1

Das Herz des Milizsystems schlägt in den Kantonen

Pirmin Bundi, Sarah Bütikofer, Daniela Eberli
26th September 2018

Auf Bundesebene gilt das Milizsystem als überholt, in den Kantonen aber sind die Parlamente noch eindeutige Milizparlamente. Allerdings ist der zeitliche Aufwand für das Parlamentsmandat von Mitglied zu Mitglied unterschiedlich und umso grösser bei Mitgliedern mit Ambitionen auf eine Karriere in der nationalen Politik. Wir zeigen in unserem Beitrag auf, wie es um die Professionalisierung der Schweizer Parlamente steht und wie sich die Unterschiede der Professionalisierung der Parlamente erklären lassen.

Das Milizsystem gilt zunehmend als Mythos. Doch ist das ganz allgemein so? Wirft man einen Blick auf die Daten aus einer vergleichenden Befragung (vgl. Eberli et al. 2014), zeigt sich, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf Bundesebene im Durchschnitt deutlich mehr Zeit in ihr Mandat investieren als die Mitglieder der kantonalen Parlamente (Abbildung 1).
 
Abbildung 1: Darstellung der eingesetzten Arbeitszeit für ein Mandat (Bundesebene und Kantone)
Quelle: Eberli et al. (2014). Die Angaben beruhen auf der Selbsteinschätzung der befragten Parlamentsmitglieder.

Nationalrätinnen und Nationalräte wenden im Durchschnitt 64 Prozent einer Vollzeitstelle für das Mandat auf, während das Pensum im Ständerat bei durchschnittlich 73 Prozent liegt. Dieser Unterschied liegt vornehmlich darin, dass die Mitglieder der kleinen Kammer mehr Kommissionsmitgliedschaften aufweisen. Allerdings gibt es grosse Unterschiede innerhalb der Bundesversammlung. Im Nationalrat ist die Streuung viel grösser als im Ständerat und reicht von 25 bis 100 Prozent. Allerdings muss hier angefügt werden, dass lediglich fünfzehn Ständerätinnen und Ständeräte über ihre Arbeitsbelastung Auskunft gegeben haben.

Im Gegensatz zur Bundesebene investieren Mitglieder kantonaler Parlamente in der Regel zwischen 5 und 40 Prozent eines Vollzeitpensums für das Amt, im Durchschnitt wenden sie rund einen Arbeitstag dafür auf. Allerdings variiert die investierte Zeit zwischen den Mitgliedern der verschiedenen kantonalen Parlamente deutlich. In den kleinen Kantonen Glarus und Appenzell Innerrhoden investieren die Parlamentsmitglieder nur etwa sieben Prozent einer Vollzeitstelle für das Parlamentsmandat, während ihre Kolleginnen und Kollegen in den Parlamenten der Kantone Zürich, Waadt oder Genf mehr als 30 Prozent ihrer Zeit für das Amt aufwenden. Generell investieren die Parlamentsmitglieder der lateinischen Schweiz im Durchschnitt mehr Zeit ins Amt als jene der Deutschschweiz.

Die Professionalisierung unterscheidet sich aber auch innerhalb eines kantonalen Parlaments. Im Kanton Genf investieren alle Parlamentsmitglieder zwischen 20 und 60 Prozent eines Vollzeitpensums ins Mandat. Dies ist aber eher die Ausnahme, in der Regel gibt es viel grössere Unterschiede von Mitgliedern des gleichen Parlaments. Im Kanton Thurgau beispielsweise investieren die Parlamentsmitglieder im Schnitt 15 Prozent einer Vollzeitstelle in das Parlamentsmandat, aber Einzelne von ihnen wenden 40 oder sogar 70 Prozent auf.

