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Stellvertretende in den Parlamenten von Gemeinden, Städten, Kantonen – Eine Ent- oder Belastung für das schwächelnde Milizsystem?

Lukas Golder, Petra Huth
4th Juli 2019

Das Milizsystem - lange Zeit ein wichtiger Pfeiler des schweizerischen Erfolgsmodells - kommt in Kantons- und Stadtparlamenten zunehmend unter Druck, weil immer weniger Personen zu einem Engagement bereit sind. Wäre eine Regelung, die es Gewählten erlaubt, auch einmal eine Stellvertretung ins Parlament zu schicken, die Lösung? Wir sind dieser Frage nachgegangen.

Ruf und Realität klaffen zunehmend auseinander: Milizämter sind in erster Linie zeitraubend. So beklagt die Hälfte der von Freitag et al. befragten Miliztätigen, sie könnten nicht mit einem Entgegenkommen des Arbeitgebenden für ihre politischen Aktivitäten im Milizsystem rechnen. Der easyvote-Politmonitor zeigt ein weiteres Problem auf: Wie Abbildung 1 zeigt, wertet eine Mehrheit der nachwachsenden Politikgeneration Z das Milizsystem nicht als wichtigen politischen Aspekt der Schweiz.

Abbildung 1: Wichtigkeit Merkmale politisches System

"Frage an die Generation Z (die jüngsten Stimmberechtigten im Alter von 18 bis 24): Das politische System kennt bestimmte Merkmale. Wie wichtig sind in deinen Augen folgende Merkmale des politischen Systems für die Zukunft der Schweiz." (in % SchülerInnen zwischen 15 und 25 Jahren)

Stellvertreterlösungen aus Sorge um den Nachwuchs

Der Präsident des Gemeindepräsidentenverbandes bilanziert diese Entwicklung durch die Prognose, dass es in der Schweiz des Jahres 2040 nur noch Profi-Behörden geben wird.

Derzeit sind in der Schweiz 15'000 Personen als Gemeinderäte und Gemeinderätinnen engagiert, 17'000 amten in Gemeindeparlamenten. Der Rückgang der freiwillig in der Politik engagierten Bürgerinnen und Bürger seit den 1980er-Jahren wird nur noch durch die Dynamik der Gemeindefusionen übertroffen: Von rund 3’000 in den 1980er-Jahren gibt es derzeit gerade noch 2'212 unabhängige Gemeinden. Und weniger Gemeinden bedeutet auch weniger Freiwilligenämter.

Die Nachwuchsprobleme sind gross und sie werden grösser werden. Für die Legislativen kann eine Stellvertretungsregelung Abhilfe schaffen. In der Schweiz praktizieren dies die Kantone Wallis, Neuenburg, Jura, Genf und Graubünden sowie einzelne Gemeinden wie z.B. Moutier. Die Stellvertretenden heissen Suppleanten. Die Modelle variieren je nach Parlament.

Als Stellvertreterinnen und Stellvertreter gelten jeweils diejenigen Kandidierenden auf den entsprechenden Wahllisten, die nach den gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen am zweitmeisten Stimmen auf sich vereinen konnten. Eine Variante stellen spezielle Partei-Stellvertretungslisten dar, wie es beispielsweise im Kanton Wallis praktiziert wird. Die Zahl der Stellvertreter/-innen pro Liste wird im Wallis in den meisten Fällen über den Anteil der gewonnenen Sitze ermittelt, sodass es je nach Fraktionsstärke mehr oder weniger Stellvertreter/ -innen geben kann.

Tabelle 1: Suppleanten und Abgeordnete in den Kantonen

Quelle: Büro des Grossen Rates des Kanton Bern auf das Postulat Markwalder, eingereicht am 10.09.2007 vom 3. Dezember 2007 / Grosser Rat Kanton Genf Liste der Abgeordneten für die Legislatur Mai 2018 bis Mai 2023.

