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Kuppler unter der Kuppel? Die Scharnierfunktion von (ehemaligen) kantonalen Regierungsmitgliedern im Ständerat

Rahel Freiburghaus
2nd Oktober 2020

Im Ständerat sind die Kantonsregierungen nicht direkt vertreten. Amtierende oder ehemalige kantonale Exekutivmitglieder, denen der Sprung ins Stöckli gelingt, sollen daher eine wichtige Scharnierfunktion erfüllen. Doch wie verbreitet ist solche «personengetragene föderale Interessenvertretung» überhaupt – und verhalten sich die in die Kantonskammer gewählten (alt) Regierungsrätinnen und (alt) Regierungsräte auch wirklich kantonsfreundlicher?

Ständeratsbuch

Steigen amtierende Mitglieder einer Kantonsregierung ins Rennen um einen Ständeratssitz, spielen sie ihre Erfahrung gerne als Trumpf. Der Ständerat sei schliesslich «die Kammer der Kantone», erinnerte der damalige Schwyzer Baudirektor Othmar Reichmuth (CVP/SZ) im Ständeratswahlkampf 2019. Als Regierungsrat habe er «den Vorteil […], [zu wissen], wie der Kanton funktioniert»[i]. Ähnlich klingt es bei alt Regierungsrätinnen und alt Regierungsräten, die es nach ihrem Rücktritt gen Bundesbern zieht.

Jene Wahlkampfstrategien haben System: Sie zielen darauf ab, den Einfluss der Kantonsregierungen auf die Beratungen der eidgenössischen Räte sicherzustellen. Anders im deutschen Bundesrat sind die Kantone als konstitutive Träger des schweizerischen Bundesstaats in der Zweiten Kammer nämlich nicht direkt repräsentiert. Vielmehr wird die Kantonsvertretung seit 1977 überall in direkter Volkswahl bestimmt (Vatter et al. 2017; Benz 2020). Ständerätinnen und Ständeräte sind ihrem Selbstbild nach somit in erster Linie der kantonalen Wahlbevölkerung verpflichtet (Helfer und Varone 2019). Richtschnur ihres Abstimmungsverhaltens ist immer öfters das Parteibuch, das an die Stelle der heimischen Behördenposition tritt (Bütikofer 2020; Freiburghaus et al. 2020). Amtierende oder ehemalige kantonale Exekutivmitglieder, die sich um einen Sitz im «Stöckli» bewerben, versuchen nun, die fehlende institutionelle Verbindung zwischen den beiden Staatsebenen durch personelle Ebenenverflechtung wettzumachen. In anderen Worten handelt es sich beim Phänomen der «personengetragenen föderalen Interessenvertretung» um einen Versuch der Kantonsregierungen, ihren Zugriff auf die Bundespolitik trotz der Entkopplung von «ihren» Ständeratsmitgliedern zu wahren. Dabei setzen sie auf die «Scharnierfunktion» derjenigen Standesvertretenden, die kantonale Exekutiverfahrung vorweisen.

Von Personen getragen statt institutionell gesichert: Wie die Kantonsregierungen ihre Interessen im Ständerat vertreten

Konzeptionell lassen sich zwei Wege der personengetragenen föderalen Interessenvertretung unterscheiden:

  • Nehmen (i.) alt Regierungsrätinnen bzw. alt Regierungsräte Einsitz in der Zweiten Kammer, lassen sich territoriale Anliegen über frühere kantonale Exekutivmitglieder in den zentralstaatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einbringen. Dabei ist es die eigene Vergangenheit – d. h. die partikulare elitebiografische Prägung –, aufgrund derer sich ein Ständeratsmitglied «nur schon deshalb durchaus [mit der kantonalen Politik] verbunden [fühlt]» (Rühli 2012: 56). Vonnöten sind mehr oder weniger institutionalisierte Kontaktgefässe und/oder enge persönliche Bande zwischen ehemaligen und amtierenden kantonalen Regierungsmitgliedern, um den Informationsfluss mittelbar sicherzustellen.[ii]
  • Wird das Ständerats- und Kantonsexekutivamt hingegen in Personalunion ausgeübt, liegt (ii.) Ämterkumulation vor (Arens und Freiburghaus 2019; Freiburghaus et al. 2020). Durch die berufliche Alltagserfahrung wird die Doppelmandatsträgerin bzw. der Doppelmandatsträger «an der Basis» für die kantonalen Befindlichkeiten sensibilisiert; der Austausch über die Staatsebenen hinweg ist unmittelbar.
Der Ständerat: Kammer ehemaliger, nicht aber amtierender kantonaler Regierungsmitglieder?

