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Ein grosser Scherbenhaufen? Einigungskonferenzen im schweizerischen Zweikammersystem

Rahel Freiburghaus
2nd Oktober 2018

Dem starken schweizerischen Bikameralismus zum Trotz, gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen den eidgenössischen Räten über lange Jahre überraschend spannungsfrei. Seit den letzten Dekaden zeigt sich jedoch eine Zunahme der Konfliktivität zwischen den beiden Kammern, die sich auch an einer wachsenden Anzahl Einigungskonferenzen festmachen lässt. Daher nimmt sich der vorliegende Beitrag ebendieser «ultima ratio»-Phase von Gesetzgebungsprozessen an.

Im Nachgang des Urnengangs über die gescheiterte «Altersvorsorge 2020» im September 2017 war in der medialen Debatte von einem «Scherbenhaufen» die Rede. Rückblickend geht dabei schier vergessen, dass ebendieser «Scherbenhaufen» bereits im Parlament drohte: Bei der «Altersvorsorge 2020» bestanden zwischen National- und Ständerat auch nach je drei Detailberatungen pro Kammer inhaltliche Differenzen, was die Einberufung einer so genannten Einigungskonferenz nötig machte (Art. 91 ParlG). In diesem Fall treffen sich je 13 Mitglieder der vorberatenden Kommissionen beider Räte zu einer ad hoc gebildeten Einigungskonferenz, die mit der Ausarbeitung eines Einigungsantrages betraut wird. Wird ebendiese Verständigungslösung, die «alle verbliebenen Differenzen gesamthaft bereinigt» (Art. 92 Abs. 3 ParlG), in einem der beiden Räte verworfen, so wird ein Erlassentwurf endgültig abgeschrieben (Art. 93 ParlG; vgl. Theler 2014). Einem eigentlichen Krimi gleichkommend, vereinte der Einigungsantrag zur «Altersvorsorge 2020» im Nationalrat schliesslich genau 101 von 101 erforderlichen Stimmen auf sich.

Spannungsfreie Zusammenarbeit – dem starken Bikameralismus zum Trotz?

Anders als das Beispiel «Altersvorsorge 2020» nahelegt, gestaltete sich die Zusammenarbeit im schweizerischen Zweikammersystem, das sich im internationalen Vergleich durch die vollständige Gleichstellung der beiden unterschiedlich zusammengesetzten Kammern auszeichnet (Lijphart 2012: 198 ff.), über lange Jahre überraschend spannungsfrei. Von 1903 bis 1972 bedurften nur 13 aller 4’803 Geschäfte einer Einberufung (Trivelli 1975: 288); bis 1989 wuchs die Zahl auf bloss 15 Einigungskonferenzen an (Huber-Hotz 1991: 176). Indes führten zwölf der 15 Einigungsanträge zu einem positiven Ergebnis (ebd.).

«ultima ratio»-Vermittlungsgremien in Zweikammersystemen
Dem Datensatz der «Inter-Parliamentary Union» zufolge, verfügten im Jahre 2016 79 der 193 berücksichtigten Staaten über eine bikamerale Struktur (40.93 %). In der gängigen Klassifikation von Lijphart (2012) lassen sich Zweikammersysteme weiter in «starke», «mittlere» und «schwache» bikamerale Parlamente unterteilen. Unabhängig von der «Stärke» des Bikameralismus stellt sich das Problem der Zusammenarbeit: Resultiert auch nach mehreren Verhandlungsrunden («navette») keine interkamerale Einigung, sehen Zweikammersysteme unterschiedliche «ultima ratio»-Vermittlungsgremien vor – so etwa die Einigungskonferenz in der Schweiz, der Vermittlungsausschluss in der Bundesrepublik Deutschland oder das «conference committee» in den Vereinigten Staaten von Amerika. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten sind ebendiese interkameralen «ultima ratio»-Vermittlungsgremien paritätisch aus einer gleichen Anzahl Mitglieder beider Kammern zusammengesetzt (Tsebelis und Money 1997: 110). Kennzeichnend ist, dass im Falle der Einsetzung eines ebensolchen Vermittlungsgremiums die bikamerale Struktur temporär aufgehoben wird: In der «ultima ratio»-Phase eines Gesetzgebungsprozesses kommen die Abgeordneten beider Kammern zu einem «temporären Einkammersystem» zusammen, in dem mit Ausnahme von Japan mit einfacher Mehrheit über Fortdauer oder definitiver Abschreibung eines Geschäfts beraten wird – oft in geheimer Verhandlung (ebd.: 111).

