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Bedenkliches Demokratiedefizit: Viertel der Schweizer Bevölkerung von Mitbestimmung ausgeschlossen

Andrea C. Blättler, Joachim Blatter, Samuel D. Schmid
18th October 2016

Die Schweiz verweigert fast einem Viertel ihrer erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner die politischen Rechte. Das damit verbundene Demokratiedefizit ist in der Schweiz deutlich stärker ausgeprägt als in den allermeisten anderen europäischen Demokratien. Das zeigt der Vergleich von zwanzig EU-Staaten und der Schweiz anhand des Immigrant Inclusion Index (IMIX), der an der Universität Luzern entwickelt wurde.

Fast ein Viertel aller erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz sind – wegen ihres Migrationshintergrundes – von der politischen Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen. Dies wird in der Schweizer Öffentlichkeit kaum diskutiert, obwohl Migrationsthemen die politische Agenda dominieren. Dieser Ausschluss von Migrantinnen und Migranten aus dem Stimmvolk ist keineswegs “normal”, wie unsere vergleichende Analyse zeigt: Neunzehn von zwanzig europäische Demokratien sind in dieser Hinsicht demokratischer als die Schweiz und inkludieren Immigrantinnen und Immigranten politisch zum Teil deutlich besser.

Demokratie: Government of the people, by the people, and for the people

Abraham Lincoln‘s Beschreibung der Demokratie als government of the people, by the people, and for the people ist weltberühmt. Vor allem die letzten Definitionselemente werden oft herangezogen, um über demokratische Legitimität zu urteilen.

Der Europäischen Union wird beispielsweise ein Demokratiedefizit ausgewiesen, da die Politik der EU nicht direkt durch die Bevölkerung Europas bestimmt werden kann und weil zwischen den Vorgaben der EU und den verschiedenartigen Interessen in der Bevölkerung Spannungsfelder bestehen (für einen Überblick siehe Jensen 2009). Im Gegensatz dazu geht man bei Nationalstaaten im Allgemeinen und bei der Schweiz im Besonderen von adäquaten demokratischen Strukturen und Mechanismen aus.

Politische Rechte von Immigrantinnen und Immigranten im Vergleich

Wie aber verhält es sich mit dem ersten und grundlegendsten Element von Lincolns Beschreibung: Wer gehört zum regierenden Volk dazu und wer nicht?

Wir haben mittels des von uns entwickelten Immigrant Inclusion Index (IMIX) verglichen, wie zwanzig EU-Staaten und die Schweiz ihre Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund politisch inkludieren (siehe Infobox). Das Mass an politischer Inklusion besagt, wie hoch der Anteil der stetigen Wohnbevölkerung ist, der politisch mitbestimmen kann.

Dabei zeigt sich, dass europäische Nationalstaaten viel grössere demokratische Defizite aufweisen als gemeinhin angenommen. Die EU trägt aber mit ihren Vorgaben dazu bei, dass ihre Mitgliedsländer dieses Demokratiedefizit reduzieren, wohingegen das EU-Nichtmitgliedsland Schweiz im internationalen Vergleich besonders schlecht abschneidet.

Legende: Die Werte geben den Länderscore auf der IMIX Skala an (0-100), welcher dem geometrischen Mittel von de jure und de facto Inklusivität entspricht; 20 etablierte EU-Demokratien mit stabilen Grenzen und die Schweiz wurden untersucht, die Daten sind von 2010 oder möglichst naheliegend.

Grosse Unterschiede zwischen den Staaten 

Die Demokratien Europas sind von einem wirklich universellen Wahlrecht noch weit entfernt. Es gibt zwischen den Ländern aber deutliche Unterschiede: Skandinavische Länder sowie Belgien und die Niederlande sind besonders inklusiv. Sie fördern nicht nur die Einbürgerung ihrer Immigrantinnen und Immigranten, sondern lassen einen Grossteil ihrer ausländischen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner auch dann mitbestimmen, wenn sie nicht eingebürgert sind – wenn auch nur auf der kommunalen Ebene.

Die hohe Exklusivität der Schweiz lässt sich nicht nur damit erklären, dass das Land viele Migrantinnen und Migranten anzieht, diese im Rahmen der bilateralen Verträge auch einwandern liess und somit de facto viele zu inkludierende Immigrantinnen und Immigranten hat. Auch bei der Vermessung ihrer de jure Inklusivität (siehe Infobox) schneidet die Schweiz sehr schlecht ab, was zeigt, dass sie Einwandernde nicht oder nur sehr zögerlich inkludieren will.