Die existierenden Praxismodelle weisen grosse Ähnlichkeiten auf: Die Stellvertretungen sind nicht explizit auf längere Absenzen angelegt und die Gründe für die Benennung von Stellvertretenden werden nicht detailliert ausgeführt oder abschliessend benannt. Die Stellvertretenden verfügen dafür weitgehend über dieselben Rechte wie die gewählten Abgeordneten selbst. Im Vordergrund stehen einerseits pragmatische Lösungen für die Prozessordnung kleinerer Gemeinwesen und andererseits die höhere Flexibilität, die durch eine Stellvertretungslösung erreicht wird.

Wie beurteilt die Bevölkerung das Stellvertretendensystem?

gfs.bern konnte 2017 im Rahmen der Arbeiten zur Totalrevision der Bieler Stadtverfassung erstmals Bürgerinnen und Bürger befragen, um herauszufinden, was die Bevölkerung vom Suppleantensystem hält.Die Beurteilung einer kommunalen Stellvertreterlösung für die Stadt Biel wurde zunächst in Fokusgruppengesprächen und anschliessend mittels einer repräsentativen Umfrage bei der Bevölkerung in Erfahrung gebracht.

Die Reformarbeiten wurden durch einen partizipativen Bürgerdialog begleitet. Dazu wurden die Einwohnerinnen und Einwohner zu insgesamt dreizehn Reformelementen befragt. Die Verfassung des Kantons Bern bietet keine Grundlage für Stellvertreterlösungen. Dennoch wollten die Behörden in Biel die Bereitschaft der Bevölkerung dazu testen, denn die Absenzen in der Stadtbieler Legislative wirken sich häufig stark auf das politische Kräftegleichgewicht aus. Die Stellvertretendenlösung soll in diesem Fall bei längeren Abwesenheiten der Miliz-Stadträte greifen. 

Abbildung 2: Parlamentarische Stellvertretung

Fokusgruppen - "Was denken Sie zu so einer Lösung, ist sie sinnvoll oder nicht? Was spricht dafür, was dagegen oder gibt es andere Lösungen, die völlig anders aussehen könnten?"

Obige Frage wurde vier Fokusgruppen gestellt (Abbildung 2). Zwei Gruppen entstammten der französischen Sprachgemeinschaft, zwei der deutschen Sprachgemeinschaft. Die Frage spaltete die Dialoggruppenteilnehmenden unabhängig vom Sprachhintergrund in jene, die die politische Wahl eines Repräsentanten als bindend betrachten und kein Delegationsrecht einräumen möchten, und jene, die eher die Prozesserleichterungen in den Vordergrund stellen.

Letztere gehen zudem durch die Entlastungswirkung davon aus, dass sich eventuell mehr Leute für eine Ämterübernahme interessieren könnten: Es könnten sich mehr Stimmen und Meinungen in die Legislative einbringen und sie in diesem Sinne demokratischer machen. Ähnliche Stimmen finden sich auch im Wallis. Die Fokusgruppen diskutierten aber auch die Gewinne, die eine parlamentarische Stellvertretung erbringen würde, wie z.B. die Schliessung der Lücken bei längerer Abwesenheit und Vorteile für berufstätige Parlamentarierinnen und Parlamentarier oder für jene mit Familie.

Eine Mehrheit votierte in beiden Sprachgruppen dafür, eine eindeutige Regelung zu schaffen, um den Einsatz von Stellvertretungen klar festzulegen. Als Beispiel wurde die Beschränkung auf längere Abwesenheiten der Abgeordneten genannt und damit die Stossrichtung der parlamentarischen Vorstösse aus der Deutschschweiz gestützt. Eindeutig waren auch die Bedingungen für die Wahl von Suppleanten: Stellvertretende sollen entweder vom Volk gewählt sein, aus derselben Partei stammen, durch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier bestimmt werden oder Nachrückende sein, um eine angemessene und legitime Vertretung zu darzustellen.

