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Links-Rechts – eine Einbahnstrasse?

Salim Brüggemann
15th Oktober 2019

War der viel beschworene Rechtsrutsch 2015 nur die Spitze eines länger währenden Prozesses? Anhand der smartvote-Antworten und dem parlamentarischen Abstimmungsverhalten wird die Entwicklung der grossen Kammer auf der Links-Rechts-Achse innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre nachgezeichnet. Dabei wird deutlich: Die Polarisierung nahm weiter zu, Mitte-Rechts-Allianzen sind stark angestiegen.

Grundlage der folgenden Analyse bilden Verortungen der Nationalrätinnen und Nationalräte auf einer latenten Dimension (vgl. Methodenbox). Für die beiden Visualisierungen wurden diese anhand derjenigen smartvote-Fragen vorgenommen, welche über die Wahljahre hinweg gleich oder sehr ähnlich gestellt wurden. Die gestrichelte Linie zeigt dabei immer den Median und dient als Illustration zur Verschiebung der Kräfteverhältnisse.

Erläuterung:
Dieser und den folgenden Grafiken liegt die Berechnung der Dichte der Werte auf einer latenten Dimension (vgl. Methodenbox) mittels der sogenannten Kernel Density Estimation zugrunde. Man kann sich diese Darstellungsform gewissermassen als geglättetes Histogramm vorstellen. Die ausgefüllte Fläche vermittelt, wie sich die Mitglieder des Nationalrats mengenmässig über diese Dimension verteilen. Unterhalb der Fläche sind die im jeweiligen Wahljahr gewählten Personen anhand ihrer individuellen Positionen eingezeichnet und entsprechend der Parteifarben eingefärbt (Punkte). Die schwarzen Striche illustrieren die Frequenzen der Werte und sind äquivalent zur Fläche oberhalb. Die Punkte dienen nicht zuletzt als Orientierung, um die inhaltliche Bedeutung dieser gemeinhin als Links-rechts-Spektrum bezeichneten Dimension einschätzen zu können. Dabei gilt zu beachten, dass die Zahlen nur in Relation zueinander und nicht in absoluter Form interpretiert werden dürfen. Der 0 kommt also nicht automatisch die Bedeutung eines neutralen Zentrums oder dergleichen zu.
Generell wurden in allen Analysen fehlende Werte durch Imputation vervollständigt. Dazu dienten die arithmetischen Mittelwerte der jeweiligen Kantonalparteien. In den Detailangaben der betroffenen Parlamentsmitglieder (mit der Maus darüber fahren) ist ersichtlich, wenn die Einordnung auf einem solchen abgeleiteten Wert basiert – was bspw. bei Roger Köppel 2015 der Fall ist, d. h. er wurde anhand des Durchschnittes der SVP Zürich verortet. Allerdings war die Werteimputation aus Datenmangel für das Jahr 2003 nicht möglich, weshalb diese Werte mit Vorsicht zu geniessen sind. 2003 fiel auch die Teilnahmequote im Vergleich zu den Folgejahren noch recht dürftig aus. So haben im Jahr 2003 von den 200 in den Nationalrat gewählten Kandidierenden 59 den smartvote-Fragebogen nicht ausgefüllt (rund 4–5 mal mehr als in den darauffolgenden Wahljahren) und aus aus den drei Kantonen Appenzell Innerrhoden, Glarus und Tessin nahm überhaupt niemand teil.

Verortung auf einer latenten Dimension

Zur Einordnung der Kandidierenden auf einer latenten Dimension wurde auf die Item Response Theory (IRT) zurückgegriffen. Die IRT stammt ursprünglich aus der Psychologie, lässt sich aber auch sinnvoll in der Politikwissenschaft anwenden.

