Europas politischer Songcontest

Morgen finden in Basel das Finale des diesjährigen ESC statt. Höchste Zeit, seine Relevanz zu würdigen. Auf und neben der Bühne ist der grösste aller TV-Kultur­events hoch­politisch. Eine Analyse in sechs Kapiteln.

«Früher oder später erklärt Eurovision alles», sagt Catherine Baker. Sie ist die führende Politologin im Bereich der Forschung zum Eurovision Song Contest (ESC). Tatsächlich ist dieser nicht nur aufgrund seiner Grösse einzigartig: Die Liveshow läuft seit beinahe 70 Jahren, wird von 160 Millionen Zuschauerinnen mitverfolgt und bringt dieses Jahr bis zu 500’000 Fans nach Basel. Einzigartig ist auch, wie der ESC sich explizit apolitisch gibt und dennoch Räume für das Politische schafft.

Wenn der Eurovision Song Contest auch nicht ganz alles erklärt, so ist er zumindest ein Spiegel dessen, was die europäische Werte­gemeinschaft umtreibt und wie sie sich selbst versteht, aber auch einer, der Zerwürfnisse und Utopien zeigt.

1. Gründung und Kalter Krieg

Dass schon der erste ESC 1956 in der Schweiz stattfand, hatte mit dem damaligen SRG-Direktor zu tun: Marcel Bezençon war die treibende Kraft hinter der Gründung. Man wollte mit dem Anlass das Fernsehen popularisieren, Innovations­fähigkeit demonstrieren sowie die Musik­industrie fördern. Heute klingt das unvorstellbar, aber damals war es eine Sensation, dass eine Show gleichzeitig von mehreren öffentlichen Rundfunk­anstalten übertragen werden konnte. Vergleichbares war zuvor nur bei der Krönung von Königin Elizabeth II. geschehen.

Die Gründer merkten schnell, was für eine verbindende, grenz­überschreitende Kraft vom ESC ausging. Von Beginn an hatte die Show so gute Einschalt­quoten wie kaum eine andere Sendung. Ebenfalls seit Beginn forderten Kritikerinnen ihre Abschaffung.

Es gehört zur Ironie der Geschichte des ESC, dass einige der Ziehväter der ebenfalls in dieser Zeit gegründeten Europäischen Wirtschafts­gemeinschaft zwar eine europäische Identität fördern wollten, den ESC als Vehikel dafür aber nicht einmal in Betracht zogen. Erst Jahre später merkten sie, dass Europäerinnen die Popmusik als gemeinsame Unterhaltungs­form auch über den ESC entwickelt hatten. Eurovision war somit, wie Bezençon bereits 1957 feststellte, «ein Beweis für die viel diskutierte Idee der Europäischen Union in Aktion».

Politisch war der Event schon damals. So zielte beispiels­weise West­deutschland durch seine Auftritte auf eine Rehabilitierung. In Lugano 1956 sang der jüdische Holocaust-Überlebende Walter Andreas Schwarz das Lied «Im Wartesaal zum grossen Glück» und riet den Menschen damit, nach vorne zu schauen. 1959 spielten die Zwillings­schwestern Alice & Ellen Kessler mit «Heut’ woll’n wir tanzen geh’n» ein Jazzstück – ein Genre, das in Nazi­deutschland verboten gewesen war – und schienen mit der Ansprache «Hallo Boy» amerikanische Soldaten zu begrüssen, mit denen versöhnlich getanzt werden sollte.

Der ESC war auch der einzige Event, in dem der Eiserne Vorhang zumindest ein bisschen gehoben wurde, denn er wurde auch in Russland und in den sowjetischen Satelliten­staaten ausgestrahlt. Eine Zeit lang grüssten die Moderatorinnen sogar auf Russisch. So wurde signalisiert: Beim ESC ist die europäische Landkarte noch intakt, ihr gehört für uns dazu.

