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Der Bosnische Frühling: Wie die Zivilgesellschaft den Demokratisierungsprozess beeinflussen kann

Valentina Petrovic
22nd Dezember 2015

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Die Demokratisierung verläuft in Bosnien-Herzegovina nicht gradlinig. Das multiethische Land sucht seinen Weg in Richtung demokratischer Normalität. Auch zwanzig Jahre nach Dayton scheint dieser noch unklar und lang zu sein. Plenen und Konferenzen, wie beispielsweise die der Offenen Universität Sarajevo scheinen ein Lichtblick zu sein.

Das Jahr 2014 war turbulent für Bosnien-Herzegovina: Das Land litt unter den schlimmsten Überschwemmungen seit mehr als hundert Jahren, was die ohnehin angeschlagene Wirtschaft und Infrastruktur zusätzlich schwächte. Gleichzeitig lief die Frist für die Umsetzung eines neuen Gesetzes bezüglich der Erstellung der ID-Nummern von Bosnischen Staatsbürgern aus. Es konnten keine Pässe mehr ausgestellt werden. Und dann wurden in der Industriestadt Tuzla gleichzeitig mehrere Firmen privatisiert und Tausende von Arbeitern auf die Strasse gestellt. 

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Abbildung 1: Bosnien und Herzegovina mit den Grenzen der Entitäten

Diese Ereignisse führten in diesem und im letzten Jahr zu den grössten Protesten in Bosnien-Herzegovina seit 1996. Vor allem Arbeiter, Studenten und Rentner demonstrierten tagelang. Schnell war von einem Bosnischen Frühling die Rede, vom Erstarken der Demokratie. Doch kann der Druck von der Strasse die demokratische Entwicklung eines Land überhaupt beeinflussen? 

Der Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Demokratie

Philosophen und Wissenschaftler attestieren zivilgesellschaftlichen Bewegungen eine tragende Rolle in Demokratisierungsprozessen (Rueschemeyer et al. 1992). Häufig unterstützt die internationale Gemeinschaft in den Ländern, die sich von einer Diktatur zu einer Demokratie hin entwickeln, nichtstaatliche Organisationen (NGOs). Dies deshalb, weil die Erfahrung zeigt, dass NGOs oder andere zivilgesellschaftliche Organisationen (siehe Infobox 1) die Etablierung der Demokratie positiv beeinflussen können.

Beispielsweise haben Organisationen wie OTPOR (Widerstand) und andere NGOs in Serbien einen wichtigen Beitrag zur Mobilisierung der Wähler bei den Wahlen im Jahr 2000 geleistet - die Wahlbeteiligung im Jahre 2000 betrug 71 Prozent, verglichen mit 48 Prozent im Jahre 1997. Da Milošević seine Niederlage bei den Wahlen nicht akzeptierte, kam es darauf zu Massendemonstrationen im ganzen Land, was letzten Endes das Ende der autoritären Herrschaft Milošević's bedeutete.

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Abbildung 2: Die geballte Faust, das Symbol von OTPOR, an einem Gebäude der Universität von Novi Sad (Serbien), 2001.

Doch worin liegt das Potenzial zivilgesellschaftlicher Bewegungen in einem Demokratisierungsprozess? Einerseits kann die Zivilgesellschaft, neben offiziellen politischen Parteien, ein wichtiger Kanal für die Artikulation demokratischer Forderungen sein. Andererseits erfüllt die Zivilgesellschaft als Repräsentantin gesellschaftlicher Interessen eine ergänzende Funktion und stellt eine weitere Möglichkeit zur Einbindung pluraler Interessen in das politische Entscheidungssystem dar. Ihr Einfluss hängt aber letztendlich vom bestehenden politischen und ökonomischen System ab.

Kampf der Klassen um Herrschaft

Die Demokratisierungsgeschichte der westeuropäischen Länder war immer schon der Kampf verschiedener Klassen um Herrschaft. Die Unter- und auch Mittelschicht hatten lange Zeit keine politischen Rechte. In den meisten europäischen Ländern galt bis zum Ersten Weltkrieg nur ein begrenztes Wahlrecht, beispielsweise durften nur wohlhabende Männer an Wahlen teilnehmen. Auch waren die Frauen vielerorts bis spät ins 20. Jahrhundert von der politischen Mitsprache ausgeschlossen. Die Schweiz führte das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene als eines der letzten europäischen Länder ebenfalls erst 1971 ein.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine immer grösser werdende Arbeiterklasse. Die Arbeiterklassen begannen sich kollektiv zu organisieren und Druck auf die Herrschenden auszuüben, indem sie Gewerkschaften und/oder neue Parteien gründeten. Solche zivilgesellschaftlichen Aktivitäten waren und sind auch heute noch ein wichtiger Faktor für die Demokratisierung (siehe Rueschemeyer et al. 1992). 