Wie Abbildung 1 zeigt, entwickelten sich die beiden Wege personengetragener föderaler Interessenvertretung zwischen 1985 und 2020 in eine entgegengesetzte Richtung. Der Anteil ehemaliger kantonaler Regierungsmitglieder im Ständerat weist einen positiven Zeittrend auf. Seit dem Jahrtausendwechsel bekleideten stets mehr als 30 Prozent aller Ständerätinnen und Ständeräte zuvor ein kantonales Exekutivamt. Die Befürchtung von Nationalrätin Regine Aeppli (SP/ZH; 1995–2003), die Zweite Kammer drohe zu einer «Abstellkammer von alt Regierungsräten [zu] verkommen»[iii], hat durchaus einen empirischen Kern.

Demgegenüber steht der Niedergang an Doppelmandatsträgerinnen und Doppelmandatsträger. Während Frenkel (1985: 5) noch für die frühen 1980er-Jahren feststellte, dass «Kumulationen relativ häufig [seien]», verringerte sich deren Anteil seither sukzessive. Heute kann gar von einer völligen Bedeutungslosigkeit die Rede sein: Jüngst häuften sich die Parlamentsjahre, in denen überhaupt keine Ständerätin bzw. kein Ständerat parallel ein kantonales Exekutivamt wahrnimmt.[iv]

In Ergänzung zu den rechtlich ohnehin eng gesteckten Grenzen schmälert auch die voranschreitende individuelle Professionalisierung die Möglichkeiten, auf diese Weise territoriale Anliegen in den bundespolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einzuspeisen. Doch inwiefern setzen sich «kantonsregierungserprobte» Ständeratsmitglieder auch wirklich für eine wirkmächtige Vertretung kantonaler Anliegen ein?

Abbildung 1: Anteil ehemaliger und amtierender kantonaler Regierungsmitglieder im Ständerat, 1985–2020 (in Prozent)

Anmerkung: N = 1’656 Beobachtungen (Ständeratsmitglieder pro Jahr). Lesebeispiel: Im Parlamentsjahr 2020 bekleideten 32.6 Prozent aller Ständeratsmitglieder zuvor ein kantonales Regierungsamt.

Quelle (Daten): Arens und Freiburghaus (2019) für den Anteil amtierender kantonaler Regierungsmitglieder; eigene Erhebung für den Anteil ehemaliger kantonaler Regierungsmitglieder (vgl. Infokasten).

Auswirkungen der personengetragenen föderalen Interessenvertretung im Ständerat: Für den Kanton Gesetze anstossen…

Als «stärkstes Instrument der Legislative» erlaubt es die parlamentarische Initiative jedwedem Ständeratsmitglied, kantonsfreundliche Gesetze anzustossen. Explizite Verweise auf die Kantone und/oder den «eigenen» Wahlkanton werden so zum Test für die kantonsseitig erhofften Wirkungen der personengetragenen föderalen Interessenvertretung. Die Befunde sprechen jedoch gegen eine ungetrübt «kantophile» Gesetzesinitiativtätigkeit der Ständerätinnen und Ständeräte generell.[v] Nur in 4.8 Prozent aller 83 zwischen 2008 und 2019 eingereichten parlamentarischen Initiativen referenziert die Initiantin bzw. der Initiant explizit auf den Kanton, den sie oder er vertritt. Das deklinierte Wort «[K|k]anton*» sowie dessen adjektivischen Abwandlungen finden in nur gut jeder dritten parlamentarischen Initiative überhaupt Erwähnung (37.3 Prozent). Interessanterweise verweisen alt Regierungsrätinnen und alt Regierungsräte dabei fast so häufig auf «[K|k]anton*» wie ihre Ratskolleginnen und Ratskollegen ohne kantonale Regierungserfahrung, obwohl erstere im «Stöckli» eine Minderheit bilden. Jene Gruppe vermag die infrage gestellte föderale Interessenwahrungsfunktion des Ständerats auf tiefem Niveau also immerhin etwas «aufzufangen».

…und/oder in ständerätlichen Debatten für den Kanton reden?

