Neutralität: Wann sie funktioniert und wann nicht. Die Fälle Schweiz und Ukraine

Der russisch-ukrainische Krieg dauert bereits seit vier Jahren an, und die Diskussionen über seine Ursachen und Friedensmöglichkeiten reissen nicht ab. Russland unternimmt grosse Anstrengungen, seine Narrative zu verbreiten, die, wenn zuletzt etwas abnehmend, immer noch grosse Aufmerksamkeit erhalten. Eines der bekanntesten russischen Argumente ist, dass die Ukraine neutral sein sollte und dass deren NATO-Anspruch die russische Aggression provoziert habe.

Die Definition der Neutralität

Wir untersuchen hier das Konzept der Neutralität und analysieren, ob und unter welchen Bedingungen es staatspolitisch sinnvoll wäre, dass die Ukraine sich als neutral deklarieren würde. Neutralität bezeichnet die aussenpolitische Ausrichtung eines Staates, der sich weder direkt noch indirekt an Kriegen zwischen anderen Staaten beteiligt. Das Konzept lässt sich in zwei Aspekte unterteilen: die völkerrechtlich definierte Neutralität und das politische Handeln eines neutralen Staates in der Pflege seiner internationalen Beziehungen.

Die Haager Konventionen von 1907 gelten als Grundlage des Neutralitätsrechts. Darin verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, die territoriale Integrität eines neutralen Staates zu respektieren, sofern dieser sich nicht an Kriegen unter Drittstaaten beteiligt, für seine eigene Verteidigung sorgt, weder Söldnertruppen noch sein Territorium den kriegführenden Staaten zur Verfügung stellt und die gegnerischen Seiten hinsichtlich des Exports von Kriegsmaterial gleichbehandelt. Aus Schweizer Perspektive gelten Ausnahmen für vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genehmigte Militäroperationen.

Was sind die Geschichte und die Bedingungen der schweizerischen Neutralität?

Die Schweiz ist wohl das bekannteste und erfolgreichste Beispiel eines neutralen Land. Ihre Neutralität wurde 1815 auf dem Wiener Kongress international anerkannt. Seitdem hat die Schweiz keinen grösseren Krieg auf ihrem Territorium erlebt, was angesichts der Tatsache, dass sie in den beiden Weltkriegen von grossen Kriegsparteien umgeben war, bemerkenswert ist.

Als Ursache ihrer Unversehrtheit wird oft ihre Neutralität ins Feld geführt. Ein Blick auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs widerlegt diese Annahme jedoch schnell: Deutschland konnte sich für eine Invasion Frankreichs zwischen zwei Angriffsoptionen entscheiden: Einer über die neutrale Schweiz und einer über das neutrale Belgien. Angesichts der Angriffstaktik der Reichswehr, die mit Panzern und Stukas schnell vorrückte, erwiesen sich die belgischen Ebenen als deutlich geeigneter als das hügelige Schweizer Mittelland. Die Geographie war hier also entscheidender als das Neutralitätsrecht.

Die Schweiz hat im Zusammenhang mit ihrer Neutralität verschiedene Strategien entwickelt. Eine entscheidende, die gerne übersehen wird, ist ihre Anpassungsfähigkeit an externe Bedingungen. Um ihre Sicherheit zu wahren, passt die Schweiz die ihre Neutralitätspolitik laufend an. Dafür hat die Schweiz manchmal sogar Teile ihres Neutralitätsrechts gebrochen: Im Zweiten Weltkrieg exportierte das Land deutlich mehr Waffen nach Deutschland und Italien als an die Alliierten und erlaubte den Achsenmächten, Waffen auf Schweizer Bahngleisen und durch Schweizer Tunnels zu transportieren. Während des Vietnamkriegs exportierten Schweizer Uhrmacher Zünder für amerikanische Bomben, und während des gesamten Kalten Krieges exportierte die Schweiz keine technologischen Güter in die UdSSR, wohl aber in die USA. Man kann hier dem Land Opportunismus vorwerfen, doch ist diese Flexibilität ein wesentlicher Pfeiler des Erfolgs.