INFOBOX 1: Zivilgesellschaft
Unter Zivilgesellschaft werden alle sozialen Institutionen und (informellen und formellen) Organisationen verstanden, welche vom Staat unabhängig sind. Diese breite Definition umfasst sowohl den informellen Spielkartenverein oder Kirchengruppen, als auch formelle nicht-staatliche Organisationen (NGOs), wie Gewerkschaften oder auch politische Parteien.

Das Erbe Jugoslawiens

Durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft in Bosnien setzte die Industrialisierung und Modernisierung im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern spät ein: 1948 waren immer noch drei Viertel der Bosnischen Bevölkerung Bauern. In der Schweiz lag der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft in dieser Zeit zwischen einem Viertel und einem Drittel. Zudem war unter dem sozialistischen Einparteiensystem jegliche zivilgesellschaftliche Organisation oder Arbeiterbewegung, die nicht auf der staatspolitischen Linie lag, verboten (siehe Infobox 2).

Der industrielle Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Jugoslawien einen industriellen Aufschwung, in Bosnien entstanden neue Industriezentren. Die Arbeiterklasse wuchs dadurch stark an, doch es gab dennoch keine über die Grenzen der Teilrepubliken hinaus organisierte Arbeiterbewegung. Einer der Gründe dafür liegt in der spezifischen Wirtschaftsform Jugoslawiens, welches ein kollektives Arbeiterbewusstsein erschwerte: Die sogenannte Arbeitsselbstverwaltung.

Diese Arbeitsselbstverwaltung war durch eine gewisse Autonomie der Firmen und Fabriken gekennzeichnet, indem die Beschäftigten beispielsweise den Direktor wählen und über ihre Löhne diskutieren konnten. Diese Autonomie führte zu einem extrem fragmentierten Arbeitsmarkt und zu unterschiedlichen Löhnen innerhalb gleicher Branchen. Unter solchen Bedingungen konnte sich kein kollektives Bewusstsein seitens der Arbeitnehmer entwickeln. Die Autonomie der Betriebe und Fabriken  schien auf den ersten Blick ein positives Wirtschaftsmodell zu sein. Sie führte jedoch dazu, dass die Bedingungen des einen Betriebes kaum je auch an einem anderen Ort galten. 

INFOBOX 2: Die Geschichte Bosniens im Schnelldurchlauf
Im Laufe der Geschichte war Bosnien Teil verschiedener Imperien wie des Osmanischen und Österreich-Ungarisches Reichs, weswegen es heute eine grosse kulturelle und religiöse Vielfalt aufweist. Das Land ist seit Jahrhunderten Heimat für Katholiken, Muslime, Orthodoxe und Juden. 

Mit dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens 1991 erlebte das Land einen fatalen Bürgerkrieg, welcher erst 1995 durch den Friedensvertrag in Dayton beendet wurde.

Dayton

Abbildung 3: Der serbische Präsident Slobodan Milosevic, der bosnische Präsident Alija Izetbegovic und der kroatische Präsident Franjo Tudjman unterzeichnen den Friedensvertrag von Dayton in Paris, 14. Dezember 1995.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges wurde ein kompliziertes politisches System mit zwei autonomen Entitäten geschaffen: der Föderation Bosnien und Herzegovina und der Republika Srpska (siehe Abbildung 1). Gleichzeitig richtete die internationale Gemeinschaft das Büro des Hohen Repräsentanten ein, welcher die Umsetzung des Friedensvertrags überwachen soll und de facto die Exekutivmacht im Land hat.