Inwiefern amtierende oder ehemalige kantonale Regierungsmitglieder am ständerätlichen Rednerpult für die Sache der Kantone eintreten, illustriert Abbildung 2. Mit Ausnahme der Parlamentsjahre 2015 und 2016 nannten ehemalige kantonale Regierungsmitglieder «ihren» Kanton stets häufiger, als es deren zahlenmässige Deputation in der kleinen Kammer erwarten liesse. Einen besonders flammenden Fürsprecher wusste die Genfer Kantonsexekutive in den ständerätlichen Reihen: Alt Staatsrat und Ständerat Robert Cramer (GPS/GE; 2007–2019) verwies pro Parlamentsjahr bis zu 48 Mal auf «sein» Genf – absoluter Spitzenwert. Dass alt Regierungsrätinnen und alt Regierungsräte überdurchschnittlich häufig von «ihrem» Kanton sprechen und die durch ihre Exekutivtätigkeit gewonnenen Erfahrungen heranziehen, um ihre Voten im Ständeratsplenum zu veranschaulichen, spricht für konkrete Auswirkungen der personengetragenen föderalen Interessenvertretung.

Abbildung 2: Erwähnung des «eigenen» Kantons in ständerätlichen Debatten im Vergleich zum Anteil ehemaliger und amtierender kantonaler Regierungsmitglieder, 2008–2019 (in Prozent)

Anmerkung: N = 3’995 Erwähnungen des «eigenen» Kantons (deutsch, französisch, italienisch).

Fazit: Warum die stärkere «Scharnierfunktion» eines «Kantonsregierungsrates» die neue Ständeratsrolle als «‹chambre de coalition›» gefährden würde

Zusammengefasst greift das «Scharnier» amtierender und ehemaliger kantonaler Regierungsmitglieder nur bedingt als Kompensation für die fehlende institutionelle Verbindung zwischen dem Ständerat und den gliedstaatlichen Exekutiven. Zum einen verunmöglichen rechtliche Unvereinbarkeitsbestimmungen und der hohe Zeitaufwand Ämterkumulation heutzutage. Zum anderen geht die starke Präsenz ehemaliger kantonaler Regierungsmitglieder im «Stöckli» trotz anderslautender Wahlversprechen nur teilweise mit kantonsfreundlichem Verhalten einher. Reformanstösse, die auf eine Stärkung ebendieser «Scharnierfunktion» zielen (bspw. der Vorschlag des Bündner Regierungsrates Christian Rathgeb, FDP/GR; 2012–, dass der Ständerat ausschliesslich aus amtierenden Kantonsregierungsmitglieder bestellt werden sollte)[vi], sollten die Stellung der Zweiten Kammer im Institutionengefüge jedoch nicht ausser Acht lassen. Dem Ständerat kommt in seiner heutigen Konstruktion nämlich immer mehr die Rolle einer «‹chambre de coalition›» zu, dem es selbst in Zeiten starker Polarisierung immer wieder gelingt, mehrheitsfähige Lösungen auszuarbeiten (Mueller et al. 2020). Legen amtierende kantonale Regierungsmitglieder auf nationaler Ebene hingegen eine strikt territoriale Optik an den Tag, ginge dies auf Kosten von ebendiesem Kompromissfindungspotenzial des Ständerats.

Infokasten: Datengrundlage
Die deskriptive Bestandsaufnahme zum Ausmass der personengetragenen föderalen Interessenvertretung beruht auf dem Paneldatensatz von Arens und Freiburghaus (2019) zur Ämterkumulation in der Bundesversammlung (1985–2018/19), der vorliegend mithilfe der «Base de données des élites suisses au XXe s.»  um Daten zur früheren kantonalen Regierungstätigkeit der Ständerätinnen und Ständeräte erweitert wurde. Untersuchungseinheiten sind die Mitglieder des schweizerischen Ständerats pro Jahr (N = 1’656 Beobachtungen). Die Daten zu den im Ständerat eingereichten parlamentarischen Initiativen (2008–2019) beziehen sich auf die offizielle Geschäftsdatenbank «Curia Vista»  (N = 83). Die Auswertung, wie häufig ein ehemaliges oder amtierendes kantonales Regierungsmitglied in seinen Voten vor dem Ständeratsplenum auf seinen «eigenen» Kanton verweist, fusst auf dem R Package «swissparl»  von David Zumbach (GRÜNENFELDER ZUMBACH GmbH) (N = 3’995 Erwähnungen).


Referenz

Freiburghaus, Rahel (2020). Kuppler unter der Kuppel? Die Scharnierfunktion (ehemaliger) kantonaler Regierungsmitglieder im Ständerat. S. 147–80. In Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz, hrsg. v. Sean Mueller und Adrian Vatter. Basel: NZZ Libro.