Weshalb, wie und wann sollen Demokratien Immigranten inkludieren?

Seit den antiken Philosophen beschäftigt sich die normative Demokratietheorie damit, wie Demokratien sein sollen. Heutzutage besteht, trotz vielen anderen Gegensätzen, weitgehende Einigkeit in der Frage, wie Demokratien mit der internationalen Migration umgehen sollen: Immigrantinnen und Immigranten, die zu langfristigen legalen Bewohnerinnen und Bewohnern geworden sind, müssen über das Stimm- und Wahlrecht verfügen (Dahl 1989, 2000; Miller, 2008; Rubio-Marin, 2000; Barber, 2003 [1984]); Pettit 2012). Nur so können alle, die den Gesetzen des Staates unterworfen sind, auch an der Formulierung dieser Gesetzgebung teilhaben.

Was genau heisst politisch inkludiert?

Darüber, wie und wann politische Inklusion genau stattfinden sollte, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Viele betrachten die Einbürgerung als Königsweg, weil sie den politischen Status der Bürgerschaft mit sich bringt. Einige fordern dagegen das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer, da eine Einbürgerung nicht zwingende Voraussetzung für politische Rechte sein soll.

Wer vor allem vom einzelnen Individuum ausgeht, vertritt eher die Meinung, dass Immigrantinnen und Immigranten im neuen Land sofort mitbestimmen können müssen, da alles andere einer Unterdrückung ihrer Selbstbestimmung gleichkommt. Wer sich dagegen stärker an der politischen Gemeinschaft orientiert, argumentiert, dass sich Immigrantinnen und Immigranten zuerst zu einem gewissen Grad selbst in die Gesellschaft integriert sollen.

 Der Immigrant Inclusion Index (IMIX)

Mit unserem IMIX (siehe Infobox) bilden wir den grösstmöglichen gemeinsamen Nenner dieser unterschiedlichen Positionen ab: Erstens berücksichtigen wir sowohl die Einbürgerung als auch das Ausländer-Stimmrecht, gewichten jedoch die Einbürgerung höher. Zweitens legen wir einen zeitlichen Massstab fest: Nach fünf Jahren Aufenthaltszeit sollte die politische Inklusion erfolgen, da man davon ausgehen kann, dass Immigrantinnen und Immigranten das politische System nach dieser Zeit hinreichend gut kennen. Zudem ist es relativ wahrscheinlich, dass sie auch künftig im Land wohnhaft bleiben (OECD, 2008).

Schweiz: Government of which people?

Die besonders starke Exklusivität der Schweizer Demokratie ist nichts Neues. Auch die Frauen blieben in der Schweiz viel länger vom Stimmvolk ausgeschlossen als in anderen Ländern. Dass sie das Stimm- und Wahlrecht 1971 doch noch erhielten, kann auch damit begründet werden, dass sich die Schweiz den europäischen Menschenrechtsnormen nicht länger verweigern wollte.

Im Gegensatz zum Frauenstimmrecht fehlt aber in Bezug auf die Inklusion der Immigrantinnen und Immigranten nicht nur weitgehend der interne Druck, sondern auch die rechtliche Einbettung in eine internationale Ordnung, welche die Durchsetzung universeller Menschenrechte unterstützt: Während die EU sicherstellt, dass ihre Mitgliedsländer alle EU-Bürgerinnen und Bürger bei Kommunalwahlen mitbestimmen lassen, unterliegt die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU dieser Verpflichtung nicht.

Bisher haben nur wenige Kantone und Gemeinden von sich aus beschlossen, ihr deutliches Demokratiedefizit durch ein Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer etwas abzumildern. (siehe z.B. Bisaz 2016). Auf Bundesebene wurde die Chance dazu mit der aktuellen Revision des Bürgerrechtsgesetzes vertan: Es tritt 2018 in Kraft und schreibt für die Einbürgerung eine zehnjährige Aufenthaltszeit fest.

Wie misst man Inklusivität?
Mit dem Immigrant Inclusion Index (IMIX) messen wir die politische Inklusivität. Wir fokussieren uns auf diesen Aspekt (und nicht zum Beispiel auf sozioökonomische oder kulturelle Integration von Immigrantinnen und Immigranten), weil wir untersuchen wollen, wer in einer Demokratie politisch mitbestimmen kann und wer nicht.

