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Passives Ausländerwahlrecht statt Kandidatenmangel

Andreas Müller, Tobias Schlegel
17th März 2016

Könnte das passive Wahlrecht für Ausländer dem Personalmangel für politische Ämter in kleinen Gemeinden entgegenwirken? Die Denkfabrik Avenir Suisse analysiert in einer Studie, wie das passive Wahlrecht für Ausländer auf Gemeindeebene genutzt wird. Zwischen der Deutschschweiz und der Romandie zeigen sich diesbezüglich deutliche Unterschiede. 

Aarauer Demokratietage

In einer im Herbst 2015 erschienenen Studie hat sich Avenir Suisse mit dem passiven Wahlrecht für Ausländer auf Gemeindeebene befasst, also dem Recht, ohne Schweizer Nationalität in ein kommunales Amt gewählt werden zu können (vgl. Infobox «Unterschiedliche politische Rechte»). Ziel der Studie war es, Daten zur Existenz und zur Nutzung des passiven Wahlrechts in der Schweiz zu sammeln und damit eine bestehende Wissenslücke zu schliessen.

Die klare thematische Begrenzung dieser Studie mag auf den ersten Blick erstaunen, aber sie hat zwei gute Gründe: Die Fokussierung auf das passive Wahlrecht rührt erstens daher, dass die Idee für diese Untersuchung während den Arbeiten an einem Buch zum Milizsystem entstand. Auf der Suche nach Lösungen für das kriselnde Milizsystem stand die Frage im Raum, ob der Einbezug der ausländischen Bevölkerung dem Kandidatenmangel für politische Ämter entgegenwirken könnte. In diesem spezifischen Kontext spielen die übrigen politischen Rechte eine untergeordnete Rolle. Da, zweitens, das passive Wahlrecht für Ausländer lediglich in einigen Kantonen existiert und dort auch nur auf kommunaler Stufe gilt, ist die Untersuchung zwangsläufig auf die Gemeindeebene beschränkt.

INFOBOX: Unterschiedliche politische Rechte

Unter dem Begriff der politischen Rechte sind mehrere Formen der Beteiligung zusammengefasst:

  • Mitbestimmungsrecht: Das Recht der Teilnahme an Unterschriftensammlungen für Petitionen, Referenden oder Initiativen;
  • Stimmrecht: Das Recht, sich zu einem Thema zu äussern, das zur Abstimmung gebracht wurde, etwa im Rahmen eines Referendums oder einer Volksinitiative;
  • Aktives Wahlrecht: Das Recht, Kandidaten zu wählen, die für ein politisches Amt zur Verfügung stehen;
  • Passives Wahlrecht: Das Recht, selbst für ein politisches Amt zu kandidieren und gewählt zu werden.

Das passive Wahlrecht kann gewissermassen als höchstes der politischen Rechte bezeichnet werden. Oft werden Stimm- und aktives Wahlrecht erteilt, nicht aber das passive Wahlrecht. So beispielsweise auf Kantonsebene in Neuenburg und Jura oder auf Gemeindeebene im Kanton Genf.

Passives Wahlrecht in einem Viertel aller Gemeinden

Aktuell ist das passive Wahlrecht für Ausländer in den sieben Kantonen Jura, Appenzell-Ausserrhoden, Waadt, Graubünden, Freiburg, Basel-Stadt und Neuenburg in Kraft. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied zwischen der Deutschschweiz und der Romandie: Während das passive Wahlrecht in den Westschweizer Kantonen für alle Gemeinden gilt, überlassen es die drei Deutschschweizer Kantone ihren Gemeinden, ob sie den ausländischen Einwohnern das passive Wahlrecht gewähren wollen («Opting-in»). In Graubünden machen 22 der 125 Gemeinden davon Gebrauch, im Kanton Appenzell-Ausserrhoden sind es 3 von 20, in Basel-Stadt keine einzige. Schweizweit gewähren 600 Gemeinden mit gesamthaft mehr als einer Million Einwohner das passive Wahlrecht. Das entspricht rund einem Viertel aller Gemeinden.

Abbildung 1:

Passives Auslaenderwahlrecht

Grosse Unterschiede gibt es dabei auch hinsichtlich der Anforderungen an die Wohnsitzdauer, die für die Erteilung des passiven Wahlrechts erfüllt werden müssen. Freiburg, Neuenburg und die Mehrheit der Gemeinden in Graubünden erteilen das passive Wahlrecht frühestens nach fünf Jahren, während man in den Kantonen Waadt, Jura und Appenzell-Ausserrhoden sowie in einzelnen Gemeinden des Kantons Graubünden für mindestens zehn Jahre in der Schweiz wohnhaft sein muss.

Wo werden Ausländer gewählt?

