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Welche Einsichten aus Andreas Tunger-Zanettis «Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz» folgen

Nadia Baghdadi
19th Februar 2021

Andreas Tunger-Zanetti und seine Mitautorinnen zeigen in ihrer Untersuchung auf, dass Nikab-Trägerinnen zwar im Fokus der aktuellen Debatte stehen, es aber dabei nur am Rande um die Frauen selbst geht. Im Kern scheint die Verhüllung weniger eine Pro-und Kontra-Frage zu sein, vielmehr ist sie Gegenstand des Ringens um Pluralität und hinterfragt den Stellenwert von Religion in westlichen Gesellschaften.

Obwohl scheinbar neutral formuliert, wird bei der Betrachtung des Initiativtextes, der Debatten in den nationalen Räten sowie der medialen Berichterstattung schnell klar, dass die am 7. März zur Abstimmung kommende Verhüllungs-Initiative weniger auf Demonstrierende mit verdecktem Gesicht, als auf muslimische Frauen mit Gesichtsschleier zielt. Tunger-Zanetti spricht aus diesem Grund von einem Burka-Diskurs.

Zum einen bringt die Analyse zutage, dass Medien zwar sowohl Pro- als auch Kontra-Stimmen und -Argumente einbeziehen. Die Pro-Stimmen, darunter auch muslimische, erhalten jedoch mehr Platz. Muslimische Stimmen gegen ein Verbot ebenso wie Erfahrungsberichte von Nikab-Trägerinnen fehlen weitgehend. Grundsätzlich wird in der medialen Berichterstattung über und nicht mit verhüllten Frauen gesprochen – und dies unabhängig von der Position. Innensichten kommen auch nicht mittels wissenschaftlichen Wissens über Nikab-Trägerinnen vor.

Hinzu kommt - und dies ist m.E. noch stärker zu betonen - dass verhüllte Frauen in einem doppelten Sinne zum Objekt gemacht und entmenschlicht werden. Das Objekt Frauenkörper ist Gegenstand und Austragungsort der Verhandlungen: gedeutet wird dessen Verhüllung (v.a. als Symbol der Unterdrückung und des Extremismus) und gestritten wird über die Legitimität dieser Körperpraxis. Verhüllte Frauen selbst können dabei nicht als Subjekte mit eigenen Deutungen, Bedürfnissen und Rechten an diesen Verhandlungen über ihren Körper teilnehmen. Sie bleiben ohne Stimme und werden durch die passive Rolle in einem weiteren Sinne zum Objekt.

Doch welches Bild zeichnet die Forschung über Nikab-Trägerinnen? So viel steht fest: es ist ein anderes als die Burka-Diskurse suggerieren.

Verhüllung als selbstbestimmter Akt

Die Frauen sind mehrheitlich in westlichen Ländern aufgewachsen, es sind demnach keine fremden Migrantinnen, die den Schleier aus ihren Herkunftsländern mitgebracht haben. Es handelt sich in der Regel um jüngere Frauen mit durchschnittlich guter bis sehr guter Bildung.

Die Hälfte der Frauen hat ihre/die Religion erst im Laufe der Jugendjahre entdeckt. Das Schleiertragen stellen sie als selbstbestimmten Akt der persönlichen Frömmigkeit dar, meist kombiniert mit der Ablehnung des üblichen Umgangs zwischen den Geschlechtern sowie der Ablehnung der gesellschaftlichen Überbewertung des äusseren Erscheinungsbildes von Frauen. Das Schutzgefühl, das die Nikab-Trägerinnen im Schleier suchen und welches in der Antike den historischen Ausführungen Tunger-Zanettis folgend offenbar gebräuchlich war, ist im kollektiven Sprachgebrauch jedoch verschwunden.

Interessanterweise geht dies aber nicht zwingend mit einer starken religiösen Praxis im privaten Bereich einher. Weitere Untersuchungen wären angezeigt, um wissenschaftlich genauer eruieren zu können, auf welche religiösen Autoritäten sich Nikab-Trägerinnen beziehen und wie sie konkret praktizieren. Dies bleibt in der Interviewanalyse letztlich nicht geklärt.

Die Entscheidung, sich zu verhüllen, erfolgt häufig entgegen den Ratschlägen und dem Willen des näheren Umfeldes. Ein solcher Akt individueller Emanzipation ist laut Tunger-Zanetti jedoch nur in liberalen Gesellschaften möglich. Aus diesem Grund lässt sich die Praxis des Schleiertragens in der Schweiz auch nicht mit der Praxis beispielsweise im Iran vergleichen, denn die Bedeutung ist immer kontextspezifisch und individuell.

Wer muss eigentlich vor wem oder was geschützt werden?

Das wichtigste vom Egerkinger Initiativ-Komitee hervorgebrachte Argument zum Verbot der Verhüllung ist die (vermutete) sich ausbreitende Islamisierung der Schweiz. Dabei warnt einer der Initianten vor einem nicht näher beschriebenen religiösen Extremismus, der die Schweiz und ihre Werte bedrohe: «die Vollverschleierung ist wie das Minarett ein Symbol für den extremen Islam, der hier nichts zu suchen hat» (Tunger-Zanetti 2021: 76). Als Ursache des Problems gilt weniger die Verhüllung an sich, sondern deren Ursprung im «extremen Islam».

Tunger-Zanettis Befunde sowie Forschungen in anderen westeuropäischen Ländern stellen diesen Zusammenhang allerdings in Frage und zeigen, dass Nikab-Trägerinnen mehrheitlich locker oder gar nicht mit salafistisch orientierten Organisationen verbunden sind. Ein Hinweis für die fehlende Gruppenzugehörigkeit ist zum Beispiel der, dass sich die Nikab-Trägerinnen in der Schweiz untereinander kaum zu kennen scheinen. Die Recherchen hierzulande lassen auf eine Zahl von 20-30 verhüllte Frauen schliessen, eine Ausbreitung des Phänomens in den letzten Jahren konnte nicht belegt werden. Vor diesem Hintergrund kann wohl auch nicht von einer wachsenden salafistischen Bedrohung durch Nikab-Trägerinnen ausgegangen werden, vor der die Schweizer Bevölkerung zu schützen wäre. Folglich sprechen Gegnerinnen des Verbots von Symbolpolitik oder einer Scheindebatte.

Weiter wird die Vollverschleierung gemäss Tunger-Zanettis Diskursanalyse als problematisches Symbol und Hinweis für die Unterdrückung muslimischer Frauen vorgebracht. Ein Verbot wird in diesem Diskursstrang mit der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Schweiz begründet. Es soll die Nikab-Trägerinnen vor ihrer eigenen Kultur resp. Religion und vor ihren Unterdrückern («dem islamischen Patriarchat») schützen. Auch linke und feministische Stimmen, selbst wenn sie gegen ein Verbot sind, unterstützen zumindest implizit diese Deutung. Sie verwenden zum Beispiel Begriffe wie «Betroffene», die suggerieren, dass die Nikab-Trägerinnen nicht aktiv selber handeln, sondern dass über sie verfügt wird. Kaum je wird bedacht und nachgeforscht, ob ein Schleier auch anderes symbolisieren könnte als Unterdrückung. Wie bereits weiter oben angemerkt, werden Innensichten und wissenschaftliches Wissen nicht in die Symboldeutungsarbeit einbezogen.

Dieses zweite vorherrschende Problemdeutungsmuster lässt sich mit dem von Janine Dahinden und Stefan Manser-Egli (2021) für die Analyse der Burka-Diskurse verwendete Konzept gendernativism besser verstehen. Das Konzept beschreibt das bewusste resp. unbewusste Muster, dass sich Einheimische als gleichgestellter, selbstbestimmter, freier, liberaler und aufgeklärter wahrnehmen als die nicht-einheimischen «Anderen», die das genaue Gegenteil verkörpern.

Entsprechend selten gehen auch die bei Tunger-Zanetti beschriebenen Diskursteilnehmenden davon aus, dass der Gesichtsschleier ein Ausdruck von Freiheit sein könnte resp. ein Verbot die Frauen in ihren Freiheiten einschränken könnte. Ein gendernativist bias scheint zu verhindern, dass «fremde» Nikab-Trägerinnen als Subjekte mit individuellen Freiheiten gesehen werden können und befördert die Annahme ihres Rettungsbedarfs. Tunger-Zanetti kritisiert mit Bezug auf Lila Abu-Lughod diesen «unhinterfragten besserwisserischen Überlegenheitsdünkel des Rettungsmotivs, verbunden mit dem Desinteresse, genauer hinzuschauen und zunächst erfahren zu wollen, welche Frauen wo und unter welchen Umständen einen Schleier tragen» (2021: 41).

Ringen um Pluralität und Identität über Religionsthemen

Die beiden Problemdiskurse «Unterdrückung von Frauen» und «Islamisierung» / «extremer Islam» drehen sich im Kern um Schutz- und Kontrollfragen. Die Absicht, Nikab-Trägerinnen zu schützen und mittels Verbot zu kontrollieren, stellt sich nicht nur vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse als fraglich heraus. Zweifeln an den Schutzabsichten lässt auch der Umstand, dass die von Schleierträgerinnen rapportierten verbalen und vereinzelt auch physischen Angriffe im öffentlichen Raum von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend unbeachtet bleiben. Diesbezüglich bleiben Schutzdiskussionen aus.

Ein Schutzbedürfnis besteht denn wohl auch vorrangig gegenüber der Schweizer Kultur resp. deren – teilweise idealisierten – Werten. Das Eigene, inklusiv der Frage nach der eigenen religiösen Identität, lässt sich, so die These des Buches, leichter durch Abgrenzung vom «Anderen» bestimmen. In Tunger-Zanettis (2021: 109) Worten «verhandeln die Akteure im Grund nicht ein bestimmtes Kleidungsstück, sondern die eigene Kultur und Identität, Gehalt und Grenzen der Freiheit und den Umgang in einer Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen». Vergleichbar stellt Naika Foroutan (2019: 15) fest, dass die europäischen Gesellschaften ihre nationalen Identitäten in der Auseinandersetzung mit Eingewanderten und speziell den als die «Anderen» konstruierten Muslimen schärfen. Im Ringen um Pluralität eröffnen sich althergebrachte und neue Allianzen sowie Spaltungen durch westliche Gesellschaften. In den letzten Jahren wandte sich die wissenschaftliche Forschung diesen Fragen im Rahmen von sogenannten postmigrantischen Analysen zu. Diese verdienen auch in der Schweiz mehr Beachtung. Zu einer solchen Perspektive gehört beispielsweise die Frage, welche Auswirkungen die Burka-Diskurse auf die breite muslimische Bevölkerung haben. Fassen sie diese als generelle Ablehnung auf, wie Tunger-Zanetti und die Autorin dieser Zeilen (vgl. Baghdadi 2021) vermuten? Stoff für weitere Debatten und Forschung bleibt ausreichend vorhanden!

Theoretischer Hintergrund
Um die Hintergründe des Burka-Diskurses besser verstehen zu können, sind die Konzepte der Intellektuellen und Aktivistin Kübra Gümüşay (2020: 53) hilfreich. Sie unterscheidet in ihrem «Museum der Sprache» zwei Kategorien von Menschen. Erstens «die Unbenannten»: ihre Existenz wird nicht hinterfragt, sie gelten als Norm, als Massstab und sind aus diesem Grund «unbenannt». Bemerkenswert an der Burka-Debatte ist, dass nicht nur Mitglieder der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft als Unbenannte auftreten, auch Musliminnen können mit ihrer Pro-Position Normalität verkörpern und Gehör finden. Die zweite Kategorie von Menschen weicht von dieser Norm ab, sie werden als fremd oder irritierend angeschaut – in unserem Beispiel handelt es sich um die Nikab-Trägerinnen. Deren Erfahrungen und Merkmale werden durch die Unbenannten beschrieben, sie können sich nicht selbst benennen. Die Deutungshoheit der Unbenannten und ihre Beanspruchung der Norm erklären, weshalb die als fremd angeschauten Perspektiven absichtlich oder nicht vergessen gehen. Durch ihre Benennung werden die «Benannten» nicht nur zu marginalisierten Fremden, sondern zum Objekt, ähnlich einem Ausstellungsstück im Museum, und damit entmenschlicht. Auf dieser Grundlage kann es folglich nicht ausreichen, die Benannten – hier die Nikab-Trägerinnen – zu befragen und ihnen eine Stimme zu geben. Freies Sprechen gelingt gemäss Kübra Gümüşay erst unter der Voraussetzung, dass Menschlichkeit und Existenzberechtigung, also Subjektstatus, nicht zur Disposition gestellt wird. Ansonsten seien die Nikab-Trägerinnen lediglich gezwungen, sich im Rahmen ihrer Benennung zu erklären, denn die Fragen seien immer so gestellt, dass jede Antwort die Deutung der Unbenannten bestätigen müsse.


Referenzen:

  • Baghdadi, Nadia (2021): Soziale Fragen in der Migrationsgesellschaft. Eine Annäherung über soziales Leiden. In: Johanna Brandstetter, Kerstin Bronner, Stefan Köngeter, Andreas Laib, Axel Pohl und Steve Stiehler (Hg.): Soziale Frage(n) der Zukunft. Berlin: Frank & Timme, S. 179–200.
  • Dahinden, Janine und Manser-Egli, Stefan (03.02.2021): Gendernativism in the (Il)Liberal State: The Burqa Ban in Switzerland. Blog nccr – on the move: Gendernativism: Burqa Ban | Blog nccr – on the move (nccr-onthemove.ch)
  • Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: Transcript Verlag.
  • Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein. Berlin: Hanser Verlag.
  • Tunger-Zanetti, Andreas. 2021. Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz. Hier und Jetzt. Verlag für Kultur und Geschichte.

Bild: pixabay.com