Wir messen politische Inklusivität folgendermassen: Anhand der Gesetzgebung eines Landes beurteilen wir zum einen, wie inklusiv das Land de jure ist, das heisst, wie stark die Gesetze darauf ausgelegt sind, der gesamten langfristigen Wohnbevölkerung politische Rechte zuzugestehen. Zum anderen berechnen wir, wie viele der Immigrantinnen und Immigranten, die eigentlich inkludiert werden müssten, de facto inkludiert sind, das heisst, tatsächlich über das Stimm- und Wahlrechte verfügen.

In beiden Dimensionen betrachten wir sowohl die Einbürgerung als auch das Ausländerwahlrecht. Daraus resultieren fünf Komponenten: Das Einbürgerungsrecht (Stärke des Rechts auf Einbürgerung durch Geburt auf dem Territorium, Einbürgerungsbedingungen und Toleranz der doppelten Staatsbürgerschaft), das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer (auf lokaler und nationaler Ebene), die Bürgerschaftsquote (Anteil der Bürgerinnen und Bürger an der langfristig wohnhaften Gesamtbevölkerung), die Einbürgerungsquote (Anteil der Eingebürgerten an der langfristig wohnhaften ausländischen Bevölkerung) und die Ausländerwahlrechtsquote (Anteil der wahlberechtigten Ausländerinnen und Ausländer an der langfristig wohnhaften ausländischen Bevölkerung, gewichtet nach lokalem und nationalem Wahlrecht).

Wir haben diese Komponenten wie folgt aggregiert: de jure Inklusivität ergibt sich aus dem arithmetischen Mittel des Einbürgerungsrechts (doppelt gewichtet; ordinale Skala von 0-100) und des Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer (ordinale Skala von 0-100); de facto Inklusivität ergibt sich aus dem arithmetischen Mittel der Bürgerschaftsquote (<90-100% linear transformiert auf den Bereich 0-100), der Einbürgerungsquote (0-10%< linear transformiert auf den Bereich 0-100) und die Ausländerwahlrechtsquote (0-100%).

Der Immigrant Inclusion Index (IMIX) ergibt sich durch das geometrische Mittel von de jure und de facto Inklusivität (Wurzel aus dem Produkt; beide Aspekte werden damit als notwenige Bedingungen für hohe Inklusivität behandelt).

Die Daten stammen aus dem Jahr 2010 und aus angrenzenden Jahren. In der Stichprobe unserer Studie sind zwanzig etablierte Demokratien in der EU (gemäss dem Blueprint-Sample des Demokratiebarometers) mit „genügend stabilen territorialen Grenzen“ (nicht gegeben für Lettland) plus die Schweiz enthalten.

Hinweis: Am Mittwoch, den 19. Oktober 2016 findet an der Universität Luzern eine Abendveranstaltung zur Thematik statt, an welcher mögliche Lösungen diskutiert werden: Die politische Inklusion der Immigranten in der Schweiz: Defizite und Handlungsmöglichkeiten. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht notwendig.

Dieser Beitrag bezieht sich auf Blatter, Joachim, Andrea C. Blättler und Samuel D. Schmid: The Immigrant Inclusion Index (IMIX), ein Forschungsprojekt, das an der Universität Luzern durchgeführt wird.


Quellen:

  • Barber, B.R. (2003 [1984]). Strong Democracy. Berkeley, CA: University of California Press.
  • Bisaz, C. (2016). Das Ausländerstimmrecht kann undemokratisch sein. DeFacto, 15.03.2016.
  • Blatter, J., Schmid, S.D. Blättler, A. C. (2016). “Democratic Deficits in Europe: The Overlooked Exclusiveness of Nation-States and the Positive Role of the European Union”, Journal of Common Market Studies (Im Erscheinen).
  • Dahl, R.A. (1989). Democracy and its Critics. New Haven: Yale University Press.
  • Dahl, R.A. (2000). On Democracy. New Haven: Yale University Press.
  • Jensen, T. (2009). “The Democratic Deficit of the European Union”, Living Reviews in Democracy, Vol. 1. (pp. 1-8).
  • Miller, D. (2008). “Immigrants, Nations, and Citizenship”, Journal of Political Philosophy, Vol. 16, No. 4 (pp. 371–390).
  • OECD (2008). International Migration Outlook, Part III – Return Migration: A New Perspective
  • Pettit, P. (2012). On the People’s Terms. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Rubio-Marin, R. (2000). Immigration as a Democratic Challenge. Cambridge: Cambridge University Press.

Grafik: Salim Brüggemann

Bild: Flickr.