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Bundesratswahlen: Dank Wahlsystem herrscht Stabilität

Georg Lutz
9th Dezember 2019

Die Schweizer Regierung ist extrem stabil, nicht zuletzt auf Grund des Wahlsystems für den Bundesrat. Amtierende Bundesrätinnen und -räte treten alle vier Jahre einzeln nach Anciennität zur Wiederwahl an. Dieses Wahlverfahren führt vor allem in den ersten Wahlgängen zu einer hohen Disziplin der Bundesversammlung, wie eine Analyse der Gesamterneuerungswahlen von 1919 bis 2015 zeigt. Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber, die am Anfang des Wahlprozederes zur Wahl stehen, erreichen deutlich mehr Stimmen als jene, deren Wiederwahl später ansteht.

Das politische System der Schweiz hat verschiedene Eigenheiten. Dazu gehört das Regierungssystem mit sieben gleichberechtigten Mitgliedern des Bundesrates, die alle vier Jahre von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt werden. Speziell ist auch der Wahlmodus. Anders als etwa bei kantonalen Regierungswahlen werden die Mitglieder des Bundesrates einzeln nacheinander und in klar festgelegter Reihenfolge gewählt.

Stabilisierender Wahlmodus

Die Einzelwahl in der Reihenfolge des Amtsalters leistet einen wichtigen Beitrag zur Stabilität und erschwert Abwahlen. Dies aus zwei Gründen:

  • Die Reihenfolge der zu erfolgenden Wiederwahlen steht von Anfang an fest. Dies wirkt bei den ersten Wahlgängen insbesondere auf jene Parteien disziplinierend, deren Amtsinhaberin bzw. Amtsinhaber später zur Wahl steht. In den folgenden Wahlgängen nimmt die Disziplin leicht ab. Aber die Parteien, deren Bundesratsmitglieder bereits gewählt sind, stehen trotzdem unter Druck, die Unterstützung zu erwidern. Am meisten Stimmen erhält darum im Durchschnitt, wer als Erstes zur Wiederwahl antritt. Bei jedem nachfolgenden Wahlgang reduziert sich die Stimmenzahl.
  • Herausforderinnen und Herausforderer müssen explizit gegen einen amtierenden Bundesrat bzw. Bundesrätin antreten. Dies weckt Abwehrkräfte, wie es die Grünen 2019 zu spüren bekommen. Ihr Entscheid, mit der Kandidatur von Regula Rytz gegen die FDP und gegen Ignazio Cassis anzutreten, führte unter anderem zu öffentlicher Kritik, weil damit auch die Vertretung des Tessins im Bundesrat in Frage gestellt wird.

Dieses ausgleichende Wahlsystem ermöglicht es, dass die Konkordanz unter den Parteien auch ohne grosse Absprachen im Vorfeld der Wahlen zustande kommt. Stabilisierend auf das System wirkt sich auch aus, dass 70% der Bundesratsrücktritte nicht am Ende einer Legislatur, sondern während einer Legislatur erfolgen, so dass bei den Gesamterneuerungswahlen Vakanzen seltener sind.

Am meisten Stimmen für die FDP bei den Bundesratswahlen

Die Mechanik des Wahlsystems zeigt eine Analyse der Stimmenzahlen aller 159 Gesamterneuerungswahlen seit 1919 (Abbildung 1). Mit durchschnittlich 195 von 246 Stimmen erhalten erhalten die Bundesräte der FDP aus der Deutschschweiz, wenn sie als erstes zur Wahl stehen, am meisten Stimmen. Danach geht die Anzahl Stimmen zurück. Wer im zweiten oder dritten Wahlgang antritt, bekommt im Schnitt 15 Stimmen weniger, wer im dritten Wahlgang zur Wahl steht, bekommt 28 Stimmen weniger. Wer zuletzt antritt, erhält im Durchschnitt sogar 39 Stimmen weniger.