Zwei Hauptprinzipien prägten die Definition dieser flexiblen Neutralitätspolitik der Schweiz. Erstens muss die Neutralität der Schweiz für die internationale Gemeinschaft von Wert sein. Die Schweiz investierte, um ihren Ruf als wertvoller Gesprächspartner zwischen kriegführenden Staaten und als Ort für internationale Organisationen auszubauen. Zweitens sollte ihre Neutralität für die einflussreichsten Akteure zu keinem Ärgernis werden. Die Schweizer Führung erkannte, dass Neutralität nur dann von Wert ist, wenn sie von den beteiligten Mächten unterstützt wird, während die unterzeichnete Konvention alleine keinen Schutz bietet. Diese Politik erwies sich als sehr erfolgreich, nicht nur um das Land vor Kriegen zu schützen, sondern auch um ein besonderes Image des Landes zu schaffen. Neutralität ist eng mit dem internationalen Bild der Schweiz verknüpft, und die Schweizer Neutralität wurde zum Vorbild für andere neutrale Staaten.

Die Neutralität der Ukraine

In der Erklärung der staatlichen Souveränität der Ukraine von 1990 verkündete das Land die Absicht, neutral zu bleiben, Militärbündnisse zu vermeiden und atomwaffenfrei zu werden. Die ukrainische Verfassung von 1996 beinhaltete Koalitionsfreiheit und Neutralität. Die Ukraine verfügte bis 1994 über das drittgrösste Atomwaffenarsenal der Welt und gab es gemäss dem Budapester Memorandum ab, um der Welt ihre friedlichen Absichten zu demonstrieren. Der Unterzeichnung des Memorandums gingen jedoch hitzige interne Diskussionen voraus, und die Ukraine wurde sowohl politisch (von den USA und Russland) als auch wirtschaftlich (das Land brauchte dringend finanzielle Unterstützung für seine angeschlagene Wirtschaft) unter Druck gesetzt, das Memorandum zu unterzeichnen.

Die Neutralität war bis 2019 in der ukrainischen Verfassung verankert. Erst mit Annexion der Krim und die darauffolgende Diskussion um die neuen strategischen Ziele der Ukraine (NATO- und EU-Beitritt) wurde sie in Frage gestellt. Praktisch gesehen ist die Ukraine aber bis heute noch immer neutral.

Die Ukraine vermied Militärbündnisse sowohl mit dem Westen als auch mit Russland. Wie andere Neutrale kooperierte sie mit der NATO im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden, an der auch Russland teilnahm.

Diskussionen über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stiessen in der Bevölkerung lange auf Ablehnung: Vor der Annexion der Krim befürworteten nur gerade 18 Prozent der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft, 67 Prozent lehnten dies ab.

Mit der Annexion der Halbinsel durch Russland im Jahr 2014 änderten sich langsam die Meinungen: 48 Prozent befürworteten nun einen NATO-Beitritt, 32 Prozent lehnten diesen noch immer ab. Erst nachdem Russland 2021 hunderttausende seiner Soldaten nahe der ukrainischen Grenze versammelt hatte, äusserte die Mehrheit der Ukrainer den Willen, der NATO beizutreten. Nach der russischen Invasion im Jahr 2022 stieg die Zustimmung auf über 70 Prozent.

Die Neutralität der Ukraine hat dem Land keinen Frieden gebracht. Russland griff die Ukraine sowohl 2014 als auch 2022 an, als das Land neutral war und keine konkreten Absichten hatte, einem Militärbündnis beizutreten. Interessanterweise beschlossen nach der russischen Invasion im Jahr 2022 auch andere zuvor neutrale Länder in der Nähe Russlands – Finnland und Schweden –, der NATO beizutreten, um sich vor der russischen Bedrohung zu schützen. Trotz des Verzichtes der Ukraine auf ihre Atomwaffen im Rahmen des Budapester Memorandums sahen sich die Garantiestaaten Grossbritannien und die USA nicht dazu verpflichtet auf den Bruch des Memorandums durch Russland militärisch zu antworten. Sie verhängten zwar Sanktionen und unterstützten die Ukraine teilweise, doch dies reicht nicht aus. Der Fall der Ukraine zeigt, dass ein Vertrag mit einem Neutralitätsversprechen allein, selbst bei einem Verzicht auf Atomwaffen, weder Frieden noch Sicherheit schafft.