Das Milizparlament in den Köpfen
Die schweizerische Bundesversammlung sieht sich nicht als Vollzeitparlament, sondern als sogenanntes Milizparlament, in welchem die Parlamentsmitglieder ihr politisches Amt neben ihrer angestammten Berufstätigkeit ausüben können. Jüngere empirische Untersuchungen (Sciarini et al. 2017, Pilotti 2017, Bütikofer 2014) zeigen aber alle, dass das Parlamentsmandat auf nationaler Ebene mittlerweile mindestens einer Halbtagsstelle entspricht. Im normalen Sprachgebrauch wird nach wie vor der Begriff Milizparlament verwendet, obwohl die Bundesversammlung - wenn schon - höchstens noch als Mischung zwischen Teilzeit- und Berufsparlament bezeichnet werden kann.[1]
 
Auf kantonaler Ebene sieht die Professionalisierung der Parlamentsmitglieder ganz anders aus. Die 26 kantonalen Parlamente unterscheiden sich allerdings hinsichtlich Grösse, Organisation sowie Struktur zum Teil deutlich voneinander, weshalb verallgemeinernde Aussagen schwierig zu tätigen sind. Aus den wenigen vorliegenden Untersuchungen (Feh Widmer 2015, Blum 1978) weiss man aber, dass es beträchtliche Unterschiede bei der eingesetzten Arbeitszeit der kantonalen Ratsmitglieder gibt und dass die grosse Mehrheit nach wie vor vorbehaltlos als Milizparlamentarierinnen und Milizparlamentarier bezeichnet werden können. 
Welche Faktoren erklären die Professionalisierung?

Auf Bundesebene spielen strukturelle Faktoren eine entscheidende Rolle. So erhöht die Anzahl Kommissionssitze die investierte Arbeitszeit, was sich vor allem im Ständerat bemerkbar macht. Unsere Analysen zeigen aber auch, dass die Mitglieder der SP ihrem Mandat deutlich mehr Zeit widmen als Mitglieder anderer Parteien. Zudem weisen unsere Resultate darauf hin, dass Frauen verhältnismässig mehr Kommissionsmandate einnehmen. Verteilen sich neben den Kommissionsmandaten auch die Repräsentations- oder Medienarbeit auf wenige Parlamentarierinnen, setzen sie im Durchschnitt auch mehr Zeit für die politische Arbeit ein.

In den Kantonen sieht es anders aus. Vor allem die Parlamentsmitglieder, die für ein Mandat auf nationaler Ebene kandidierten, wenden mehr Zeit auf als diejenigen ohne Ambitionen auf einen Sitz im Nationalrat. Ganz generell investieren kantonale Parlamentarierinnen mehr Zeit in ihr Mandat als ihre männlichen Pendants, ältere Parlamentsmitglieder mehr als jüngere und Personen aus Berufsgruppen, die sich an extern vorgegebene Präsenzzeiten am Arbeitsplatz halten müssen (beispielsweise Lehrpersonen, Beschäftige im Gesundheitswesen, etc.) weniger als andere Berufsgruppen, ungeachtet aller anderen Faktoren.

Zudem fanden wir auch Hinweise darauf, dass die individuelle Professionalisierung der Parlamentsmitglieder umso tiefer ausfällt, je dominanter die Exekutive in einem Kanton ist. Wie aus Abbildung 2 ersichtlich ist, wenden beispielsweise die Parlamentsmitglieder aus den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden, die über eine starke Exekutive verfügen, besonders wenig Zeit auf. Die Mitglieder der eher starken Kantonsparlamente in Genf oder Basel-Landschaft (vgl. Wirz 2018) sind hingegen deutlich stärker professionalisiert. Eine stärkere Professionalisierung der Parlamentsmitglieder kann auch als Reaktion der Parlamentsmitglieder gegen die zunehmende „Ohnmacht des Parlamentes“ (vgl. Wirz 2018) interpretiert werden. Engagieren sich die Parlamentsmitglieder zeitlich stärker, können sie Fachexpertise und Präsenz erhöhen, dadurch verstärkt sich auch ihre Position gegenüber der Exekutive.

Abbildung 2: Zusammenhang Professionalisierung und Exekutivdominanz der Kantonsparlamente

Einschränkungen der Analysen

Unsere Analyse bringt allerdings gewisse Einschränkungen mit sich. Die Datengrundlage basiert auf den Angaben derjenigen Parlamentsmitglieder, die bereit waren, an der Befragung teilzunehmen.

