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DSI: Nur wenige Politmuffel gingen erstmals an die Urne

Thomas Milic
24th Februar 2017

Die Durchsetzungsinitiative scheiterte an der Urne klar – bei rekordhoher Stimmbeteiligung. So deutlich wurde dies nicht erwartet, weshalb sich die Kommentatoren mit Superlativen über die wachgerüttelte Zivilgesellschaft überboten. Doch war dem wirklich so? Meine Analye zeigt die Fakten: Nur zwischen zwei bis fünf Prozent der Stimmenden gingen am 28. Februar 2016 erstmals an die Urne.

Die Stimmbeteiligung betrug am 28. Februar 2016 63.1 Prozent. Das war die höchste Beteilgung seit 1992, als über den EWR-Beitritt der Schweiz abgestimmt wurde. Die Stimmbeteilung lag damit fast zwanzig Prozentpunkte höher als im langjährigen Mittel.

Hat die breit angelegte Kampagne gegen die Durchsetzungsinitiative, die viele verschiedene Akteure einbezog, tatsächlich viele Politmuffel wachgerüttelt und insbesondere eine grosse Zahl junger Menschen an die Urne gebracht? Gar eine ganze Generation politisiert, wie euphorische Kommentatoren glaubten?

Die Durchsetzungsinitiative
Die Initiative hatte zum Ziel gehabt, dass noch einmal über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer abgestimmt wird. Doch sechs von zehn Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern schickten die Durchsetzungsinitiative der SVP bachbab, sie kam nur auf 41.1 Prozent Zustimmung.

Wurden die Jungen im Vergleich zu anderen Vorlagen überdurchschnittlich mobilisiert?

Ja, die DSI-Abstimmung wirkte in der Tat elektrisierend auf die Jungen, insbesondere in der Deutschschweiz. Bei aller Euphorie darf dabei aber nicht vergessen werden, dass bei der Jugendbeteiligung auch viel Luft nach oben vorhanden ist. Denn auch die über 60-Jährigen nahmen überdurchschnittlich häufig an der DSI-Abstimmung teil. Weil die allgemeine Beteiligung in dieser Altersgruppe aber deutlich über jener der jungen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger liegt, fiel der Mobilisierungseffekt der DSI hier weniger spektakulär aus. Im Endeffekt blieb die Jugendbeteiligung auch am 28. Februar 2016 unter derjenigen der (meisten) anderen Altersgruppen.

Die Mobilisierungsanalyse im Detail

Die Analyse der tatsächlichen Mobilisierung konnte für die Städte St.Gallen und Luzern sowie den Stadtkanton Genf durchgeführt werden und zeigt deutlich: Vor allem Junge aus der Deutschschweiz beteiligten sich überdurchschnittlich stark an der DSI-Abstimmung - auch und gerade im Vergleich zu anderen Altersgruppen

(Luzern und Genf können per Klick auf die Legende eingeblendet werden)

Die Differenz zur durchschnittlichen Beteiligung betrug bei den 18-35-jährigen St. Gallerinnen und St. Galler zwanzig bis dreissig Prozentpunkte. In einzelnen Jahrgängen nahmen fast doppelt so viele Stimmberechtigte teil wie sonst.

Das Beteiligungsmuster in der Stadt Luzern gleicht demjenigen der Stadt St. Gallen auffallend stark. Zwar haben sich alle Altersgruppen stärker beteiligt als sonst, aber bei den Jungen fiel die Mobilisierung stärker aus als bei den älteren Stimmberechtigten.

In Genf sieht es etwas anders aus. Allgemein erreichte die Stimmbeteiligung in Genf mit 55 Prozent keinen rekordhohen Wert wie in gewissen Kantonen der Deutschschweiz. Auch war die DSI für die jungen Genferinnen und Genfer kein derartiger Mobilisierungsmotor wie für die Deutschschweizer Jugend, die Beteiligungsdifferenz lag bei weniger als zehn Prozentpunkten.

Daten und Methoden
Die Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen und des Kantons Genf lassen sich individuell verknüpfen, wodurch die kumulative Partizipationshäufigkeit ermittelt werden kann. Die Stadt St. Gallen weist seit 2010 diverse Angaben wie z.B. das Alter der an Wahlen und Abstimmungen teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger. Das ermöglicht es, die tatsächliche - unverzerrte - Beteiligungshäufigkeit der Stimmberechtigten nach Alter (und einigen anderen Merkmalen) zu rekonstruieren. Diese Registerdaten haben gegenüber Umfragedaten den Vorteil, dass sie frei von Verzerrungseffekten sind. Aber ihre Ergebnisse sind nur bedingt generalisierbar: Was für die Stadt St. Gallen gilt, muss nicht zwingend für die ganze Schweiz zutreffen. Indes, St. Gallen scheint einer Vergleichsstudie gemäss (Arnold 2014) ein durchaus brauchbares Abbild der gesamten Deutschschweiz zu sein.