Zusätzlich werden alle politischen Ämter nach einem ethnisch-religiösen Schlüssel vergeben. Eine übergreifende, religiöse Identität stellt für die Bürgerinnen und Bürger Bosniens nach wie vor eine grosse Herausforderung dar (Andjelic 2003). Die letzte offizielle Volkszählung im Land ergab 1991 einen Anteil von ca. 44 % muslimischen, 31 % serbisch-orthodoxe und 17 % kroatisch-katholische Bosnierinnen und Bosnier. 2013 wurde eine neue Zählung durchgeführt, doch die Ergebnisse wurden bis heute nicht veröffentlicht. (Statistische Büro Bosniens: Agencija za Statistiku, BiH)

Dayton und seine Folgen für die Zivilgesellschaft

Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1995 beherrschen ausschliesslich ethnisch-nationalistische Parteien das politische System Bosniens. Auch die Parteien, welche sich auf eine nationale-zivile Identität Bosniens berufen, haben die Mehrheit ihrer Wählerschaft in der muslimischen Bevölkerung und werden somit auch als muslimische Parteien wahrgenommen. Diese Unterscheidung nach ethnischen Gesichtspunkten hat sich vom politischen System auf jegliche soziale Bewegung im Land übertragen. 

Beispielsweise wurde 1996 in Sarajevo die Gewerkschaft Konföderation der Unionen in Bosnien (SSSBiH) gegründet. Gleichzeitig wurde in der Republika Srpska eine zweite Gewerkschaft gegründet, die einer serbisch-nationalistischen Ideologie folgte. Ende der 90er Jahre gab es bereits 23 Gewerkschaften in der Föderation und 15 Gewerkschaften in der Republika Srpska. Erst 2005 konnten sich beide Entitäten auf eine gemeinsame gewerkschaftliche Dachorganisation einigen.

Das dysfunktionale politische System und die katastrophale wirtschaftliche Lage führte immer wieder zu politischen Krisen. So war das Land beispielsweise 2011 ein Jahr lang ohne Regierung, doch damals blieben landesweite Massenproteste aus. Ein grosses Hindernis und eine weitere Herausforderung für eine übergreifende, zivilgesellschaftliche Organisation stellt, wie bereits erwähnt, die krasse Ethnisierung des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens dar. So wird jede Forderung unter den Aspekt der Religionszugehörigkeit gestellt und jegliche Diskussion von politischen Fragen stellt letzten Endes die Staatsgründung von 1996 in Frage.

Ein Lichtblick für die in Gang gekommenen Veränderungen des Landes stellten die in der Einleitung genannten Ereignisse im Jahr 2014 dar.

Tragischer Tod von Neugeborenen wegen dysfunktionaler Politik 

Ende 2012 gab das Verfassungsgericht Bosniens bekannt, dass die damals angewandte Regelung für die Vergabe der ID-Nummern ungültig sei, da diese die neuen Städte- und Gemeindenamen, d.h. die nach dem Krieg geänderten Namen, nicht umfasse. Das Parlament konnte sich nicht darauf einigen, ob die Registrierungsbezirke für die ID-Nummer entlang der Grenzen der beiden Entitäten verlaufen oder ob es eine einheitliche, d.h. zentralistische Registrierung geben soll. Dieser absurde anmutende Streitpunkt stellt letzten Endes die Existenz des bosnischen Gesamtstaates in Frage (Ilerhus 2013).

Als im Februar 2013 die Frist für die Umsetzung des neuen Gesetzes auslief, aber immer noch keine Einigung bestand, konnten keine neuen Dokumente für Neugeborene mehr ausgestellt werden. Zwei Mädchen erreichten dadurch traurige Berühmtheit. Beide Babies kamen schwerkrank zur Welt und hätten für eine Notoperation ins Ausland reisen müssen. Doch die Behörden konnten ihnen keine Reisepässe ausstellen. Die tragische Folge war der Tod der wenige Wochen alten Kinder, was in grossen Teilen der Bevölkerung Massenkundgebungen auslöste.

Die Bevölkerung geht in Massen auf die Strasse 

Beide Entitäten des Landes unterstützten diese Proteste in grosser Zahl (89 % in der Föderation und 77 % in der Republika Srpska) (Armakolas und Maksimovic 2013). Durch eine temporäre Einigung unter den Politikern und Politikerinnen konnte die Bevölkerung beruhigt werden, die Proteste ebbten nach dem Sommer 2013 langsam ab. Ungefähr ein halbes Jahr später, Anfang 2014, riefen Arbeiterinnen und Arbeit aufgrund von Privatisierungsprozessen von vormals staatlichen Firmen in der Stadt Tuzla aber erneut zu Massenprotesten auf.