Unterschiede gibt es auch nach Parteien. Am meisten Stimmen erhalten die Kandidierenden der FDP. CVP-Bundesräte erhalten im Durchschnitt 11 Stimmen weniger, SVP-Bundesräte 13 weniger und SP-Bundesratsmitglieder 19 Stimmen weniger. Bundesräte aus der Romandie schneiden im Schnitt 9 Stimmen schlechter ab als Mitglieder des Bundesrates aus der Deutschschweiz. Keine Unterschiede gibt es nach Geschlecht, Alter und Amtsalter.

Abbildung 1: Durchschnittlich erreichte Stimmenzahl bei Gesamterneuerungswahlen des Bundesrates 1919-2015

Lesebeispiel: Ein FPD-Bundesrat aus der Deutschschweiz, der im 1. Wahlgang zur Wahl antritt, erreicht 195 Stimmen.
Methodische Bemerkungen: Basis des Regressionsmodells sind Stimmenanteile der Bundesräte in Prozent, da die Vereinigte Bundesversammlung nicht immer 246 Mitglieder umfasste. Die beiden nicht erfolgten Wiederwahlen von Ruth Metzler bzw. Christoph Blocher in den Jahren 2003 und 2007 sind in den Berechnungen nicht berücksichtigt.

 

Der Wahlmodus bei Bundesratswahlen
Bundesrätinnen und Bundesräte werden in der Schweiz jeweils in der ersten Session nach den Gesamterneuerungswahlen des Nationalrates einzeln und nacheinander in der Reihenfolge ihres Amtsalters durch die Vereinigte Bundesversammlung gewählt. Lange war der Wahlmodus Gewohnheitsrecht. Festgeschrieben wurde dieses Verfahren erst 1976 im Reglement der Vereinigten Bundesversammlung, 2002 wurde es ins revidierte Parlamentsgesetz übernommen. Zuvor galt als einzige Einschränkung des Wahlverfahrens die von der Verfassung vorgegebene Kantonsklausel, die es verbot, dass mehr als zwei Bundesräte aus dem gleichen Kanton stammen durften. Diese wurde mit der neuen Bundesverfassung durch eine Bestimmung ersetzt, dass «alle Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten» sein müssen, allerdings ohne auszuführen, was das genau heisst.

Notwendig ist für eine Wahl das absolute Mehr und es wird solange gewählt, bis jemand das absolute Mehr erreicht. Während es für Ersatzwahlen regelmässig mehrere Wahlgänge braucht, ist das bei den Gesamterneuerungswahlen nicht der Fall: seit 1919 wurden mit Ausnahme der beiden Nichtwiederwahlen von 2003 (Ruth Metzler) und 2007 (Christoph Blocher) alle wieder antretenden Bundesratsmitglieder jeweils im 1. Wahlgang bestätigt.

Die hohe Stabilität des Bundesrats

Die Regierungszusammensetzung ist in der Schweiz sehr stabil, in erster Linie personell, aber auch parteipolitisch. Wer einmal in den Bundesrat gewählt wird, gehört dem Gremium in der Regel so lange an, bis er/sie selber zurücktritt. Die Amtsdauer beträgt im Durchschnitt über zehn Jahre. Nicht-Wiederwahlen sind äusserst selten, seit 1848 gab es gerade einmal deren vier.

Auch die Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung geschieht sehr langsam (siehe Abbildung 2). Die ersten 40 Jahre des Bundestaates, von 1848-1891, gab es eine freisinnige Alleinregierung.  Danach war zwischen 1891-1929 eine Zweiparteienregierung aus FDP und CVP für weitere fast 40 Jahre  an der Macht. Es dauerte danach weitere 30 Jahre, bis SVP und SP sukzessive in die Regierung integriert wurden, 1929 zuerst die SVP (damals noch BGB). 1943 erhielt die SP ihren ersten Sitz, 1959 den zweiten.

Ab 1959 galt die Zauberformel: Das heisst, dass über 40 Jahre die vier grossen Parteien gemäss ihrer Stärke im Bundesrat vertreten waren. Die drei grössten Parteien (FDP, CVP, SP) mit zwei Sitzen, die kleinere SVP mit einem Sitz. Nach dem Aufstieg zur stärksten Partei erstritt sich die SVP 2003 einen zweiten Sitz im Bundesrat auf Kosten der geschrumpften CVP.