Haben die Jungen mehrheitlich gegen die DSI gestimmt?

Dafür gibt es keine Hinweise. Sowohl die VOX-Analyse wie auch die online durchgeführte Nachbefragaung von TA-Media zeigen keine grundlegenden Unterschiede im Stimmverhalten zwischen den Generationen.

War die DSI-Mobilisierung einmalig?

Es ist höchst fraglich, ob am 26. Februar 2016 tatsächlich Massen von ansonsten politisch Apathischen an die Urne geströmt sind, um anschliessend wieder in die gewohnte politische Lethargie zurückzufallen. Je nach Berechnungsweise (siehe Infobox) gelangt man in der Stadt St. Gallen zu einem Wert zwischen zwei und maximal fünf Prozent an erstmalig Teilnehmenden. Unter "Massen" verstehen die meisten wohl anderes als diese einstelligen Werte.

Allerdings zeigt obige Grafik, dass es sich bei der DSI-Abstimmung trotzdem um einen aussergewöhnlichen Urnengang handelte. Denn bei keiner anderen Abstimmung war die Sogwirkung auf die normalerweise Polit-Abstinenten so stark. Nur bei den Wahlen 2015 und der MEI-Abstimmung wurde mit knapp sechs Prozent bei den einmalig Teilnehmenden ein vergleichbar hoher Wert ermittelt.

Der kleine, aber feine Unterschied

Das Fazit klingt deshalb vordergründig widersprüchlich: Obwohl die DSI-Neumobilisierung in absoluten Zahlen gering ausfiel, war sie trotzdem ungewöhnlich hoch. Dieser Widerspruch resultiert daraus, dass vielerorts nach wie vor die nachweislich falsche Ansicht vorherrscht, dass sich in der Schweiz nur etwa die Hälfte der Stimmberechtigten an Urnengängen beteiligt. Für die isolierte Betrachtung einzelner Vorlagen stimmt dies häufig auch. Bloss, es ist bei weitem nicht immer die gleiche Hälfte, die sich beteiligt.

Die Auswertungen von Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen wie auch des Kantons Genf (Dermont 2016; Sciarini u. a. 2016; Serdült 2013; Tawfik, Sciarini und Horber 2012) haben wiederholt gezeigt, dass sich eine erhebliche Zahl der Bürgerinnen und Bürger selektiv an Abstimmungen und Wahlen beteiligt. Betrachtet man nun die Beteiligung über mehrere Urnengänge hinweg, so beteiligen sich zwischen 80 und 90 Prozent aller Stimmberechtigten zumindest einmal innerhalb eines Zeitraums von vier oder fünf Jahren.

Es gibt demnach gar nicht so viele Politmuffel wie angenommen. Alleine dieser Befund macht es darum von vornherein wenig wahrscheinlich, dass an einem einzelnen Urnengang plötzlich Massen von bislang Polit-Abstinenten an die Urnen strömen. Deshalb, so das Fazit dieses Beitrages, ist dieser Wert von zwischen zwei und fünf Prozent an DSI-Neumobilisierten zwar klein, aber durchaus fein.

Berechnung der Teilnahme am 26. 2. 2016
Die Analyse des Vergleichs der Mobilisierung wurde wiederum mit den Daten des Stimmregisters der Stadt St. Gallen gemacht. Um die Urnenganghäufigkeit eines Bürgers ermitteln zu können, muss zunächst ein zeitliches Intervall festgelegt werden.

Im Falle der St. Galler Daten drängt sich ein Untersuchungszeitraum zwischen 2010 und 2016 auf. Um eine zwischen den einzelnen Stimmberechtigten vergleichbare Betetiligungshäufigkeit ermitteln zu können, dürfen nur diejenigen St. Galler Stimmberechtigten berücksichtigt werden, die über die gesamte Zeitspanne hinweg auch im Stimmregister der Stadt St. Gallen eingetragen waren (vgl. dazu Dermont 2016 und Sciarini u. a. 2016, die genau die gleiche Forschungsstrategie anwenden). Das wiederum bedeutet, dass alle am Stichtag (28. Februar 2016) 18-24-Jährigen von vornherein aus der Analyse ausgeschlossen würden, weil sie zum Zeitpunkt der ersten, hier berücksichtigten Abstimmung (vom 7. März 2010) das Stimmrechtsalter noch nicht erreicht hatten (vgl. dazu Sciarini et al. 2016: 81).