2. Mauerfall und Europäisierung

Bis in die 1980er-Jahre kam «Europa» in den Liedern des ESC fast nie vor. Dies änderte sich radikal mit dem Mauerfall 1989. Bezeichnend dafür ist Toto Cutugnos Siegessong «Insieme 1992», aufgeführt 1990, der eine Lobeshymne auf die bevor­stehende Gründung der Europäischen Union war. Auch andere Länder besangen im gleichen Jahr die europäische Einheit: Österreich mit «Keine Mauern mehr», Deutschland mit «Frei zu leben» und Irland mit «Somewhere in Europe».

Als auch die Sowjetunion aufgelöst wurde, ergriffen insbesondere die baltischen Staaten die Gelegenheit, über den ESC zu beweisen, wie europäisch sie sind. Estland arbeitete gezielt darauf hin, den ESC zu gewinnen. Als das Land 1996 den fünften Platz schaffte, sagte Präsident Lennart Meri: «Was seh ich da? Estland hat wieder einen Fuss in Europas Tür.» Als Estland 2001 gewann, feierte das Land, als hätte es die Fussball-Europa­meisterschaft gewonnen. Premier Mart Laar sagte nach dem Sieg, Estland habe «sich von der Sowjet­union singend befreit» und werde nun «nach Europa singend eintreten».

Als der ESC im Jahr darauf in Tallinn ausgetragen wurde, beauftragte Estland eine Marketing­firma. Diese sollte die «Marke Estland» entwerfen und verpackte Estland in erster Linie als nordisches Land.

3. Jugoslawien­kriege

Während die europäische Integration voran­getrieben wurde, fand gleichzeitig mit dem gewalt­vollen Zusammen­bruch Jugoslawiens auch der erste Krieg im Nachkriegs­europa statt. Er stellte eine Zäsur in der Geschichte des ESC dar, denn zum ersten Mal wurde ein Staat ausgeschlossen. 1992 erliess die Uno Sanktionen gegen den Rumpf­staat Jugoslawien, der damals nur noch aus den Teil­republiken Serbien und Montenegro bestand und als Haupt­verantwortlicher für die Aggression galt. Entsprechend durfte das Land zwischen 1993 und 2003 nicht am ESC teilnehmen.

Veranstaltet wird der Eurovision Song Contest von der Europäischen Rundfunk­union EBU, einem Zusammen­schluss öffentlicher Rundfunk­anstalten – wobei die Künstlerinnen offiziell diese Organisationen vertreten und nicht etwa ihre Staaten. Die EBU stellte sich nun auf den Standpunkt, dass eine Teilnahme aufgrund der Uno-Sanktionen nicht möglich war, weil alle teilnehmenden Länder Mitglied der Internationalen Fernmelde­union sein müssen, einer Uno-Organisation. Somit konnte sie sich weiterhin auf den unpolitischen Charakter der Veranstaltung berufen.

Den eindrücklichsten Auftritt in dieser Zeit hatte Bosnien-Herzegowina 1993. Die Band, die das Land vertrat, musste aus dem belagerten Sarajevo flüchten. Dafür rannten die Band­mitglieder über die Landebahn des Flughafens, trotz der Gefahr durch die umliegenden Scharfschützen. Von dort liefen sie bis zum Berg Igman, stiegen in einen Militär­lastwagen, der sie nach Mostar brachte, von wo sie per Bus der kroatischen Küste entlang bis Zagreb fuhren, um an der Vorauswahl teilzunehmen. Der Dirigent hatte es nicht geschafft, sodass einer von einer anderen Delegation ausgeliehen werden musste (damals wurde auch die Musik von einem Live­orchester gespielt, heute wird bloss noch live gesungen).

Kosovo ist der einzige Nachfolge­staat Jugoslawiens, der noch nie am ESC teilnehmen konnte. Denn um der veranstaltenden EBU beitreten zu können, was Voraus­setzung ist, muss ein Staat entweder international anerkannt und Mitglied der Vereinten Nationen sein oder zwei Drittel der Mitglieder der Internationalen Fernmelde­union hinter sich haben. Beides trifft im Falle Kosovos nicht zu. Und doch zeigte sich der ESC hier so solidarisch wie noch nie zuvor. Als der Anlass 1999 in Jerusalem ausgetragen wurde, forderten die Moderatorinnen alle Teilnehmer auf, gemeinsam das Lied «Hallelujah» zu singen, um so den Opfern der Balkan­kriege zu gedenken.

