Ist die Neutralität eigentlich freiwillig? Wenn ja, für wen? Und was bedeutet sie 2025? In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, wie sich das Neutralitätsrecht seit dem Inkrafttreten der Uno-Charta allenfalls geändert hat.

Patricia Egli hat den völkerrechtlichen Rahmen der schweizerischen Neutralität in ihrem Beitrag bereits aufgezeigt. Sie erläutert, warum das Neutralitätsrecht weiterhin Bestand hat. Dennoch haben die Uno-Charta sowie Entwicklungen im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht gewisse Einflüsse auf die Verpflichtungen neutraler Staaten. Welche dies sind, soll hier – gestützt auf eine umfangreichere Publikation – umrissen werden.
Das völkerrechtliche Neutralitätsrecht bedeutet im Kern, dass neutrale Staaten keine Kriegsparteien militärisch unterstützen dürfen. Diese Verpflichtung gilt nur für neutrale Staaten, sie gilt nur in internationalen bewaffneten Konflikten (d.h. Konflikten, welche mindestens zwei Staaten involvieren), nicht aber in Bürgerkriegen, und sie gilt nur im militärischen Bereich.
Nun werden in verschiedenen, ineinander verschränkten Debatten zur Neutralität Argumente vorgebracht, dass das Neutralitätsrecht neu ausgelegt werden könne oder sich dahingehend geändert habe, dass es neutralen Staaten trotzdem möglich sein soll, in gewissen Fällen einer Kriegspartei direkt oder indirekt Waffen zu liefern, wenn diese völkerrechtswidrig angegriffen worden sei. Dem ist nicht so.
Die Begründung dieser Schlussfolgerung ist in zwei Schritte unterteilt. Zum Verständnis der Neutralitätsdebatten im Völkerrecht ist erst einmal festzustellen, dass international Uneinigkeit darüber besteht, für wen das Neutralitätsrecht überhaupt gilt. Dass es für die Schweiz gilt, ist unbestritten. Aber für Deutschland, Indien oder Burkina Faso? In einem ersten Schitt geht es deshalb darum, zu klären, ob die Neutralität für alle Staaten verpflichtend ist, welche nicht selber Kriegspartei sind. In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, was Neutralität völkerrechtlich bedeutet, wenn sie zur Anwendung kommt.
Neutralität als Pflicht oder Option?
In der Schweiz wird selten zur Kenntnis genommen, dass weltweit viele VölkerrechtlerInnen davon ausgehen, dass alle Länder, also auch solche, welche nicht dauerhaft neutral sind, eine völkerrechtliche Pflicht haben, neutral zu bleiben. Zum Beispiel weist Michael Bothe im Eintrag von 2015 in der Max Planck Enzyklopädie für Völkerrecht (§12ff) darauf hin, dass Staaten beim Ausbruch eines Krieges nur zwei Möglichkeiten hätten: entweder bleiben sie neutral oder sie nehmen am Konflikt teil. In der letzten Monographie zur Neutralität, in der die Frage ausführlich behandelt wird, schlussfolgert James Upcher, dass es im Völkerrecht weiterhin eine Neutralitätspflicht gäbe. Gemäss dieser – international immer noch sehr weitverbreiteten – Auffassung müssen sich aktuell z.B. in Bezug auf Russland und die Ukraine grundsätzlich alle Drittstaaten an die neutralitätsrechtlichen Vorgaben halten (z.B. Analysen von deutschen, irischen, oder italienischen KollegInnen). Bekanntlich liefern diverse europäische Staaten und die USA aktuell der Ukraine Kriegsmaterial. Dies erklärt, warum sich auch VölkerrechtlerInnen im Ausland wieder intensiv mit der Neutralität befassen.
Da viele VölkerrechtlerInnen weiterhin davon ausgehen, dass auch nicht-dauerhaft neutrale Staaten verpflichtet seien, neutral zu bleiben, stellt sich die Frage, ob diese Länder das Neutralitätsrecht und die militärische Unterstützung der Ukraine rechtlich unter einen Hut bringen können. Diese Debatten sind alles andere als neu, sondern werden bereits seit den 20er–Jahren des letzten Jahrhunderts geführt, so z.B. intensiv vor dem amerikanischen Kriegseintritt im zweiten Weltkrieg. Aus diesen Debatten kann man aber nicht ohne Weiteres Schlussfolgerungen für die Schweiz ziehen, da die Schweiz ein dauerhaft neutrales Land ist. Jedenfalls entstanden diverse Argumentationsstränge, warum Waffenlieferungen an eine Kriegspartei keine Verletzung des Neutralitätsrechtes darstellten würden.
Die meines Erachtens weitaus überzeugendste Argumentationslinie ist gleichzeitig die einfachste: nämlich diejenige, welche davon ausgeht, dass diese Länder gar nicht verpflichtet sind, neutral zu bleiben; sondern die Möglichkeit haben, als nicht-kriegsführende Länder das Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffs zu unterstützen, ohne selbst Kriegspartei zu sein. Die Haager Konventionen regeln nicht, welche Staaten neutral sein müssen oder sollen, sondern halten bloss die Rechte und Pflichten neutraler Staaten fest. Um zu ermitteln, welche Staaten zur Neutralität verpflichtet sind, muss somit das Gewohnheitsrecht herangezogen werden; was sehr schwierig ist. Um gewohnheitsrechtliche Regeln festzustellen, braucht es eine «allgemeine, als Recht anerkannte [Praxis]» (Art. 38 IGH-Statut). Die Staatenpraxis zur Frage, ob Neutralität für alle Staaten heutzutage eine Pflicht darstelle, ist unklar. Erstens gab es seit dem 2. Weltkrieg eine geringe Anzahl zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte. Zweitens äussern sich die Staaten in diesem Bereich oft nur vage oder gar nicht. Zur Staatenpraxis gehören zudem auch alle Staaten, welche einem Konflikt schweigend fernbleiben; und nicht nur militärisch wichtige Staaten mit lauter Stimme. In Anbetracht der Spärlichkeit der Daten scheint es mir deshalb schwierig, die eine oder andere Schlussfolgerung zum allenfalls verpflichtenden Charakter der Neutralität zu schliessen.
Jedoch sprechen Gründe dafür, davon auszugehen, dass die Neutralität im modernen Völkerrecht für die allermeisten Staaten wohl freiwillig geworden ist (so auch diese neue Publikation, welche ebenfalls zur Vorsicht bei der Auslegung der unklaren Staatenpraxis mahnt (p. 405ff) oder dieser Blogpost). Die Entwicklung des Systems der kollektiven Sicherheit sowie Überlegungen der Kohärenz sprechen für die Annahme einer freiwilligen Neutralität (ausführlicher in der längeren Publikation; zur Debatte um Doppelstandards und die Wahrnehmung im globalen Süden, siehe z.B. hier und hier; zur oft zitierten, aber inkorrekten Annahme, dass die Haager Konventionen zu einem Zeitpunkt entstanden seien, als die Kriegsführung völkerrechtlich noch völlig ungeregelt gewesen sei, siehe hier).
Ausnahmen zur Freiwilligkeit der Neutralität können sich ergeben, wenn die Neutralität z.B. in einem Friedensvertrag erfordert ist oder wenn sich ein Land einseitig dazu verpflichtet hat. Die Schweiz könnte sich hypothetisch m.E. von der dauernden Neutralität lossagen, wenn sie dies den anderen Staaten nach Treu und Glauben mit einer angemessenen Frist mitteilen würde und die Bundesverfassung entsprechend angepasst würde (für die Lehrmeinung, dass die Neutralität für die Schweiz verpflichtend sei: Villiger 2023, S. 176ff).
Drei Möglichkeiten der Staaten bei Kriegsausbruch
Wenn die Neutralität freiwillig ist, haben die meisten Staaten bei Ausbruch eines internationalen bewaffneten Konfliktes somit völkerrechtlich drei Optionen: sie können neutral bleiben; als Nicht-Kriegsführende den Opferstaat auch mit Kriegsmaterial unterstützen, ohne zur Kriegspartei zu werden oder am bewaffneten Konflikt auf Seite des Opfers (aber nur des Opfers) als Kriegspartei teilnehmen. Die Frage, wann ein Staat als Kriegspartei gilt, ist eine andere Rechtsfrage als die Frage der Neutralität. Kriegsmaterialexporte machen einen Staat noch nicht zur Kriegspartei.
Freiwillig neutral, und dann?
Wenn ein Staat neutral ist, ist er vollumfänglich an die neutralitätsrechtlichen Pflichten gebunden. Diese bedeuten weiterhin militärische Abstinenz, d.h. insbesondere keine staatlichen Waffenlieferungen an Kriegsparteien.
Wenn ein Staat neutral ist, ist er vollumfänglich an die neutralitätsrechtlichen Pflichten gebunden. Diese bedeuten weiterhin militärische Abstinenz, d.h. insbesondere keine staatlichen Waffenlieferungen an Kriegsparteien.
Zwar ist es theoretisch möglich, dass die Uno-Vorrangregel (Art. 103 Uno-Charta) die neutralitätsrechtliche Pflicht zum militärischen Abseitsstehen überlagert; aber dies ist einzig dann der Fall, wenn der Uno-Sicherheitsrat militärische Zwangsmassnahmen anordnet (d.h. nicht nur erlaubt, sondern befiehlt, was bisher noch nie vorkam).