Erstaunlicherweise ging noch keine Studie dieser Frage gesamtschweizerisch auf den Grund. Deshalb hat sich Avenir Suisse entschieden, mittels eines Online-Fragebogens bei den Gemeinden, die das passive Ausländerwahlrecht haben, nachzuhaken (vgl. Infobox «Online-Umfrage, Methode und Einschränkungen). Für die 317 Gemeinden, die an der Umfrage teilgenommen haben, ergaben sich folgende Resultate:

  • In 37 Gemeinden wurde bereits ein Ausländer in die Exekutive gewählt. Die Mehrheit dieser Gemeinden befindet sich in den Kantonen Waadt (20) und Freiburg (12), einige im Jura (3), und nur jeweils eine in den Kantonen Neuenburg und Appenzell-Ausserrhoden.
  • Insgesamt wurden bisher 39 Ausländer in die Exekutive gewählt. Davon sind 19 aktuell noch im Amt. Diese sind in den Kantonen Waadt (11), Freiburg (5), Jura (2) und Neuenburg (1) politisch aktiv.
  • In 177 Gemeinden nahmen bereits Ausländer an der Gemeindeversammlung teil oder wurden in die Legislative gewählt. Besagte Gemeinden liegen in den Kantonen Waadt (110), Freiburg (41), Neuenburg (11), Jura (9) und Graubünden (6).
  • Derzeit engagieren sich 148 Ausländer aktiv in Gemeindelegislativen (inkl. Gemeindeversammlungen), davon die grosse Mehrheit im Kanton Waadt (115), aber auch in Neuenburg (15), Freiburg (11) und Jura (5). Im Kanton Appenzell-Ausserrhoden sind zwei Ausländer in der Legislative aktiv.
  • Gesamtschweizerisch waren in der Vergangenheit 132 Ausländer in Gemeindelegislativen aktiv.
Das kriselnde Milizsystem beleben

Die relativ tiefen Fallzahlen belegen, dass sowohl aktuell als auch in der Vergangenheit wenig Ausländer in politische Ämter gewählt wurden, besonders in der Exekutive. Dies ist u.a. Ausdruck davon, dass die politischen Rechte für Ausländer Vielen unbekannt sind. Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen der Deutschschweiz, wo aktuell zwei Ausländer politisch aktiv sind, und der Romandie, die in Legislative und Exekutive 165 aktive Ausländer zählt. Auffallend ist auch, dass 13 der insgesamt 19 ausländischen Exekutivpolitiker in kleinen Gemeinden mit weniger als tausend Einwohnern tätig sind (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2:

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Diese Beobachtung ist besonders mit Blick auf das Milizsystem interessant, bekunden doch zumeist kleinere Gemeinden Mühe, passende Kandidaten zu finden. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Avenir Suisse: Kantone, die aktuell kein passives Wahlrecht für Ausländer kennen, sollen es ihren Gemeinden erlauben, den ausländischen Einwohnern das passive Wahlrecht (inkl. die anderen politischen Rechte auf kommunaler Ebene) zu erteilen («Opting-in»). Die Kriterien dafür müssten deutlich lockerer sein als bei der Einbürgerung. So könnte das Milizsystem wieder belebt werden, mit dem schönen Nebeneffekt eines positiven Einflusses auf die Integration ausländischer Mitbewohner.

INFOBOX: Online-Umfrage, Methode und Einschränkungen

Von April bis Mai 2015 hat Avenir Suisse eine Umfrage bei den Gemeindekanzleien der 600 Schweizer Gemeinden mit passivem Ausländerwahlrecht durchgeführt (Stand der Resultate: Juni 2015). Der kurze Online-Fragebogen (Dauer: 10 Minuten), wurde zur besseren Verständlichkeit an die kantonalen Gegebenheiten angepasst. Der Katalog umfasst Fragen zur Anzahl gewählter Exekutiv- und Legislativpolitiker (früher und heute) sowie zu den aktiven Ausländern auf Stufe Legislative, die nicht gewählt werden müssen (Gemeindeversammlung).

Die Rücklaufquote der Umfrage ist mit 52,8% – also 317 antwortende Gemeinden – zufriedenstellend. Die einwohnerstärksten Gemeinden der jeweiligen Kantone haben an der Umfrage teilgenommen. Eine Extrapolation der Ergebnisse auf die Gemeinden, die nicht an der Umfrage teilgenommen haben, ist dennoch nicht möglich. Auch nicht erfasst wurde, wie viele Ausländer sich erfolglos zur Wahl gestellt haben. Die Qualität und Genauigkeit der Antworten hängt letztlich stark von der Verfügbarkeit der Informationen und der Zeit der Umfrageteilnehmer in den Gemeinden ab.


Literatur:

  • Adler, Tibère, Moret, Hugo, Pomezny, Nicole und Schlegel, Tobias (2015): Passives Wahlrecht für aktive Ausländer. Passives Wahlrecht für aktive Ausländer Möglichkeiten für politisches Engagement auf Gemeindeebene. Avenir Suisse, Zürich. (DE/FR/IT).
  • Müller, Andreas (2015): Bürgerstaat und Staatsbürgerschaft. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne.  Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich. (DE/FR/IT).

Foto: Wikimedia Commons

Lektorat, Graphik & Layout: Pascal Burkhard