Die Sanktionen wurden aufgehoben, nachdem der serbische Diktator Milošević im Oktober 2000 gestürzt und im Jahr darauf nach Den Haag ausgeliefert worden war. Serbien und Montenegro traten zum ersten Mal 2004 wieder an und nutzten die Bühne, um ihre friedlichen Absichten zu bekräftigen. Dass Serbien und Montenegro den zweiten Platz belegten und von allen Nachbar­staaten zwölf Punkte erhielten, wurde als Beweis für die Wieder­aufnahme Serbiens in die internationale Gemeinschaft genommen.

Als das neue Serbien schliesslich 2007 mit der queeren Performance «Molitva» (dt. Gebet) gewann, war das Land endgültig rehabilitiert.

4. Diversität

Um die Jahrtausend­wende wurde LGBTQIA+-Freundlichkeit zu einem Test, den Länder, die der EU beitreten wollten, zu bestehen hatten, um zu beweisen, dass sie richtig europäisch sind. Queere Performances am ESC eigneten sich perfekt dafür – weshalb der ESC auch schon als «gay Olympics» bezeichnet wurde. 2002 sagte ein niederländischer Abgeordneter des Europäischen Parlaments: «Vielleicht ist Slowenien noch nicht bereit für einen EU-Beitritt», weil das für den ESC ausgewählte Drag-Trio Sestre in seinem Heimatland homophoben und transphoben Hass erfuhr.

Der ESC wurde bereits früh zu einer Bühne, auf der salonfähig sein konnte, was auf nationalen Bildschirmen noch tabu war. In den 1970er-Jahren war der ESC insbesondere unter schwulen Männern in Nord- und Westeuropa beliebt. So sehr, dass «Eurovision-Fan» zu einem metonymischen Code für die eigene sexuelle Orientierung wurde. Allerdings feierte die queere Community damals den Anlass noch hinter verschlossenen Türen, in Subkulturen wie in privaten Partys, Schwulen­clubs und dem 1984 gegründeten Eurovision Fan Club, der viele schwule Mitglieder hatte.

Offiziell pflegte der ESC damals noch ein Image der Hochkultur, mit Liveorchester und Black-Tie-Dresscode für das Publikum, das den ESC in prestige­trächtigen Opern- oder Theater­häusern verfolgte.

Sein eigenes «Coming-out» hatte der Eurovision Song Contest 1997, als Páll Óskar mit «Minn hinsti dans» (mein letzter Tanz) für Island antrat. Zum ersten Mal trat mit ihm ein Künstler auf, der seine Queerness offen darstellte und somit leicht als schwuler Mann lesbar war. Im Jahr darauf normalisierte die israelische Künstlerin Dana International das Transsein.

Von da an wurde der ESC in der queeren Community zunehmend als Event gefeiert, der die Möglichkeit bot, sich dem Kitsch, Trash und Divaesken öffentlich hinzugeben. In einer Zeit, in der es fast keine queer­freundlichen Kultur­produkte gab, war der ESC ein Zufluchtsort. Für Fans konnte er sogar zu einem Moment der gelebten Utopie werden, in der für einmal beides möglich ist und gemeinsam gefeiert werden darf: Queerness und nationale Identität. Dass dies oft auf solch überspitzte Art und Weise geschieht, entlarvt wiederum die Absurdität des modernen National­staates selbst. Um es mit dem Publizisten Peter Rehberg zu sagen: Der ESC zelebriert «Nationalität als pop­kulturelles guilty pleasure». Das Pathos überlebt genau drei Minuten lang. Nur so lange mag man daran glauben, dass es so etwas wie unkomplizierten Affekt beim Thema der nationalen Zugehörigkeit gibt.