Hinzu kommt, dass die «Alteingesessenen» in der Gruppe derer, die über die ganzen sechs Jahre im St. Galler Stimmregister enthalten waren, naturgemäss übervertreten sind. Studierende hingegen, die ihren Wohnsitz nach dem abgeschlossenen Studium öfter wechseln, sind unter den permanent Ansässigen tendenziell untervertreten. Genau diese beiden Gruppen – Junge im Generellen und (junge) Studierende im Speziellen – wurden von den Medien jedoch oftmals als die Träger dieser neuartigen Mobilisierung bezeichnet. Sie unberücksichtigt zu lassen, wäre gewiss sträflich.

Deshalb bin ich dreistufig vorgegangen: Zuerst wurde der Anteil derer ermittelt, der seit 2010 ununterbrochen im St. Galler Stimmregister aufgeführt sind, aber einzig am 28. Februar teilnahmen. Dieser Anteil betrug gerade mal 1.6 Prozent.

In einem zweiten Schritt habe ich den Anteil derer ermittelt, die am 28. Februar zum ersten Mal (in der Stadt St. Gallen) teilnahmen – und zwar ungeachtet dessen, ob sie zuvor überhaupt die Möglichkeiten hatten, in der Stadt St. Gallen zu stimmen. Dieser Anteil kann im Prinzip als die obere Grenze (oder der Maximalwert) der Neumobilisierung betrachtet werden. Er betrug 5.1 Prozent.

In einem dritten und letzten Schritt wurde die Partizipationshäufigkeit für die jeweils zehn letzten Urnengänge ermittelt (siehe Abbildung). Sie betrug bei der DSI knapp sieben Prozent.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Milic, Thomas (2016): Wie einmalig war die Mobilisierung bei der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative?, Working Paper.


Literatur:

  • Arnold, Tobias (2014). »Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen als Rettung? Arbeitsbericht zur Möglichkeit der Verwendung von Referenzdaten für eine Stimmbeteiligungsgewichtung der Vox-Daten nach Altersgruppen.« Seminararbeit. Universität Bern.
  • Berinsky, Adam J. und Gabriel S. Lenz (2011). »Education and Political Participation: Exploring the Causal Link«. In: Political Behavior 33, S. 357–373.
  • Dermont, Clau (2016). »Taking Turns at the Ballot Box: Selective Participation as a New Perspective on Low Turnout«. In: Swiss Political Science Review 22 (2), S. 213–231.
  • Franklin, Mark N. (2002). »The Dynamics of Electoral Participation.« In: Comparing Democra- cies. Hrsg. von Laurence LeDuc, Richard Niemi und Pippa Norris. London: SAGE, S. 148– 169.
  • Sciarini, Pascal u.a. (2016). »The Underexplored Species: Selective Participation in Direct Democratic Votes«. In: Swiss Political Science Review 22 (1), S. 75–94.
  • Serdült, Uwe (2013). »Partizipation als Norm und Artefakt in der schweizerischen Abstimmungsdemokratie – Entmystifizierung der durchschnittlichen Stimmbeteiligung anhand von Stimmregisterdaten aus der Stadt St. Gallen«. In: Direkte Demokratie: Herausforderungen zwischen Recht und Politik, Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Andrea Good und Bettina Platipodis. Bern: Stämpfli, S. 41–50.
  • Tawfik, Amal, Pascal Sciarini und Eugène Horber (2012). »Putting voter turnout in a longitu- dinal and contextual perspective: an analysis of actual participation data«. In: International Political Science Review 3 (3), S. 352–371.
  • Verba, Sidney, Kay L. Schlozman und Nancy Burns (2005). »Family ties. Understanding the intergenerational transmission of political participation«. In: The social logic of politics. Hrsg. von Alan Zuckerman. Philadelphia: Temple University Press, S. 95–17.

Grafiken:
Salim Brüggemann

Datenquellen:
Fachstelle für Statistik St. Gallen, Statistikdaten Stimmbeteiligte Stadt St. Gallen
Stadt Luzern, Wahl- und Abstimmungstatistiken
Republique et Canton de Geneve, Statistiques Cantonales

Titelbild:
Códice Tuna Colectivo de Arte (CC-BY-NC-ND)