeweils unterschiedlichen Ressourcen und Schwierigkeiten versetze, entwickle das Publikum von selbst ein Gespür für die strukturellen und systemischen Ungleichheiten in der Gesellschaft.

Jede und jeder verfolgt eine eigene Mission, so bereitet sich Samira auf sportliche Wettkämpfe vor, während Sélim Französisch lernt. Doch das oberste Ziel des Spiels sei es, alle Spielerinnen und Spieler durch die Krise zu bringen. «Ein Spiel macht wach, man will gewinnen», sagt Bühler. «Wenn es dann trotzdem für einige Spielfiguren schlecht endet, führt das zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit, das nicht abstrakt wirkt, sondern persönlich erlebt ist.»

Die Anthropologin begrüsst das, denn: «Das Ungerechtigkeitsgefühl motiviert die Leute, zu reflektieren.» In den Diskussionen, die auf jede abgeschlossene Spielrunde folgten, sei so jeweils rasch klar geworden, dass «die Solidarität zwischen Menschen im Quartier eine von mehreren Möglichkeiten ist, um gesundheitliche Ungleichheiten zu mildern», sagt Bühler. Und: «Das Publikum hat begriffen, dass die eigene Gesundheit nicht nur von individuellen Entscheiden, sondern auch vom gesellschaftlichen Umfeld abhängt.»


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