In der Tat stellt sich die Frage, wer gemeint ist, wenn der Song­contest seine «stolze Tradition, Vielfalt durch Musik zu feiern», betont, wer da mitgedacht und mit­repräsentiert wird und wer nicht. Für einen Kontinent, der von Migration geprägt und vom Kolonialismus gezeichnet ist, erscheint die visuelle Repräsentation auf der ESC-Bühne noch immer eher eintönig. Wenn People of Color mitspielen dürfen, dann oft aus Gründen der «strategischen Diversität». Der ESC steht für ein unkritisches europäisches Selbst­verständnis der friedlichen Koexistenz nach dem Zweiten Weltkrieg sowie für ein progressives Europa, das selbst­bewusst, post­migrantisch und kosmo­politisch sein will.

Genau deshalb sollen ethnisch diverse Künstlerinnen auftreten. Damit das Selbstbild nicht ins Wanken gerät, soll es dabei aber nicht zu unbequemen Diskussionen über inländischen Rassismus, die eigenen kolonialen Verstrickungen oder den Umgang mit Geflüchteten kommen. So wurde der portugiesische Sänger Salvador Sobral, der 2017 an einer ESC-Medien­konferenz mit einem T-Shirt mit der Aufschrift «S.O.S. Refugees» auftrat, von der EBU aufgefordert, das T-Shirt nicht mehr zu tragen.

Die Theater­wissenschaftlerin Katrin Sieg sieht insbesondere in der Hyper­sichtbarkeit schwarzer Künstler am ESC eine strategische Absicht. Gekoppelt mit US-amerikanischen Musikstilen wie Jazz oder Hip-Hop, entsteht dadurch die Möglichkeit, das europäische und nationale Selbst als fortschrittlich zu inszenieren, während Probleme wie Diskriminierung aufgrund der Herkunft nicht öffentlich verhandelt werden dürfen. Die Vertretung schwarzer Künstlerinnen am ESC ebnet auch nicht den Weg, um über strukturelle Diskriminierung anderer minorisierter Gruppen wie Roma oder Muslime zu diskutieren.

Dabei zeigt sich genau dieser Rassismus regelmässig, wenn Menschen aus Minderheiten eine Nation am ESC vertreten. Beispielsweise 2010, als Florin Salam es in die rumänische Vorauswahl schaffte: Es gab einen landes­weiten Aufruhr, dass ausgerechnet ein Roma das Land repräsentieren solle.

5. Russland und Israel

Nach der Invasion der Ukraine 2022 wurde Russland zum ersten Land, das direkt von der Veranstalterin EBU vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde: Anders als bei den Jugoslawien­kriegen wurde die Entscheidung nicht an die höhere Instanz – die Uno – ausgelagert. Das ist eine Zäsur für den offiziell unpolitischen Song­wettbewerb. Allerdings brauchte es nach dem russischen Gross­angriff zuerst Druck von öffentlichen Rundfunk­anstalten verschiedener Länder, bis die EBU beschloss, dass die Teilnahme Russlands «den Wettbewerb in Verruf bringen würde».

Nachdem die EBU die Mitgliedschaft der russischen öffentlichen Rundfunk­anstalten ausgesetzt hatte, traten diese komplett aus, sodass sich die Diskussion über eine zukünftige Zulassung Russlands seither erübrigt hat. Martin Österdahl, der Eurovision-Direktor in der EBU, sagte rückblickend, der Anlass sollte immer «für die grund­legenden und höchsten Werte der Demokratie eintreten», mit denen Russlands Gebaren offensichtlich im Widerspruch stand. Wie genau, blieb unausgesprochen.

Noch nie zuvor waren am ESC politische Botschaften so explizit und erlaubt gewesen wie in Verbindung mit der russischen Aggression gegen die Ukraine. Das Kalush Orchestra, das 2022 für die Ukraine antrat, rief am Ende des Auftritts zur Hilfe für das belagerte Asowstal-Werk in Mariupol auf. Schon im Vorfeld hatte die Musik­gruppe auf der Konzert­tournee Spenden für die Armee gesammelt, und sie verkaufte danach auch die gewonnene Trophäe, um den Erlös zu spenden. All das wurde von der EBU erlaubt, weil es sich hierbei nicht um Politik handle, sondern um «humanitäre Angelegen­heiten». Dem ukrainischen Präsidenten Selenski wurde 2023, als der ESC in Liverpool im Namen der Ukraine ausgetragen wurde, eine Ansprache zwar verwehrt. Aber der Showact zwischen den Wettbewerbs­beiträgen thematisierte offenkundig die Flucht und die Aufnahme von Ukrainerinnen in Grossbritannien.

Diese grosszügige Auslegung des «Unpolitischen» im Falle der Ukraine steht in grossem Gegensatz zum Umgang mit Israel.

Israel ist seit 1957 Mitglied der EBU und nimmt seit 1973 am ESC teil. Deswegen weigern sich mit Ausnahme Marokkos 1980 alle arabischen Staaten, mitzumachen (obwohl sie könnten), damit das nicht als Anerkennung Israels interpretiert wird. In der ESC-Forschung gilt Israel als bekanntes Beispiel dafür, wie Länder den Song­wettbewerb für kulturelle Diplomatie instrumentalisieren, um ihr Image und damit ihre soft power aufzupolieren.

Allerdings fällt der Gewinn der trans Frau Dana International 1998 noch nicht ganz in diese Kategorie. Zwar etablierte er Israel in der öffentlichen Wahrnehmung als queer-friendly. Aber im Land selbst waren die Reaktionen gemischt. So hatten sich Ultra­orthodoxe dagegen gewehrt, dass eine trans Frau Israel vertreten dürfe, während der Act von der lokalen LGBTQIA+-Gemeinschaft als Meilenstein auf dem Weg zu grösserer Akzeptanz gefeiert wurde.

Der Erfolg von Netta 2018 mit «Toy» hingegen machte die Sängerin zur Nationalheldin. Premier­minister Netanyahu eröffnete die Kabinetts­sitzung am Tag darauf nicht mit «boker tov» (guten Morgen), sondern mit «boker toy» und wurde danach gefilmt, wie er den für Netta typischen Chicken-Tanz andeutete. Die Regierung machte ihre Bemühungen, Jerusalem zum Austragungsort des nächsten ESC zu küren, zu einem Teil ihrer Kampagne für die internationale Anerkennung Jerusalems als Israels Hauptstadt. Letztlich entschied sich die EBU aber für Tel Aviv als Austragungsort.

Insgesamt diente der ESC der israelischen Regierung, um sich als progressiv und Europa zugehörig darzustellen und sich einerseits von Muslimen abzuheben und andererseits von den Besetzungen palästinensischer Gebiete sowie Menschen­rechts­verletzungen gegenüber Palästinenserinnen abzulenken.

In den vergangenen zwei Jahren hat die Bedeutung des ESC für Israel zugenommen, weshalb auch die Boykott­aufrufe, die es schon immer gab, lauter geworden sind. Dabei wird regelmässig darauf hingewiesen, dass Israel anders behandelt werde als Russland. Das stimmt, allerdings sind die Umstände auch nicht dieselben. Russland hat einen klassischen Aggressions­krieg vom Zaun gebrochen. Israel erlebte den traumatischen Angriff der radikal­islamistischen Hamas. Von diesem handelten denn auch die israelischen Lieder am ESC in den letzten zwei Jahren. Das diesjährige Lied wird sogar von einer Überlebenden des 7. Oktober 2023 vorgetragen.

Doch Israel reagierte auf den Hamas-Angriff mit massloser Gewalt und ist nun dem Vorwurf ausgesetzt, zahlreiche Normen des internationalen Völker­rechts verletzt zu haben. Der General­direktor des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, Pierre Krähenbühl, sagte vor wenigen Tagen: «Wenn das, was wir in Gaza beobachten – was der Inbegriff der Hölle ist –, die Zukunft der Kriegs­führung ist, dann stehen die Grund­lagen unserer Menschlichkeit auf dem Spiel.»