Darüber hinaus besteht seit der Uno-Charta für neutrale und alle anderen eine Pflicht, die Vereinten Nationen zu unterstützen, einem Aggressor keinen Beistand zu leisten und sich gegenseitig zu unterstützen, um (auch nicht-militärische) Massnahmen des Sicherheitsrates umzusetzen (dazu auch Patricia Egli). Dies steht nicht im Widerspruch zum Neutralitätsrecht. Das Neutralitätsrecht ist also weder erloschen noch von der Uno-Charta übersteuert worden.
Gleichzeitig hat sich im Völkerrecht eine im Umfang noch unklare Kooperationspflicht entwickelt, welche alle Staaten – neutral oder nicht – zur Zusammenarbeit verpflichtet, um schwere Völkerrechtsverstösse mit legalen Mitteln zu beenden (Art. 40 und 41 der ILC-Artikel zur Staatenverantwortlichkeit; Art. 1 Uno-Charta). Dies bedeutet, dass unbeteiligtes Abseitsstehen vom Völkerrecht nicht mehr gebilligt wird. Stillsitzen und Wegschauen sind nicht völkerrechtskonform; bei der Auswahl der als geeignet erscheinenden Massnahmen steht den Staaten aber ein grosser Beurteilungsspielraum offen. Jeder Staat muss sich Gedanken machen, wo sein Beitrag zur Beendung der schweren Völkerrechtsverstösse möglich und am wirksamsten ist, und geeignete Massnahmen ergreifen. Die Neutralitätsinitiative würde mit ihrer Einschränkung der Sanktionsmöglichkeiten die Mittel der Schweiz zur Wahrnehmung dieser Kooperationspflicht schmälern und steht deshalb meines Erachtens in einem ungünstigen Spannungsfeld zu dieser Pflicht zum engagierten Zusammenarbeiten gegen schwere Völkerrechtsverstösse.
Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf dem Referat „Gibt es eine Pflicht zur Neutralität? Zur Kooperation gegen einen Aggressorstaat? Völkerrechtliche Debatten und ihre Auswirkungen für die Schweiz“, gehalten von Prof. Dr. Evelyne Schmid an den Aarauer Demokratietagen vom 4. April 2025.
Referenzen:
- Bartolini, Giulio (2023). The Law of Neutrality and the Russian/Ukrainian Conflict: Looking at State Practice, https://www.ejiltalk.org/the-law-of-neutrality-and-the-russian-ukrainian-conflict-looking-at-state-practice/
- Bothe, Michael (20215). Neutrality, Concept and General Rules. In Max Planck Encyclopedia of Public International Law. A. Peters and R. Wolfrum, editors. Oxford University Press, Oxford: https://opil.ouplaw.com/display/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e349?prd=MPIL
- Clancy, Pearce (2023). Neutral Arms Transfers and the Russian Invasion of Ukraine, International & Comparative Law Quarterly, 527–543: https://www.cambridge.org/…/neutral-arms-transfers…
- Kolb, Roberto / Benjamin Meret (2025). Clarifying Neutrality: The Rise of Different Statuses? https://lieber.westpoint.edu/clarifying-neutrality-rise-different-statuses/
- Kotova, Anastasiya / Ntina Tzouvala (2022). In Defense of Comparisons: Russia and the Transmutations of Imperialism in International Law, American Journal of International Law, 710–719: https://www.cambridge.org/…/in-defense-of-comparisons…
- Schmid, Evelyne (2024). Optional but Not Qualified: Neutrality, the UN Charter and Humanitarian Objectives, International Review of the Red Cross, 1044–1064.
- Sâ, Benjamin Traoré (2022). Ukraine and Beyond: The Need to Reaffirm Basic Principles and to Build a New Consensus on the Prohibition of the Use of Force in International Relations: https://cil.nus.edu.sg/…/use-of-force-territorial-integrity…
- Upcher, James (2020). Neutrality in Contemporary International Law, Oxford University Press, Oxford: https://global.oup.com/…/neutrality-in-contemporary…
- Verdebout, Agatha (2021). Rewriting Histories of the Use of Force: The Narrative of ‘Indifference’, Cambridge University Press, Cambridge: https://www.cambridge.org/…/rewriting-histories…
- Villiger, Mark (2023). Handbuch der schweizerischen Neutralität. Zürich: Schulthess.
- Wentker, Alexander / Miles Jackson / Lawrence Hill-Cawthorne (2024). Identifying Co-parties to Armed Conflict in International Law: How States, International Organizations and Armed Groups Become Parties to War: https://www.chathamhouse.org/…/identifying-co-parties…
- Zugliani, Niccolò (2024). The Supply of Weapons to a Victim of Aggression: The Law of Neutrality in Light of the Conflict in Ukraine, European Journal of International Law, 389–410: https://academic.oup.com/…/article/35/2/389…
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