Auch wenn die älteren Auswertungen aufgrund der 1992 geänderten Rechtslage nicht direkt mit den jüngsten Zahlen vergleichbar sind (vgl. Box 2), zeigt sich bei der Zusammenarbeit der beiden Räte über die letzten Dekaden doch eine Zunahme an Einigungskonferenzen. Es bietet sich daher an, die bestehenden Untersuchungen zum gesamten Differenzbereinigungsverfahren erstmals auf dessen Letztetappe zu spezifizieren.

Deutliche Zunahme über die Zeit
Abbildung 1: Durchschnittliche absolute Anzahl an Einigungskonferenzen, 1992–2017 (pro Jahr)

Abbildung 1 zeigt eine deutliche Zunahme an Einigungskonferenzen zwischen 1992 und 2017, wobei die Übertreffung des Durchschnittswertes von jährlich 5.5 Einigungskonferenzen in der 48., 49. sowie den ersten zwei Jahren der 50. Legislatur augenfällig ist. In der laufenden 50. Legislatur kam es mit durchschnittlich zehn Einigungskonferenzen pro Jahr gar zu einem neuen vorläufigen Höchststand (Stand: Dezember 2017): Bei gewichtigen Dossiers wie etwa dem Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; 2015), der Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens auf Kroatien (2016) oder der Kindesschutz-Vorlage (2017) liessen sich die Differenzen zwischen den Räten erst in der Einigungskonferenz ausräumen.

Auf der einen Seite relativieren die rechtlichen Neuerungen von 1992 (vgl. Box 2) und die zeitgleich stark wachsende Gesetzgebungsaktivität die steigende jährliche Durchschnittsanzahl. Auf der anderen Seite fällt die zeitliche Häufung mit einem für beide Räte gleichsam diagnostizierten Wandel im Koalitionsverhalten zusammen: Auch wenn der «klassische» Links-rechts-Gegensatz weiterhin das häufigste Koalitionsmuster bildet, ermöglichte der zeitweise Aufstieg der «Neuen Mitte» ungewohnte Allianzen mit unterschiedlichen Stossrichtungen zwischen Links und Rechts (Vatter 2018). Ebendieses Auftreten neuer Koalitionsformen führte zu einer wachsenden Unsicherheit über den politischen Ausgang eines Gesetzgebungsprozesses – und verkomplizierte damit die Mehrheitsfindung innerhalb und zwischen den Räten.

«Zankapfel Innenpolitik, konfliktfreie Aussenpolitik»?
Abbildung 2: Relative Häufigkeit von Einigungskonferenzen nach Politikfeld, 1992–2017 (in Prozent)