Abbildung 2: Zusammensetzung des Bundesrats (1848-2019)

Machtpolitisches Kalkül

Die Regierungszusammensetzung war immer in erster Linie Spiegel der Machtverhältnisse. Während fast ein hundert Jahren bildete der Freisinn zwischen 1848 und 1943 eine Allein- oder Mehrheitsregierung. Dies auch noch, nachdem die Stärke des Freisinns im Parlament bereits ab 1919 weit unter fünfzig Prozent gefallen war. 

Grundlage für den 1959 erfolgten Wechsel von einer Mehrheitsregierung zu einer Regierung, in der alle vier grossen Parteien im Bundesrat eingebunden waren, war die Stabilität der Wählerstärken der vier grössten Parteien. Ab der Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat im Jahr 1919 veränderten sich auch die Stärkeverhältnisse der Parteien bis in die 1990er Jahre kaum. Die drei grossen Parteien FDP, CVP und SP erreichten in dieser Periode in der Regel bei den Nationalratswahlen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Prozent der Stimmen, die SVP zehn bis fünfzehn Prozent.

Die Zauberformel als solche kam allerdings durch machtpolitisches Kalkül zustande. Federführend war die CVP, die ein starkes Interesse hatte, die Vorherrschaft der FDP zu brechen und dank der Einbindung der SP in den Bundesrat zur Mehrheitsbeschafferin aufzusteigen. Da es 1959 gleich vier Rücktritte aus dem Bundesrat gab, die den strategischen Spielraum erhöhten, konnte die CVP zusammen mit der SP die Zauberformel einführen. Dies gegen den Widerstand der FDP, die versuchte, im letzten Wahlgang einen dritten Sitz auf Kosten der SP zu retten.

Die Bundesratszusammensetzung wurde Anfang 2003 angepasst, nachdem die SVP ab den 1990er Jahren von der kleinsten zur grössten der vier Parteien aufgestiegen war und insbesondere die CVP systematisch Wähleranteile verlor und zur kleinsten der grösseren Parteien wurde. Allerdings kam diese Anpassung der Zauberformel nicht durch einen breiten Konsens aller Parteien zustande, sondern durch massiven politischen Druck seitens der SVP, der es gelang, zusammen mit der FDP eine Mehrheit für einen zweiten SVP-Bundesrat zu zimmern und dabei gleichzeitig die CVP-Bundesrätin Ruth Metzler abzuwählen. Nach einen Intermezzo durch die Abwahl von Christoph Blocher 2007 und der Abspaltung der BDP, womit für kurze Zeit sogar zwei BDP Mitglieder im Bundesrat sassen, kam es 2015 zur neuen Verteilung mit je zwei Sitzen für SVP, SP und FDP und einem Sitz für die CVP. 

Eine Anpassung steht nun bereits wieder zur Diskussion, da das Parteiengefüge inzwischen nur noch eine grosse Partei und vier mittelgrosse Parteien kennt. Die SVP ist mit über fünfundzwanzig Prozent Wähleranteil die mit Abstand grösste Partei, zu den mittleren Parteien gehören die FDP, CVP und SP mit einem Wähleranteil zwischen 11-17 Prozent. Dazu sind neu die Grünen gestossen, die seit den Wahlen 2019 über mehr Wähleranteile im Nationalrat verfügt als die CVP. Allerdings herrscht zur Zeit unter den Parteien unter der Bundeshauskuppel kein Konsens darüber, wie und wann eine Anpassung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates stattfinden soll. Es ist auch hier anzunehmen, dass eine Anpassung kaum aufgrund eines breiten Konsens stattfinden wird und eine Partei freiwillig auf einen Sitz verzichten wird. Vielmehr müsste es den Grünen gelingen, den notwendigen politischen Druck zu erzielen. 

Stabilität oder Starrheit?

Die Stabilität der Regierung sei ein wichtiger Standortfaktor für die Schweiz wird oft argumentiert. Ob es aber dafür gleich die bestehende Starrheit braucht, ist fraglich. In den Kantonen, in denen es regelmässig zu Abwahlen und Anpassungen in der Regierungszusammensetzung kommt, ist die politische Stabilität ebenfalls sehr hoch und die Regierungen arbeiten gut zusammen.

