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Volksinitiative durch ‘allgemeine Anregung’ ersetzen!

Nathalie Baumann
12th Juli 2016

Ist die Eidgenössische Volksinitiative eine Erfolgsgeschichte? Diese Frage stellte Andreas Glaser an einer Podiumsdiskussion zum 125. Geburtstag der Volksinitiative am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). Die rhetorischen Klingen kreuzten vier erprobte Wortkämpfer mit teilweise unkonventionellen Voten. 

Es liegt in der Natur der Sache: Die Volksinitiative ist umstritten. 1891 überstimmte eine Mehrheit der Schweizer eine mehr als skeptische Minderheit. Heute, 125 Jahre später, steht weniger das grundsätzliche Existenzrecht der Volksinitiative in Frage als ihre Ausgestaltung. Auslöserin dafür sind unter anderem Konflikte zwischen Volksinitiativen und internationalen Verträgen, was zur Folge hat, dass einige vom Volk angenommenen Initiativen vom Parlament kaum mehr umgesetzt werden können.

Oder das Parlament sie nicht umsetzen will, wie Andreas Kley, Staatsrechtler an der Universität Zürich, kritisiert. Das Parlament könne es gar nicht toll finden, wenn das Volk hineinrede. 

«Es ist nur logisch, dass das Parlament versucht, Volksinitiativen zu torpedieren.»

Andreas Kley, Staatsrechtler

Dazu bediene es sich verschiedener Verzögerungstaktiken, darunter die Schubladisierung oder die Erfindung von Ungültigkeitsgründen. Unter dem Deckmäntelchen der „Scheinrechtlichkeit“ versuche das Parlament, politisch unliebsame Forderungen aus dem Weg zu räumen.

Es ist nicht nur der Vorwurf der Scheinrechtlichkeit, der den Berner Ständerat Hans Stöckli in Rage bringt.

«Initiativen sind dazu da, das Staatswesen weiterzuentwickeln und nicht, um es in die konservative Ecke zu drängen.»

Hans Stöckli, Ständerat

So kontert Ständerat Stöckli, der Mitglied der Staatspolitischen Kommission ist und die Mobilisierung der Ständeräte gegen die Durchsetzungsinitiative orchestriert hat. Das Volk habe ein Recht darauf, zu wissen, welche Konsequenzen eine Initiative habe. „Will die SVP nun die bilateralen Verträge mit der EU kippen oder nicht? Ich weiss es bis heute nicht.“

Parlament muss seinen Job besser machen

Wer den meteorologisch milden, sonst aber hitzigen Abend am ZDA miterlebt hat, kann sich nun gut vorstellen, wie aufgeladen die Stimmung vor 125 Jahren gewesen sein muss. Die NZZ warnte damals kurz vor der Abstimmung davor, die Volksinitiative „würde für längere Zeit Aufregung und Unruhe“ bringen. Das tut sie in der Tat. Aber ist Ruhe in der Politik eine Alternative? 

Für Thomas Minder nicht. Für den Ständerat und Urheber der Abzockerinitiative ist die Volksinitiative eine „uneingeschränkte Erfolgsgeschichte, ein absoluter Erfolgsfaktor für die Stabilität des Landes“. Sie sei ein Katalysator für überfällige Debatten, zum Beispiel über die Vereinbarkeit von Volksrechten mit dem Völkerrecht. In der steigenden Anzahl von Initiativen sieht Minder kein Problem und meint lapidar:

«Wir müssen unseren Job in Bern besser machen, dann gibt es auch weniger Initiativen.»

Thomas Minder, Ständerat

Elite erreicht das Volk nicht

Für Markus Müller, Staatsrechtler der Universität Bern, wäre damit das Problem nicht gelöst. Ganz und gar nicht. Auch für ihn ist die Volksinitiative „die Perle der direkten Demokratie“. Aber: „Die Initiative ist nicht als strategisches Instrument von einzelnen Gruppen zu missbrauchen.“ Ausserdem seien die Stimmbürger  mit den Abstimmungsvorlagen zunehmend überfordert und könnten die Konsequenzen nicht abschätzen.

Damit handelt sich Müller sofort den Vorwurf ein, elitär zu sein, wogegen er sich vehement wehrt: Sein Votum richte sich nicht gegen das sogenannte einfache Stimmvolk. Auch Kollegen aus der Fakultät verstünden Vorlagen nicht, wie beispielsweise die Initiative Pro Service Public gezeigt habe.

Volk soll strategisches Ziel vorgeben

Müller schlägt vor, die Volksinitiative durch eine allgemeine Anregung zu ersetzen. Das Volk solle die Richtung und das strategische Ziel vorgeben, das Parlament dann eine entsprechende Vorlage ausarbeiten. Dieser radikale Reformvorschlag geht vielen Anwesenden gegen den Strich. Das sei viel zu unverbindlich und im Grunde eine Abschaffung der Volksrechte, beanstandet ein Gast aus dem Publikum. 

«Warum akzeptieren wir, dass nur 48 % der Bürgerinnen und Bürger an die Urne gehen?»

Markus Müller, Staatsrechtler

Die tiefe Beteiligung  ist gemäss Müller eine Folge der Überforderung des Volks. Ihm macht die zunehmende Politverdrossenheit Sorgen. Er plädiert dafür, wichtige Traktanden der politischen Agenda unabhängig von Abstimmungsterminen zu debattieren. Es gehe darum, wieder kurz, klar und für alle verständlich zu kommunizieren. "Nehmen wir uns in diesem Punkt ein Beispiel am Papst." 

Podium und Publikum debattieren 90 Minuten lang. Dann setzt Moderator Andreas Glaser, Ko-Direktor des ZDA und Rechtsprofessor an der Universität Zürich, einen vorläufigen Schlusspunkt. In der Verlängerung beim Apéro hört man hier und dort weitere Reformvorschläge. Wenn in 125 Jahren in Aarau der 250. Jahrestag der Volksinitiative gefeiert wird, wird klar sein, wer gewonnen hat, die Vertreter des Status Quo oder die Reformer. Aber die Unterlegenen können sich wehren. Schon am nächsten Tag. Das ist (auch) direkte Demokratie. 


Titelbild: Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA)