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Wer bereits bekannt ist, wird noch bekannter: Medien und Kandidierende im Wahlkampf 2023

Bruno Wüest, Roland Krell, Ronja Wirz, Claude Meier
22nd August 2024

Während des Wahlkampfes der letztjährigen Schweizer Parlamentswahlen dominierten hauptsächlich bekannte Politiker:innen der grossen Parteien die Medienberichterstattung. Was bedeutet diese Konzentration auf prominente Persönlichkeiten für die Chancen von Neukandidierenden und kleineren Parteien? Eine neue Untersuchung zeigt, wie ungleich die mediale Aufmerksam tatsächlich verteilt war und welche Faktoren die Medienpräsenz erklären.

Die Schweizer Print- und Online-Medien haben während des eidgenössischen Wahlkampf 2023 unausgewogen über das breite Feld der Kandidierenden und Bisherigen informiert. Dabei wurde den grossen sechs Parteien und Kandidierenden mit bereits wichtigen Ämtern in der Schweizer Politik vor den Wahlen eine grosse Bühne überlassen. Für Neukandidierende und Politiker:innen kleinerer Parteien war es hingegen sehr schwierig, eine nachhaltige Medienpräsenz und somit die für eine Wahl benötigte Bekanntheit in der Bevölkerung aufzubauen. Im Rahmen der schweizerischen Wahlstudie «Selects 2023» untersuchten die Autor:innen dafür die Nennungen von Politiker:innen in 116 Print- und Online-Medientiteln aus allen Landesteilen in den sechs Monaten vor der Wahl (Wüest et al. 2024).

Gerade in Zeiten eines nationalen Wahlkampfs wird die zentrale Rolle der Medien für eine umfassende und ausgeglichene Informationsversorgung der Bevölkerung deutlich (Müller 2014). Zumindest theoretisch wäre es wünschenswert, dass Medien neben den profilierten Spitzenpolitiker:innen auch weniger bekannten Politiker:innen eine gewisse Bühne überlassen würden (Schudson 2008). Denn nur mit zunehmendem Wissen über die ganze Breite des Kandidierendenfeldes können sich Wähler:innen eine unabhängigere Meinung zu den bisherigen Leistungen und zukünftigen Versprechen des politischen Personals bilden, welches sie in die Parlamente wählen (Norris 1999). Diesem demokratischen Ideal stehen in der wissenschaftlichen Literatur Studien gegenüber, welche die Medienkonzentrationsprozesse, das Aufkommen schnelllebiger Gratis- und Online-Nachrichtenformate sowie den steigenden wirtschaftlichen Wettbewerbs- und Spardruck der letzten Jahrzehnte betonen (vgl. Esser und Matthes 2013). Diese Zwänge führten entsprechend dazu, dass Journalist:innen den Wert ihrer Nachrichten über den Wahlkampf zu optimieren versuchen, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf Politiker:innen in einflussreichen Positionen sowie auf umkämpfte Personenwahlen richten (Tresch 2009). Nicht nur können Medien ihrer Leserschaft signalisieren, dass es mit dem Wettbewerb unter gewichtigen Persönlichkeiten „um etwas geht“ (Banducci und Handretty 2014). Sie treffen auch auf Poliker:innen, die geübt im Umgang mit den Medien und aufgrund ihren bisherigen Ämtern gut erreichbar sind.

Abbildung 1 unterstützt diesen starken Fokus auf einflussreiche Politiker:innen auf eindrückliche Weise. Die meisten Punkte, welche die Häufigkeit der Nennungen von Politiker:innen zeigen, liegen bei allen Parteien weit links. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Kandidierenden kaum oder gar keine Medienpräsenz erreicht hat.1 Auf der anderen Seite sind zum einen Personen mit einem hohen Amt wie ein Partei- oder Fraktionspräsidium im Fokus der Medien verortet: Balthasar Glättli der Grünen (GPS), Cédric Wermuth und Roger Nordmann der Sozialdemokraten (SP), Jürg Grossen der Grünliberalen (GLP), Gerhard Pfister der Mitte, Thierry Burkart der Liberalen (FDP) sowie Marco Chiesa und Thomas Aeschi der SVP. Zum anderen erreichen Kandidierende, die sich in umkämpften Ausmarchungen für den Ständerat befinden, deutlich höhere Nennungshäufigkeiten: Lisa Mazzone (GPS), Daniel Jositsch (SP), Tiana Angelina Moser (GLP), Regine Sauter und Ruedi Noser (FDP) sowie Gregor Rutz (SVP).

Abbildung 1: Verteilungen der Medienpräsenz von Politiker:innen nach Partei

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Nennungen von Bisherigen und Kandidierenden für den National- und Ständerat.

