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Wahlberechtigte, wir haben ein Problem!

Michael Strebel
30th März 2020

Unermüdlich haben in den letzten Wochen die Kandidierenden in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Schwyz für einen Sitz im Kantons- oder Regierungsrat auf allen (Sende-)Plätzen gekämpft – in den frühen Morgenstunden an Bahnhöfen, wetterfest an Standaktionen oder an abendlichen Podiumsdiskussionen. Dieser Einsatz für die Demokratie verdient Anerkennung. Doch nur eine Minderheit der Stimmberechtigten gingen an die Urne.

Die niedrige Wahlbeteiligung von 32,7 Prozent im Kanton St. Gallen, 32,6 Prozent im Kanton Thurgau oder 35,8 Prozent im Kanton Schwyz kann nicht auf das mangelnde Engagement der Kandidierenden oder ihrer vielen Helferinnen und Helfer zurückgeführt werden. Sie entspricht vielmehr einem langfristigen Trend (siehe Abbildung 1) und reiht sich schweizweit in aktuelle Befunde ein - und zwar auf allen drei Staatsebenen.

Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei den kantonalen Parlamentswahlen (1972-2020), St. Gallen, Thurgau und Schwyz

Datenquelle: BfS.

 

Die Wahlbeteiligung liegt nirgendwo über fünfzig Prozent

Mit Ausnahme von Moutier (69 Prozent), betrug die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen in den statistischen Städten der Schweiz während der letzten anderthalb Jahren nie mehr als 44,8 Prozent (Wahl des grossen Gemeinderates der Stadt Zug). Seit dem 1. August 2018 hat sich durchschnittlich nur rund jede*r Dritte*r an der Wahl des Stadtparlaments beteiligt. Die kommunalen Parlamente und Regierungen in den Zürcher Gemeinden wurden im Frühling 2018 ebenfalls lediglich durch einen Drittel, teils sogar nur durch einen Fünftel der Stimmberechtigten gewählt.

Ähnliches können wir im nationalen Kontext beobachten. Im Kanton Genf betrug die Beteiligung bei den Nationalratswahlen 38 Prozent. Lediglich in fünf Kantonen lag sie über fünfzig Prozent (OW, NW, VS, ZG und SH). Sogar in Schaffhausen mit seiner Stimmpflicht – wer diese ohne Entschuldigung nicht erfüllt, wird mit 6 Franken gebüsst – nahmen nur knapp zwei Drittel der Stimmberechtigten ihr Recht wahr (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen 2019

Datenquelle: BfS.

Gründe für die tiefe Teilnahme

Die Negativtrendliste liesse sich weiterführen. Die Wahlforschung führt unterschiedliche Gründe für die Nichtbeteiligung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auf. Nur eine Minderheit der Nichtwählenden dürfte den Wahlen aus mangelnder Akzeptanz gegenüber den politischen Institutionen fernbleiben. Politische Analysten weisen denn auch darauf hin, dass die Bürgerinnen und Bürger bewusst darüber entscheiden, an welcher Wahl oder Abstimmung sie sich beteiligen oder nicht.

Somit könnten wir beruhigt zur Tagesordnung übergehen. Doch die Analyse der «nackten» Zahlen der vergangenen Wahlsonntage erweckt dennoch ein ungutes Gefühl. Der bestgewählte Regierungsrat im Kanton St. Gallen wurde, auf die gesamte Stimmbevölkerung gerechnet, von knapp 22 Prozent gewählt (siehe Abbildung 3). Das absolute Mehr lag nur bei 17 Prozent. Im Kanton Schwyz genügten sogar nur 11,9 Prozent der Stimmen der gesamten Stimmbevölkerung für die Wahl in die Kantonsregierung.

Haben wir ein Legitimationsproblem?

Diese Rechnung kann auch für die Parteien durchgespielt werden und führt letztlich zu einem bedeutenden Punkt: Wie steht es um die Legitimation von Parlament und Regierung, wenn sich lediglich etwas mehr als ein Drittel an Wahlen beteiligt?

Abbildung 3: Regierungsratswahlen 2020, St. Gallen, Uri, Thurgau und Schwyz

Rot Line: absolutes Mehr. Datenquelle: Kantone SG, UR, TG und SZ.

«Wahlen sind nicht so wichtig, da Bürgerinnen und Bürger bei Sachfragen mitentscheiden können», wird oft gesagt. Es ist jedoch eine lückenhafte Vorstellung, durch Beteiligung an Abstimmungen zu einem späteren Zeitpunkt in das politische Geschehen eingreifen zu können. Nur die wenigsten Vorlagen werden an der Abstimmungsurne entschieden. Auch in der Schweiz werden Geschäfte in der Regel nur durch das Parlament und/oder die Regierung verabschiedet, also von Behörden, die von der Mehrheit der tatsächlichen Wahlberechtigten nicht gewählt wurden.

Zudem ist eine Einflussnahme mittels Referendum inhaltlich nicht möglich, sie ist auf ein simples Ja oder Nein beschränkt. Folglich ist es für die Demokratie bedeutend, dass die Bevölkerung über die politische Ausrichtung von Parlament und Regierung entscheidet. Es muss bezweifelt werden, ob diejenigen, die nicht an den Wahlen teilnahmen, ihr Stimmrecht bei der Abstimmung ausüben. Die letztjährige Stimmbeteiligung war bei vielen Sachabstimmungen, aber auch bei den Ständeratswahlen, durchwachsen, wobei nationale Abstimmungen tendenziell etwas stärker mobilisierten als kantonale Vorlagen. Bei eidgenössischen Abstimmungen zumindest scheint die durchschnittliche jährliche Stimmbeteiligung im Vergleich zu den 1980er-Jahren wieder leicht anzusteigen (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4: Stimmbeteiligung bei den eidgenössischen Abstimmungen, 1911-2020

Hinweis: Die Punkte stellen die durchschnittliche Stimmbeteiligung in den jeweiligen Jahren dar (Datenquelle: BfS).

 

Die jüngsten Wahlsonntage zeigen dennoch einmal mehr mit Deutlichkeit, dass im Zusammenhang mit der Stimm- und Wahlbeteiligung über verschiedene Aspekte nachgedacht und diskutiert werden sollte: Ist die hohe Anzahl an Urnengängen ein Problem? Wird genügend unternommen im Bereich der politischen Bildung? Die Teilnahme an Wahlen ist ein wichtiger gesellschaftlicher Wert an sich – werben Parteien, Verbände, Schulen, Behörden oder wir alle ausreichend dafür? Die genannten Akteure und die Medien sind gefordert, komplexe Sachvorlagen verständlich zu erklären – wird dies immer erreicht? Antworten sind gesucht, damit die Wahl- und Stimmbeteiligung wieder zunimmt – für die Demokratie, aber auch für uns selbst.


Abbildungen und Ergänzungen: Alessandro Feller