Die Häufigkeitsverteilung nach Politikfeld in Abbildung 2 macht deutlich, dass sich die Konfliktivität im bikameralen Gesetzgebungsprozess keinesfalls nur auf klassisch föderale Policies beschränkt, bei denen Uneinigkeit zwischen «Volks-» und «Kantonskammer» besonders zu erwarten sind. Während finanz- und steuerpolitische Geschäfte[i] mit Abstand am häufigsten eine Einigungskonferenz erforderlich machten (24.6 %), rangieren die ebenfalls oft unter einer föderalistischen bzw. regionalpolitischen Optik diskutierten Bereiche «Raumplanung und Wohnungswesen» (1.5 %) und Bildungs- und Wissenschaftspolitisches (3.0 %) am Ende der Aufschlüsselung. Im Migrations- bzw. Asylwesen (4.5 %) sowie der internationalen bzw. Europapolitik (3.0 %) waren sich die Räte hingegen überraschend häufig einig: Einerseits wählt die SVP als «Themenpartei» bei migrationspolitischen Fragen im Nationalrat oft den Weg des Alleingangs, was wiederholt Mitte-links-Bündnisse ermöglichte, die sich im Ständerat relativ konfliktfrei spiegeln liessen. Andererseits zeigt der geringe Anteil an Einigungskonferenzen in der Aussenpolitik, dass die beiden Kammern diesbezügliche Konflikte im Vergleich zu anderen Politikfeldern institutionell bedingt weniger offen austragen können. So kommt bei der Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrages ein abgekürztes Differenzbereinigungsverfahren zur Anwendung; Staatsverträge können nur insgesamt angenommen oder abgelehnt werden (Art. 95 Bst. c ParlG). 

Fazit: Einigungskonferenzen – oder: von (abgewendeten) Scherbenhaufen

So gross der «Scherbenhaufen» im Falle gescheiterter Einigungsanträge[ii] auch ist, so überraschend selten trat dieser trotz der deutlichen Zunahme an Einigungskonferenzen auch in neuester Zeit auf. Mit anderen Worten sollte daraus nicht vorschnell auf eine grundsätzliche Blockadesituation zwischen National- und Ständerat geschlossen werden. Allerdings muss die Zukunft weisen, wie das Bundesparlament mit der deutlich höheren interkameralen Konfliktivität umgeht, sollten gegenläufige parteipolitische Mehrheitsverhältnisse wie in der aktuell laufenden 50. Legislatur zum Regelfall werden.

Eine kurze Geschichte der Einigungskonferenz
Auch wenn sich im Jahr 1849 Bundesrat und Nationalrat darüber einig waren, dass «im Falle beharrlicher Meinungsverschiedenheiten Ausgleichsversuche durch eine gemischte Kommission» (Kamer 1953: 162) vorgenommen werden müssten, scheiterte die bei der Gründung des Bundesstaates angedachte Einführung einer dem britischen bzw. dem U.S.-amerikanischen System nachempfundenen «ultima ratio»-Vermittlungseinrichtung am Einspruch des Ständerats. Dieser fürchtete sich vor einer Majorisierung durch den zahlenmässig grösseren Nationalrat in einem solchen Gremium (Seeger 1915: 109 ff.).

Die Einigungskonferenz wurde schliesslich erst mit der Totalrevision des Geschäftsverkehrsgesetzes vom 9. Oktober 1902 eingeführt. Erstens war die Anzahl Mitglieder in der Einigungskonferenz bis 1992 nicht beschränkt (Kamer 1953: 162–64). Im Grundsatz wurden die Mitglieder der vorberatenden Kommissionen in die Einigungskonferenz entsandt. Weil die ständerätlichen Kommissionen jedoch mitgliedsmässig kleiner sind und sich die «Kantonskammer» daher vor einre Majorisierung durch den Nationalrat fürchtete, musste in vielen Fällen mehr als die Hälfte des Ständerates in die Einigungskonferenz delegiert werden, um die Parität zur Grösse der vorberatenden nationalrätlichen Kommission zu wahren (Bericht Kommission-NR vom 16. Mai 1991). Zweitens war bis 1992 die Anzahl der Beratungen in den Räten nicht beschränkt; die Einigungskonferenz wurde erst bei «definitive[m] Beharre[n]» (Kamer 1952: 161) – das heisst, nur dann, wenn ein Rat seinen Beschluss als «endgültig» erklärte – einberufen. Das 1937 beschlossene Strafgesetz, dem vor erfolgtem «Endgültigkeitsbeschluss» 16 Beratungen vorausgingen, bildete den Extremfall (Theler 2014: 658). Seit 1992 ist die Anzahl auf drei Beratungen pro Rat beschränkt, nach deren Erfolgslosigkeit zwingend eine Einigungskonferenz einzuberufen ist (Art. 91 Abs. 1 ParlG). Ebendiese Neuerung liefert eine rechtlich-technische Erklärung der Zunahme (vgl. Abbildung 1).