Wird die Ukraine nach dem Krieg neutral sein?

Wir kommen zu unserem Kernproblem: Warum funktionierte die Neutralität für die Schweiz, für die Ukraine jedoch nicht? Die Antwort ist nicht leicht zu geben, aber eines ist klar: Der gedruckte Buchstabe eines internationalen Vertrags allein ist keine Garantie für Frieden. Der Erfolg eines solchen Vertrags hängt in erster Linie von der Bereitschaft der beteiligten Staaten ab, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Dabei spielen die politischen Systeme und Ambitionen der beteiligten Staaten eine wichtige Rolle.

Dass die Schweiz heute kaum Gefahr läuft von einem ihrer Nachbarn angegriffen zu werden, hat damit zu tun, dass sie von friedliebenden Demokratien mit wenig imperiale Ambitionen umgeben ist. Anders war dies noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das Land zwischen autoritären Staaten oder Monarchien mit starken Ambitionen eingeklemmt war.

Hier kommt ein zweiter wichtiger Aspekt ins Spiel: Welchen Vorteil hätte die Führung eines möglichen Aggressors, wenn sie ihre Verpflichtungen des Völkerrechts brechen würde? Und: Wie bewertet diese Führung die Reaktion anderer? Das neutrale Belgien wurde dann überrannt, als der erwartete militärische Nutzen die erwarteten Kosten einer militärischen Konfrontation mit den alliierten Streitkräften überstieg. Die neutrale Schweiz blieb unversehrt, da der militärische Nutzen als zu gering erachtet wurde. Um diese Kosten-Nutzen-Analyse zu verstehen, ist es in einem autoritären Staat wichtig, die Perspektive des Herrschers genau zu betrachten.

Der Kreml kam 2022 offensichtlich zu dem Schluss, dass eine militärische Intervention in der Ukraine dem Land und insbesondere der Führung mehr nützen, als dass sie kosten würde. Auf den ersten Blick überrascht dies, da die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und der Ukraine stark und für beide Seiten vorteilhaft war.

Es ist anzunehmen, dass insbesondere die Kosten der Invasion 2022 im Kreml unterschätzt wurden. Doch der wahre Grund für diese Kosten-Nutzen-Analyse ist bei Putin selbst zu finden. Putins Interesse ist es, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben. Und da er im Inland kaum Erfolge vorweisen kann, etwa in der Sozialpolitik oder der Wirtschaft, führt er im Ausland Kriege, um die russische Bevölkerung mit dem Traum „von Gross-Russland“ glücklich zu machen. So hat Putin die Herzen der Russen erobert: Als er die Krim annektierte, stieg seine Zustimmungsrate von 60 auf 80 Prozent, und genau das Gleiche geschah nach dem Einmarsch in die Ukraine 2022.

Ist Neutralität trotzdem eine Option für die Nachkriegs-Ukraine?

Die Ukrainer wollen der NATO nicht grundsätzlich beitreten. Aber ohne echte Sicherheitsgarantien, die mehr als nur ein Stück Papier auf Grundlage des Neutralitätsrechts sind, können die Ukrainer keinen Frieden mit Russland schliessen. Während die NATO als der zuverlässigste Sicherheitsgarant gilt, würden die Ukrainer auch anderen Sicherheitsgarantien ausserhalb der NATO zustimmen. Entscheidend ist allerdings die Beteiligung der USA.

Unsere Analyse zeigt, dass Neutralität kein Allheilmittel für sicheren Frieden ist. Sie kann zwar nützlich sein und Länder vor ausländischen Einflüssen schützen, ist aber keine Garantie. Die Schweiz hat eine lange Tradition der Neutralität, die dem Land geholfen hat, sich zu entwickeln und seinen Status in der Konfliktlösung zu nutzen. Die Ukraine aber könnte dem Schweizer Beispiel nur folgen, wenn Russland dem Deutschen Beispiel folgt – seine imperialen Wünsche überwindet und sich zu einem zivilisierten, demokratischen Land entwickelt.


Quellen: 

Bild: unsplash.com

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KategorienInternationale BeziehungenThemen
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