Gegen die parlamentarische Stellvertretung sprach in den Augen einiger Teilnehmender aber, dass der oder die Stellvertretende aus Sicht der Wählenden dieselbe Meinung haben müsste wie die zu vertretende Person, was jedoch in sämtlichen Belangen nicht möglich sei. Auch wird von einigen die Schwierigkeit gesehen, überhaupt für jedes Parlamentsmitglied eine Stellvertretung zu finden. Anderen zufolge brauche es die parlamentarische Stellvertretung gar nicht, da bei Abwesenheiten die Stimmen nach Anzahl der Parteisitze ausgezählt werden könnten. Auch wurde argumentiert, dass Personen, die ein Amt bekleiden, stets versuchen sollten, anwesend zu sein. Einzelne, besonders kritische Teilnehmende, befürchteten, eine Stellvertreterlösung böte (zu viel) Spielraum für politisches Kalkül.

Abbildung 3: Stellvertreterlösung für den Stadtrat

"Die Stärkung des Parlaments ist auch ein Mittel, um die politische MItwirkung zu fördern. Vielfach sind die Stadträte aber beruflich abwesend, im Ausland oder z.B. im Mutterschaftsurlaub. Jetzt wird die Idee einer Stellvertreterlösung diskutiert. Es könnten Kandidaten der gleichen Liste oder persönliche Stellvertreter sein. Wie beurteilen Sie die folgenden Aussagen?" (in % BielerInnen)

In der repräsentativen Umfrage empfand eine relative Mehrheit von sechzig Prozent der Bieler und Bielerinnen das Suppleantensystem als Lösung gegen die potenzielle Verschiebung der politischen Kräfte, die durch längere und ungeplante Absenzen entstehen können. Ein Sechstel der Bürgerinnen und Bürger hielt dagegen den Vorschlag eher oder ausgeprägt für ungeeignet. Gleichzeitig teilt aber auch gut die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner von Biel die Ansicht, ein Stellvertretender entscheide nie gleich wie der direkt gewählte Abgeordnete.

In der Bilanz über alle dreizehn Reformmassnahmen wird die Stellvertretungslösung nur von elf Prozent überhaupt als wichtig für die Gesamtreform der Stadtverfassung eingestuft. Mit anderen Worten: Abgesehen von einer gewissen Ambivalenz gegenüber der praktischen Umsetzbarkeit einer solchen Lösung bewertet die Bevölkerung die Dringlichkeit solcher Massnahmen nicht gleich wie die verschiedenen Parlamentarier und Parlamentarierinnen, die im Laufe der Jahre das Stellvertretendensystem auf Kantons- und Bundesstufe vorgeschlagen haben.

Das Suppleantensystem ist eine mögliche Antwort, aber keine Generallösung für die neuen Anforderungen an Milizvereinbarkeit
Abbildung 4: Haltung zur Politik im Allgemeinen
"Nun geht es um deine Haltung zur Politik im Allgemeinen. Stimmst du folgenden Aussagen zu?" (in % SchülerInnen zwischen 15 und 25 Jahren)

Für eine Stellvertretungslösung sprechen angesichts der Entwicklungen im schweizerischen Milizsystem folgende Argumente: Gerade in kleinen Parlamenten mit knappen Mehrheitsverhältnissen können schon Absenzen einzelner Personen de facto zu einer entscheidenden Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses führen. Angesichts dieser – für kleine politische Gemeinwesen – besonders starken Folgen kann eine Stellvertretung repräsentativere Ergebnisse erzeugen.

Doch auch die Auswahl an geeigneten Kandidierenden für politische Ämter ist gerade in diesen kleinen Gemeinden oft sehr begrenzt. Hier wie auch für das eigentliche Mandat bestehen die gleichen Probleme, die auch das gesamte Milizwesen belasten. Potenzielle Kandidierende verzichten aus familiären oder gesundheitlichen, sowie aus beruflichen Gründen oder wegen allgemeinem Zeitmangel. Diese Problematik könnte die Stellvertretungslösung allenfalls langfristig verändern.

Eine Stellvertretungslösung kann dagegen durchaus die Fluktuation bei den Gewählten reduzieren, sei dies aufgrund von Mutterschaft, beruflichen Veränderungen oder einem Auslandsaufenthalt von Studierenden. Damit eröffnet die Stellvertretung für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in unterschiedlichen Lebensphasen mehr Chancengerechtigkeit.

In der Bilanz kann die Stellvertretungslösung wesentlich dazu beitragen, Milizparlamente zu diversifizieren. Sie ist eine Möglichkeit, in eine legislative Tätigkeit hineinzuwachsen. Damit senkt sie die Schwelle zur politischen Aktivität. Insbesondere Junge können von einer «Einübungsphase» ohne volle Verantwortung profitieren. Voraussetzung dafür ist allerdings eine entsprechend erweiterte Rolle der Parteien resp. ihrer Faktionen. Sie wären verantwortlich den oder die Stellvertretende zu begleiten.

Für jede Form des Stellvertretendensystems gilt: Die konkrete Ausgestaltung zählt.

In den Kantonen Wallis und Graubünden werden für die Suppleanten eigene Wahlen durchgeführt. In den Kantonen Jura und Neuenburg rekrutieren sich die Suppleanten aus den Ersatzleuten der entsprechenden Hauptwahllisten. Es ist das System, das entlang der Erhebung aus Biel und aus demokratischer Sicht am meisten Zuspruch beim Wählenden finden dürfte. Allerdings ist auch die Anzahl der Suppleanten ein Politikum: Im Wallis ist tatsächlich fraglich, ob 260 Mandatsträger für einen Kanton angemessen sind, dessen Bevölkerungsgrösse der Stadt Zürich entspricht.

Denn auch die Qualität des Politbetriebs hängt wesentlich von der Ausgestaltung der Stellvertretendenlösung im konkreten kantonalen Kontext ab. Hier variieren die Modelle und die Lösungen. In Biel zeigte sich der Souverän durchaus offen für das Modell, wenn auch ohne Präjudiz. Fest steht, dauerhafte Stellvertretende erwerben schneller Erfahrung und Dossierfestigkeit als in einem System, in dem auf ad-hoc Stellvertretungen gesetzt wird. Erstere gewährleisten die Entscheidfähigkeit der Legislative eher. Klare Bestellregelungen für die Stellvertretenden können zudem Manipulationen, wie dem bewussten Fernbleiben Abgeordneter Vorschub leisten. Ganz ausschliessen können sie sie jedoch kaum.

Mit Blick auf das schwächelnde Milizsystem ist die Stellvertreterlösung aber kein Allheilmittel: Den schleichenden Wandel hin zu Berufsparlamenten wird sie nicht stoppen. Sie kann allenfalls langfristig zusammen mit anderen Massnahmen wirksam werden. Zur Stärkung der Milizparlamente gehören Anreize, wie höhere finanzielle Entschädigungen oder Steuererleichterungen für Milizpolitiker und Milizpolitikerinnen. Bei Jüngeren könnten zudem arbeitsmarktrelevante Anerkennungen, wie z.B. Zertifizierungen für die Arbeit als Stellvertretende eine bessere Vereinbarkeit mit beruflichen Anforderungen fördern.

Was unabhängig von einer für Stellvertreterlösungen notwendigen Verfassungsänderung bleibt, ist die Frage der demokratischen Legitimität. Sie ist am ehesten dann gesichert, wenn die Zweitplatzierten auf den jeweiligen Parteilisten schon im Bewusstsein gewählt werden, dass es Stellvertreterlösungen gibt. Tatsächlich ist auch zu überlegen, ob Stellvertreterlösungen für bestimmte wichtige Kommissionen (wie z.B. die Geschäftsprüfungskommissionen) ausgeschlossen werden sollten.


Referenzen:

  • Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig (2019): Milizarbeit in der Schweiz. Zahlen und Fakten zum politischen Leben in der Schweiz. Zürich: NZZ Libro.

Bild: Grossratsgebäude Kanton Wallis