Literaturverzeichnis
  • Arens, Alexander und Rahel Freiburghaus (2019). Durch Verdoppeln einbeziehen: Ämterkumulation in der Schweiz. S. 143–69. In Konkordanz im Parlament. Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz, hrsg. v. Marc Bühlmann, Anja Heidelberger und Hans-Peter Schaub. Zürich: NZZ Libro.
  • Benz, Arthur (2020). Lernen vom Nachbarn? Der Schweizer Ständerat und der deutsche Bundesrat im Vergleich. S. 203–27. In Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz, hrsg. v. Sean Mueller und Adrian Vatter. Basel: NZZ Libro.
  • Bütikofer, Sarah (2020). Zwischen Partei und Kanton: von den Besonderheiten des Ständerats und seiner Mitglieder. S. 93–118. In Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz, hrsg. v. Sean Mueller und Adrian Vatter. Basel: NZZ Libro.
  • ch Stiftung (2017). Monitoringbericht Föderalismus 2014–2016. Bern: Konferenz der Kantonsregierungen.
  • Freiburghaus, Rahel, Alexander Arens und Sean Mueller (2020). With or Against their Region? Multiple-Mandate Holders in the Swiss Parliament, 1985–2018. Local Government Studies (im Erscheinen).
  • Frenkel, Max (1985). Der Föderalismus in der Schweiz: Entwicklung und Tendenzen. Solothurn: Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit.
  • Mastias, Jean und Jean Grangé (1987). Les secondes chambres du Parlement en Europe occidentale. Paris: Economia.
  • Mueller, Sean, Sereina Dick und Rahel Freiburghaus (2020). Ständerat, stärkerer Rat? Die Gesetzgebungsmacht der Zweiten Kammer im Vergleich zu National- und Bundesrat. S. 119–45. In Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz, hrsg. v. Sean Mueller und Adrian Vatter. Basel: NZZ Libro.
  • Neidhart, Leonhard (1970). Reform des Bundesstaates. Analysen und Thesen. Bern: Francke.
  • Rühli, Lukas (2012). Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität. Zürich: Avenir Suisse.
  • Varone, Frédéric und Luzia Helfer (2019). Bericht der REP Befragung 2018. Universität Genf. https://www.unige.ch/rep/application/files/5115/6161/7476/Bericht_REP_-_National-und_Standerat.pdf (Zugriff: 5.9.2020).
  • Vatter, Adrian, Rahel Freiburghaus und Ladina Triaca (2017). Deutsches Bundesrats- vs. Schweizer Senatsmodell im Lichte sich wandelnder Parteiensysteme: Repräsentation und Legitimität Zweiter Kammern im Vergleich. Zeitschrift für Parlamentsfragen 48(4): 741–63.
  • Wiesli, Reto und Wolf Linder (2000). Repräsentation, Artikulation und Durchsetzung kantonaler Interessen in National- und Ständerat. Bern: Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern.

[i] Bote der Urschweiz, 6.11.2019, S. 6–7.

[ii] Eigentliche Weisungen, wie die Ständerätinnen und Ständeräte zu stimmen haben, dürfen die kantonalen Regierungen aufgrund des Instruktionsverbotes in Art. 161 Abs. 1 BV jedoch nicht erteilen.

[iii] NZZ, 31.3.1998, S. 8

[iv] Dass der Anteil an Doppelmandatsträgerinnen und Doppelmandatsträgern im direkt auf ein eidgenössisches Wahljahr folgenden Jahr auf äusserst tiefem Niveau jeweils nach oben ausschlägt, ist dem Phänomen der «unfreiwilligen Ämterkumulation» geschuldet. Zu Beginn oder zum Ende einer nationalen Amtszeit befinden sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier oft in einer Art «Übergangsphase» (Arens und Freiburghaus 2019: 156 f.). Obwohl nicht willentlich ämterkumulierend, kann das vorangehende Amt noch nicht aufgegeben werden; beispielsweise aufgrund rechtlicher Übergangsbestimmungen, bis eine Ersatzwahl veranstaltet werden kann.

[v] Dass der Ständerat seiner Gestaltungsfunktion der föderalen Interessenwahrung nur bedingt oder überhaupt nicht nachkommt, bestätigen auch ältere empirische Studien (u. a. Neidhart 1970; Mastias und Grangé 1987; Wiesli und Linder 2000; ch Stiftung 2017).

[vi] Die Südostschweiz, 5.8.2010, S. 3.

Bild: Manuel Stettler (rathaus.sites.be.ch)