Die Proteste in Tuzla mobilisierten Studenten, Rentner, Kriegsveteranen und Arbeitslose in vielen anderen Städten. Dieses Ereignis wurde als die erste reale Gelegenheit angesehen, das Paradigma des Nationalismus zu durchbrechen. Die alltäglichen Probleme Bosniens, d.h. der aufgeblasene Staatsapparat, die Korruption und das dysfunktionale Wirtschaftssystem betreffen alle Bürgerinnen und Bürger in gleicher Manier, unabhängig ihrer religiösen Zugehörigkeit. Dies lässt sich vor allem aus der Rhetorik und aus den Aktivitäten der Protestierenden schliessen, welche sich klar von allen bestehenden Parteien abgrenzten, keine internationale Organisation um Unterstützung baten und basisdemokratische Plenen einrichteten.

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Abbildung 4: Menschen protestieren in Zenica, 10. Februar 2014

Trotz der Massenkundgebungen weitete sich die Bewegung nur beschränkt auf die Republika Srpska aus – vereinzelt fanden Demonstrationen in Banja Luka statt, eine grosse Unterstützung seitens der Arbeiterinnen aus der Republika Srpska blieb jedoch aus. Ein Grund dafür waren auch die starken Repressionen, Diffamierung und Skandalisierung seitens der ethnisch-bürokratischen und ökonomischen Elite, der Medien und der Akademie in der serbischen Teilrepublik.

Auf lokaler Ebene erzielten die Protestierenden jedoch Erfolge: vereinzelte regionale Regierungen und Politiker traten von ihren Ämtern zurück und in Tuzla wurde eine neue Gewerkschaft (Solidarnost für Solidarität) gegründet, welche alle Arbeiter und Arbeiterinnen, unabhängig ihres religiösen Hintergrundes, vertritt. Ausserdem wurde eine NGO gegründet, welche die Teilnehmer der Februarproteste vereinen und kollektiv organisieren sollte („Bewegung für die soziale Gerechtigkeit“).

Was kommt nach den Protesten im Jahre 2014/2015?

Trotz dieses Hoffnungsschimmers ebbten die Proteste, bedingt durch die Überschwemmungen im Jahre 2014 und wegen der starke Repression seitens des Staatsapparates, langsam ab. Zudem haben die Protestierenden keine einheitliche Partei gegründet, welche sich den Wahlen im Oktober 2014 hätten stellen können. Dadurch haben sich wichtige Persönlichkeiten der sozialen Proteste bereits bestehenden Parteien angeschlossen, was an deren Glaubwürdigkeit nagt.

Obwohl Kriegsveteranen an den Demonstrationen teilnahmen, fehlt zuweilen die starke Unterstützung der sogenannten jugoslawischen Generation. Es scheint, als ob sich die Generation der Bosnier, welche Jugoslawien noch erlebt und den Krieg überlebt hat, zu apolitischen Bürgerinnen und Bürgern entwickelten. In der Gesellschaft macht sich eine wachsende Politikverdrossenheit breit. Nebst der moralischen Unterstützung der jugoslawischen Generation fehlt eine aktive, zivilgesellschaftliche Arbeit dieser Altersgruppe. Dieser Teil der Gesellschaft hegt noch Mobilisierungspotential und es gälte, diese Menschen zu erreichen.

Damit die Proteste 2014 eine nachhaltige Wirkung haben, sollten Wissenschaftler, Philosophen und Aktivisten ein eigenes politisches Programm entwickeln. Konkret heisst das, eine Partei gründen, weitere Segmente der Gesellschaft für ihre Sache gewinnen, vor allem die oben genannte Generation der Jugoslawen und versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Nur so können zivilgesellschaftliche Aktivitäten eine reale Herausforderung für das bestehende politische System darstellen.


Referenzen:

  • Andjelic, N. (2003). Bosnia-Herzegovina. The End of a Legacy. London: Frank Case.

  • Armakolas, I. & Maksimovic, M. (2013). “Babylution” – A Civic Awakening in Bosnia and Herzegovina? South-East Europe Programme, Working Paper No 34.

  • Ilerhus, J. (2013). Soziale Proteste in Bosnien und Herzegowina. Ein mögliches Signal zum Aufbruch. Friedrich Ebert Stiftung, 1-5.

  • Petrovic, V. (2015). Ein Vergleich der Demokratiequalität in Bosnien-Herzegovina, Libanon und Serbien. Forschungsseminararbeit. Zürich: IPZ.

  • Rueschemeyer, D., Huber Stephens, E. & Stephens J.D. (1992). Capitalist Development and Democracy. Cornwall: Polity Press.

  • Sejfija, I. (2007). Building Civil Society in Relation to State Structures. In:Fischer, Martina (Hrsg.) Peace Building and Civil Society in Bosnia-Herzegovina. Ten Years after Dayton. Berlin: LIT Verlag.

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