Der grundlegende Vorteil dieses und vergleichbarer Verfahren liegt darin, die Politikerinnen und Politiker auf werturteilsfreie Weise auf einer eindimensionalen (Links-rechts-)Skala einordnen zu können. Konkret wurde auf das Graded Response Model1 zurückgegriffen, welches für mehrstufig geordnete Variablen vorgesehen ist und unterschiedliche Itemtrennschärfen zulässt. Es ermöglicht somit, die Antwortkategorien der beiden Datengrundlagen ohne Informationsverlust (wie er etwa bei einer Dichotomisierung auftritt) zu verarbeiten. Die variablen Itemtrennschärfen erlauben dem Schätzverfahren, die smartvote/Selects-Fragen bzw. Parlamentsabstimmungen unterschiedlich stark zu gewichten, je nachdem wie gut sie zur Verortung der Politikerinnen und Politiker auf der gesuchten latenten Dimension geeignet sind. Vom Gegenteil auszugehen wäre wohl kaum realistisch, denn gewisse smartvote-Fragen wie etwa diejenigen nach der zweiten Landessprache oder Schuldispensen aus religiösen Gründen sind kaum umstritten, während andere stark zu spalten vermögen.

Gemäss obiger Darstellung rückte der Nationalrat bereits nach den Wahlen 2007 deutlich nach rechts, hauptsächlich auf Kosten linker Kräfte. 2011 haben sich Links und Rechts im Gleichgewicht gehalten, allerdings scheint eine gewisse Polarisierung stattgefunden zu haben. Dies steht im Kontrast zur Erzählung, wonach die politische Mitte durch den Wahlerfolg der beiden Parteien BDP und GLP gestärkt worden sei.

Mit den Wahlen 2015 hat die Polarisierung weiter zugenommen, gleichzeitig scheint ein feiner Linksrutsch – und kein Rechtsrutsch – erkennbar zu sein. Doch kann das stimmen?

Mehr Daten, andere Ergebnisse

Die obige Links-Rechts-Einordnung der grossen Kammer basiert auf lediglich elf von insgesamt 75 smartvote-Fragen – denn nur diese sind für alle vier ausgewerteten Wahlen vergleichbar. Beschränkt man den Vergleich auf die letzten drei oder gar nur zwei Wahlen, steigt die Zahl kongruenter Fragen auf 24 bzw. 40 an – und die Verortungen der Politikerinnen und Politiker fallen entsprechend präziser aus. Dennoch zeigen sich ähnliche zeitliche Muster – mit einem entscheidenden Unterschied. Doch inspizieren Sie die Datenlage erst einmal selbst:

Hinweise:
Die Unterschiede zwischen den drei verschiedenen Kategorien sind anhand der Mengendifferenzen leicht erkennbar. Eine Auflistung der über die Zeit vergleichbaren Fragen findet sich hier bzw. hier (Budgetfragen).

Hat man in der Grafik oben die Verschiebung der drei Medianwerte (gestrichelte Linien) zwischen 2011 und 2015 genau verfolgt, sollte auffallen, dass sich in Bezug auf die Frage des Rechtsrutsches 2015 entgegengesetzte Resultate ergeben: Während die Vergleichsperiode 2003–2015 einen leichten Linksrutsch nahelegt, zeigt die deutlich umfangreichere Datenbasis der Vergleichsperioden 2007–2015 respektive 2011–2015 das klare Gegenteil: Einen eindeutigen Rechtsrutsch.

Nun ist letzteres Resultat natürlich wesentlich realistischer – schliesslich ist die Datengrundlage der Vergleichsperiode 2003–2015 eine perfekte Teilmenge der anderen beiden Perioden. Interessanterweise fällt der Unterschied zwischen den jüngsten beiden Vergleichsperioden deutlich geringer aus, obwohl sich die Datengrundlage mit 40 Fragen 2011–2015 gegenüber den 24 Fragen 2007–2015 nochmals beinahe verdoppelt hat. Aus diesem Grunde wird im Folgenden noch einmal die Entwicklung zwischen 2007 und 2015 anhand der 24 vergleichbaren Fragen präsentiert. Hier ist nämlich gut ersichtlich, dass der Rechtsrutsch bereits mit den Wahlen 2011 begonnen und sich 2015 bloss fortgesetzt hat – wenngleich in bedeutend grösserem Ausmass:

Die smartvote-Fragen sind allerdings hypothetischer Natur und darauf ausgelegt, die Kandidierenden möglichst breit zu streuen. Wenngleich sie die Konflikte des realen Parlamentsbetriebes gemäss einer anderen Analyse relativ gut abzubilden vermögen, lohnt es sich, einen Blick auf die Entwicklung anhand der tatsächlichen Abstimmungen2 im Nationalrat zu werfen.

Hierbei gilt zu beachten, dass insbesondere die Bandbreite der Links-Rechts-Verteilung nicht direkt zwischen den Zeitperioden vergleichbar ist, da naturgemäss in jeder Legislaturperiode andere Abstimmungen – und damit auch andere politische Sachvorlagen – die Grundlage zur Einordnung bilden. Die relative Verteilung der Fläche zwischen der Linken, der Mitte und der Rechten hingegen darf durchaus als Indiz dienen, in welche Richtung sich das Parlament kräftemässig entwickelt hat.

Erläuterung:
Auf die Einzeichnung des Medians wurde hier bewusst verzichtet, da die konkreten Links-rechts-Werte der verschiedenen Legislaturperioden eben nicht direkt vergleichbar sind.

Gut erkennbar im Zeitvergleich: Der klare Aufstieg der Rechten. Während 2003 noch eine eher kleine Minderheit im äusseren rechten Spektrum zu liegen kam, ist 2007 schon eine klare Dreiteilung der grossen Parlamentskammer sichtbar, wobei der SVP-Hügel noch etwas kleiner, dafür breiter in der Meinungsvielfalt ausfällt. In der darauffolgenden Legislaturperiode ab 2011 tritt die Linke deutlich geschlossener auf, wobei auch klar erkennbar ist, dass es viele Mitte-Links-Koalitionen gab.

Nach den Wahlen 2015 war damit klar Schluss: Die SVP hat die eigenen Reihen geschlossen, die Polarisierung nahm weiter zu. Die Lager sind wieder klar dreigeteilt wie in der Legislatur 2007 bis 2011 – mit dem entscheidenden Unterschied, dass die rechte Ratsseite elf Mandate zulegen konnte und von der Fläche her nun beinahe der Grösse des Mitteblockes entspricht. Der Anteil der gewonnenen Abstimmungen einer rechtsbürgerlichen SVP-FDP-Allianz hingegen hat sich einer entsprechenden Auswertung zufolge gegenüber der Legislatur von 2011–2015 mehr als verdoppelt. Wie sich vor diesem Hintergrund die zweite Hälfte der laufenden Legislatur entwickelt hat, steht noch aus.


  1. Samejima, F. (1968). Estimation of Latent Ability Using a Response Pattern of Graded Scores. ETS Research Bulletin Series 1968, 1–169.

  2. Die Auswahl der Parlamentsabstimmungen wurde auf Gesamt- und Schlussabstimmungen sowie Eintretens- und Rückweisungsentscheide beschränkt. Zum einen hat dies praktische Gründe. Zum andern bringt dies aber auch den Vorteil mit sich, dass die Items der verschiedenen Datenquellen so eher vergleichbar sind. Denn Gesamt- und Schlussabstimmungen sollten in ihrer Tragweite den smartvote-Fragen näher kommen als die Gesamtmenge aller Parlamentsabstimmungen, welche auch unzählige kleine Änderungsanträge und dergleichen umfassen. Insgesamt flossen zwischen 1’458 (47. Legislatur 2003–2007) und 4’537 Abstimmungen (49. Legislatur 2011–2015) in diese Analyse ein.


Titelbild: RyanMcGuire (CC0)