Darum haben über 70 ehemalige ESC-Künstler in einem offenen Brief den Ausschluss des israelischen öffentlichen Rundfunks Kan vom diesjährigen Wettbewerb verlangt. Aus der Schweiz hat Rykka aka Moon Löffler den Brief unterzeichnet, während Nemo sich in einem Interview mit der «Huffington Post» der Forderung der Unter­zeichnenden angeschlossen hat.

Problematischer als ein offener Brief ist es für die EBU, wenn Rundfunk­anstalten offiziell Kritik üben. Mittlerweile geschah dies in Slowenien, Spanien, Island und Irland. Während Slowenien einen Ausschluss forderte, verlangten die anderen zumindest eine Diskussion, weil der israelische Rundfunk politisch nicht mehr genug unabhängig sei. Dem hat die EBU nun stattgegeben. In welcher Form die Diskussion zu Israels Teilnahme stattfinden wird, ist noch unklar.

6. ESC in der Schweiz

Und nun findet die grösste Politshow Europas also in der Schweiz statt. Auffällig ist dabei zweierlei: erstens das Bemühen um Diversität und zweitens ein erfrischend unproblematisches Verhältnis zu Europa. Das Video, das den ESC in der Schweiz ankündigt, begrüsst die «Eurovision-Familie zurück», «am Ort, welchen wir unser Zuhause nennen und wo alles begann». Visuell wird das untermauert mit Alpen­landschaften und Jodeln einerseits, aber auch mit Techno und mit Menschen verschiedener ethnischer Abstammung. Dadurch soll signalisiert werden, dass das Land multi­kulturell und modern ist und gleichzeitig stolz auf seine Traditionen. Für einmal schafft es die Schweiz, im Herzen Europas zu sein und sich ohne Polemik zugehörig zu fühlen.

Die Basler Kandidatur wurde im Kantons­parlament mit 74 zu 8 Stimmen unterstützt, das EDU-Referendum mit klarer Zweidrittel­mehrheit abgelehnt. Sogar SVP-Bundesrat Albert Rösti liess sich dazu hinreissen, den ESC als eine «grosse Chance» zu bezeichnen und die Gegner einer «offenen Schweiz» als Ideologen zu kritisieren.

Im Wissen darum, dass der ESC mehr queere Fans als andere Events anzieht, hat Basel gleich­geschlechtliche Liebe nicht nur im eigenen Bewerbungs­video dargestellt. Es hat auch das umfangreichste Sicherheits­konzept gegen geschlechts­spezifische und homo- sowie transphobe Gewalt wie auch gegen Fremdenhass entwickelt, welches die Schweiz je gesehen hat.

Trotzdem mutet es merkwürdig an, wenn Hazel Brugger, Michelle Hunziker und Sandra Studer von der SRG angekündigt werden als Moderatorinnen, die «nicht nur die Vielfalt Europas feiern, sondern auch die Werte und den Geist der Schweiz auf die grosse Bühne bringen – ein Land, das für Offenheit, Integration und Gemeinschaft steht». Denn es bleiben weisse Frauen. In einem Land, in dem mehr als 40 Prozent der Bevölkerung eine Migrations­geschichte haben, dürften sich dabei viele einmal mehr fühlen, als würden sie übersehen.


Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 15.05.2025 in der Republik erstveröffentlicht.

Zur Autorin
Leandra Bias ist promovierte Politologin und forscht und lehrt an der Universität Bern zu Feminismus und Autoritarismus mit Fokus Osteuropa. Anlässlich des ESC in der Schweiz hat sie eigens ein Master­seminar zum Thema «The Politics of Eurovision» entwickelt, das sie am Institut für Politik­wissenschaft (IPW) durchführt. Drei ihrer Studentinnen, Arya Akyildiz, Eva Christemov und Yannis Senn, haben zur Analyse der Schweizer Austragung in diesem Text beigetragen.

Abbildung: Heute.at

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