Es bleibt eine Eigentümlichkeit des schweizerischen Systems, dass in der Realität nach den Parlamentswahlen in der Schweiz keine neue Regierung gewählt wird, sondern alle amtierenden Regierungsmitglieder bestätigt werden. Basis für diese rituelle Bestätigungswahl ist nicht eine gemeinsame Willensäusserung der Parteien oder gar ein gemeinsames Regierungsprogramm. Die Konkordanz funktioniert mit minimalen Absprachen und dank einem Wahlsystem, das Abwahlen erschwert und damit den Status Quo begünstigt. Kommt hinzu, dass Bundesräte oft während der Legislatur und nicht bei Gesamterneuerungswahlen ersetzt werden. Auch dies macht es für Parteien einfacher, ihre Machtansprüche zu zementieren.

Immer wieder wurde das Regierungssystem der Schweiz in Frage gestellt. Insbesondere jene, die sich untervertreten fühlten, erhofften sich durch eine Systemänderung eine bessere Vertretung.[1] So gab es in den letzten 170 Jahren diverse Vorstösse zur Volkswahl des Bundesrates. Letztmals wurde 2013 eine Initiative der SVP mit 76 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Aktuell wird die ebenfalls nicht neue Idee einer Aufstockung des Bundesrats auf neun Mitglieder diskutiert. All diesen Vorstössen war bisher eines gemeinsam: sie führten zu keiner Änderung, Wahlmodus und Anzahl Mitglieder des Bundesrates sind seit 1848 weitgehend unverändert.

Solange das Parteiensystem der Schweiz sehr stabil war, war die fehlende Flexibilität der Regierungszusammensetzung kein Problem. Doch in den letzten dreissig Jahren ist das Parteiensystem in Bewegung geraten und die Kräfteverhältnisse haben sich grundlegend verändert. Auch für die Zukunft ist für die Schweiz mit grösseren Veränderungen zu rechnen, stabile Parteiensysteme gibt es in Europa nicht mehr. Entsprechend kann es ein stabilisierende Faktor sein, wenn veränderte Kräfteverhältnisse rascher in der Regierungszusammensetzung abgebildet werden.

Um das zu begünstigten, braucht es keine radikale Änderung des Systems wie eine Volkswahl oder eine Aufstockung auf neun Mitglieder, Reformvorhaben, die - wenn überhaupt - kurzfristig nicht umsetzbar sind. Bereits eine leichte Anpassung würde mehr Flexibilität ins System zu bringen: wenn die Regierungsmitglieder bei Gesamterneuerungswahlen nicht mehr einzeln, sondern gleichzeitig gewählt werden, so wie es bei allen kantonalen Regierungswahlen durch das Volk der Fall ist. Wenn es zudem zur Norm würde, dass Bundesratsmitglieder ihre vierjährige Amtszeit, für die sie schliesslich eigentlich gewählt werden, jeweils auch zu Ende führen, gäbe es vor allem bei Gesamterneuerungswahlen Vakanzen, was den Spielraum für parteipolitische Veränderungen ebenfalls erhöhen würde. 


Literatur
  • Bacher, Hansueli und Jean-Christian Lambelet (2002). "La réélection des Conseillers fédéraux: Sanctions ciblées ou résultats prédéterminés?." Analyses & Prévisions.
  • Burgos, Elie, Oscar Mazzoleni und Hervé Rayner (2011). La formule magique: conflits et consensus dans l'élection du Conseil fédéral. Vol. 75. Collection le savoir suisse.
  • Giudici, Anja und Nenad Stojanović (2016). "Die Zusammensetzung des Schweizerischen Bundesrates nach Partei, Region, Sprache und Religion, 1848–2015." Swiss Political Science Review 22(2): 288-307.

 

Bild: Schweizerische Bundeskanzlei

 

[1] Eine gute aktuelle Zusammenfassung dazu bietet ein Bericht der Staatspolitischen Kommission https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2016/1369.pdf