Zum einen sind dies möglicherweise diejenigen Parlamentsmitglieder, die sich stärker mit dem Amt identifizieren und ohnehin mehr Zeit investieren (Bundi et al. 2016). Zum anderen ist es für Parlamentsmitglieder schwierig, pauschal einen Wert für ihre parlamentarische Arbeit zu beziffern, da der Arbeitsaufwand schwankt. Die neuste Studie von Sciarini et al. (2017) zeigt auf, dass es daher sinnvoll sein kann, die Parlamentsmitglieder nach den einzelnen Aufgabenbereichen zu fragen.

Zudem muss in Bezug auf die Bundesebene auch bedacht werden, dass die Aussagekraft durch die sinkende Antwortbereitschaft der Parlamentsmitglieder limitiert wird. Allerdings gibt es diverse bisherige Studien zur Professionalisierung der Bundesversammlung, anhand derer wir die Daten validieren können, sodass wir von der Robustheit der Resultate überzeugt sind: Das Milizsystem lebt, doch sein Herz schlägt in den Kantonen und nicht in Bern unter der Bundeshauskuppel.

Daten und Methoden
Für unsere Analyse stützen wir uns auf eine Befragung, die 2014 durchgeführt wurde und an welcher 55.3 Prozent aller Mitglieder des National- und Ständerats sowie der kantonalen Legislativen teilgenommen haben (Eberli et al. 2014). Für die Regressionsanalysen unterscheiden wir zwischen der Bundes- und der Kantonsebene, da sich die Anforderungen und auch die institutionellen Rahmenbedingungen eines Parlamentsmandates auf Bundesebene von einem Mandat in einem Kantonsparlament deutlich unterscheiden. Wir haben in unseren Modellen folgende Determinanten einbezogen: Parlamentskammer, Parteizugehörigkeit, Geschlecht, beruflicher Hintergrund, parlamentarische Erfahrung, politische Karriereplanung sowie Funktion im Parlament.
 
 
 [1] Die Begrifflichkeit des Milizparlamentes wird auch auf der Webseite des Parlaments sowie in offiziellen Publikationen des Bundes so verwendet. 

Literatur:
  • Blum, Roger (1978). Rolle, Schwierigkeiten und Reform der kantonalen Parlamente, In Annuaire suisse de science politique - Schweizerisches Jahrbuch für politische Wissenschaft. Bern: Haupt (11–32).
  • Bundi, Pirmin, Frédéric Varone, Roy Gava und Thomas Widmer (2016). Self-Selection and Misreporting in Legislative Surveys. Political Science Research and Methods.
  • Bütikofer, Sarah (2014). Das Schweizer Parlament: eine Institution auf dem Pfad der Moderne. Baden-Baden: Nomos.
  • Eberli, Daniela, Primin Bundi, Kathrin Frey, Thomas Widmer (2014). Befragung Parlamente und Evaluationen: Ergebnisbericht.
  • Feh Widmer, Antoinette (2015). Parlamentarische Mitgliederfluktuation auf subnationaler Ebene in der Schweiz. Baden-Baden: Nomos.
  • Pilotti, Andrea (2017). Entre démocratisation et professionnalisation: le Parlement suisse et ses membres de 1910 à 2016. Zürich: Seismo.
  • Sciarini, Pascal, Frédéric Varone, Giovanni Ferro-Luzzi, Fabio Cappelletti, Fabio, Vahan Garibian, und Ismail Muller (2017). Étude sur le revenu et les charges des parlementaires fédéraux. Université de Genève.
  • Wirz, Rolf (2018). Oberste Gewalt in den Kantonen? Wahl-, Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion kantonaler Parlamente, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.

     

Referenz:

Bundi, Pirmin, Daniela Eberli und Sarah Bütikofer (2018). Zwischen Beruf und Politik: die Professionalisierung in den Parlamenten, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.

 

Bild: Kantonsrat Appenzell Ausserrhoden