 


[i] Relativierend gilt es zu berücksichtigen, dass das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD), denen die meisten parlamentarischen Geschäfte aus dem Bereich «Finanz- und Steuerwesen» zugeordnet sind, im langjährigen Vergleich mit Abstand die höchste Geschäftslast zu tragen hat (Burri 2007; vgl. auch das Kapitel von Sereina Dick im von Adrian Vatter herausgegebenen Sammelband «Das Parlament in der Schweiz»). Zudem kommt bei der Behandlung des Voranschlages («Bundesbudget») und von Nachtragskrediten ein spezielles Differenzbereinigungsverfahren zum Tragen, bei dem anders als bei allen übrigen Erlassentwürfen ein gesetzlicher Zwang zur Einigung besteht. Beim Verwerfen eines Einigungsantrages zum Voranschlag des Bundes oder über einen Nachtrag gilt «der Beschluss der dritten Beratung, der den tieferen Betrag vorsieht» (Art. 94 ParlG) automatisch als angenommen. Spieltheoretisch gesehen bietet diese gesetzliche Regelung für den «sparwilligeren» Rat keinerlei Anreize, im Zuge der Differenzbereinigung auf Kompromissvorschläge einzutreten.

[ii] Für eine qualitativ-vergleichende Analyse der zwischen 1992 und 2017 gescheiterten Einigungsanträgen vgl. das Kapitel von Freiburghaus im von Adrian Vatter herausgegebenen Sammelband «Das Parlament in der Schweiz».


Literatur:

  • Burri, Boris (2007). Statistik über die Erlasse der Bundesversammlung. LeGes 18(2): 319–326.
  • Huber-Hotz, Annemarie (1991). Das Zweikammersystem – Anspruch und Wirklichkeit. S. 165–82. In Das Parlament, „oberste Gewalt des Bundes“? Festschrift der Bundesversammlung zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, hrsg. v. Parlamentsdienste. Bern/Stuttgart: Haupt.
  • Kamer, Hans-Ulrich (1953). Das Zweikammersystem im schweizerischen Bundesstaat. Baar: Buchdruckerei J. Dossenbach Erben.
  • Kirchhof, Paul (2004). Entparlamentarisierung der Demokratie? In Demokratietheorie und Demokratieentwicklung. Festschrift für Peter Graf Kielmansegg, hrsg. v. André Kaiser und Thomas Zittel, in: A. Kaiser und T. Zittel (Hrsg.). Demokratietheorie und Demokratieentwicklung. Festschrift für Peter Graf Kielmansegg. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 359–376.
  • Lijphart, Arend (2012). Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in 36 Countries. New Haven, CT/London: Yale University Press.
  • Seeger, Hans (1915). Das Gesetzgebungsverfahren in der schweizerischen Bundesversammlung. Weinfelden: Buchdruckerei Gebr. Schlapfer.
  • Theler, Cornelia (2014). Verfahren zwischen den Räten. S. 633–76. In Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002, hrsg. v. Martin Graf, Cornelia Theler und Moritz von Wyss. Basel: Helbing + Lichtenhahn.
  • Trivelli, Laurent (1975). Le bicamérisme. Institutions comparées. Étude historique, statistique et critique des rapports entre le Conseil National et le Conseil des États. Lausanne: Payot.
  • Vatter, Adrian (2018). Das politische System der Schweiz, 3. Auflage. Baden-Baden: Nomos.

 

Referenz:

Freiburghaus, Rahel (2018). Ein grosser Scherbenhaufen? Einigungskonferenzen im schweizerischen Zweikammersystem, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.

 

Bild: www.parlament.ch