Zusätzlich ist in Abbildung 1 die Dominanz der sechs grössten Parteien gut zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass die Grünen, Sozialdemokraten, Grünliberalen, Mitte, Liberalen und SVP in der seit längerem beobachteten Professionalisierung der öffentlichen Kommunikation in der Schweizer Parteienlandschaft am stärksten fortgeschritten sind (Hänggli und Feddersen 2022). Von den neun weiteren im eidgenössischen Wahlkampf 2023 angetretenen Parteien haben sich nur zwei Kandidierende, Nicolas Rimoldi von Mass-Voll und Mauro Poggia des Mouvement Citoyens Genevois, eine verhältnismässig starke Medienpräsenz erarbeiten können.

Die folgende Abbildung 2 zeigt zudem ausgewählte Ergebnisse eines statistischen Erklärungsmodells für die Medienpräsenz von Politiker:innen während des Wahlkampfs 2023. Die Wahrscheinlichkeit, in den Medien genannt zu werden, wird dabei mit dem Geschlecht, dem Alter, der Parteizugehörigkeit und dem Wohnkanton sowie wahlspezifischen Variablen wie dem Rat, für den kandidiert wird, in Zusammenhang gebracht. Dabei werden nur die 2827 Politiker:innen mit mindestens einer Nennung berücksichtigt. Wenn der Mauszeiger über den Datenpunkten liegt, kann die geschätzte Anzahl Nennungen von Politiker:innen mit der jeweiligen Eigenschaft im Vergleich zu den anderen Politiker:innen nachvollzogen werden.2

Abbildung 2: Einfluss von demographischen und politischen Merkmalen auf die Medienpräsenz

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Lineare Regressionsanalyse, um die Nennungshäufigkeit von Politiker:innen zu erklären. Die Koeffizienten sind modellbereinigt, die Sterne bedeuten die folgenden statistischen Signifikanzen: *** = 99% Vertrauensbereich, ** = 95% Vertrauensbereich, * = 90% Vertrauensbereich.

Es gibt nur ein Merkmal, welches mit einer deutlich geringeren Medienpräsenz zusammenhängt. Kandidierende für den Nationalrat haben im Mittel 218 weniger Nennungen als Kandidierende für den Ständerat. Für dieses Resultat gibt es mindestens zwei wichtige Erklärungen. Die erste ist der Charakter der Nationalratswahlen. Hier stehen aufgrund der Listenwahl die Parteien im Rampenlicht. Bis auf einzelne Spitzenkandidierende in den bevölkerungsreichen Kantonen und die sehr wenigen Kandidierenden in den kleinsten Kantonen sind hier eher die Parteien und ihr programmatisches Angebot als die Persönlichkeiten im Fokus. Die zweite Erklärung ist die inflationäre Zunahme der Nationalratskandidierenden. Seit den eidgenössischen Wahlen 2015 ist die Anzahl der Kandidierenden von rund 3700 auf über 5900 gestiegen. Wenn wir annehmen, dass die mediale Aufmerksamkeit ungefähr konstant geblieben ist, bedeutet diese Zunahme um fast 40 Prozent offensichtlich einen stark verschärften Wettbewerb um Medienpräsenz.

Der wichtigste Grund für eine hohe Medienpräsenz ist allerdings der Status als Bisherige (vgl. Abb. 2). Politiker:innen, welche als Amtsträger:innen kandidieren, erhalten im Durchschnitt satte 358 Mediennennungen. Das Merkmal Bisherigenstatus ist dabei von allen mit Abstand das wichtigste. Und der Vorteil ist umso eindrücklicher, wenn berücksichtigt wird, dass die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen weniger als 150 Nennungen haben. Medien multiplizieren deshalb den Einfluss von bereits einflussreichen Politiker:innen. Dies bedeutet umgekehrt, dass die mediale Bühne für Neukandidierende nur schwer zu erreichen ist.

Eine Beurteilung des Alters und des Geschlechts fehlt in dieser Betrachtung der Medienpräsenz von Politiker:innen bisher. Abbildung 3 zeigt entsprechend die Schätzungen des gleichen Modells wie in Abbildung 2 abhängig vom Alter und dem Geschlecht der Politiker:innen. Die Kurve für die Politiker ist leicht über der derjenigen für Politikerinnen, was einen leichten Vorsprung von rund 20 Nennungen eines durchschnittlichen Politikers gegenüber einer durchschnittlichen Politikerin bedeutet. Die Kurven zeigen zusätzlich die Spitzenwerte in einem mittleren Alter von 40 bis 50 Jahren. Jüngere und vor allem ältere Politiker:innen haben eine deutlich geringere Medienpräsenz.

Abbildung 3: Medienpräsenz in Abhängigkeit des Alters und Geschlechts von Politiker:innen.

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Daten: Wahlstudie Selects 2023 · Lineare Regressionsanalyse, um die Nennungshäufigkeit von Politiker:innen zu erklären. Die Koeffizienten sind modellbereinigt, die Sterne bedeuten die folgenden statistischen Signifikanzen: *** = 99% Vertrauensbereich, ** = 95% Vertrauensbereich, * = 90% Vertrauensbereich.

Bei welcher Partei Kandidierende politisieren und ob sie bereits vor der Wahl ein hohes politisches Amt bekleiden beziehungsweise sich in einem viel beachteten Wahlkampf engagieren, erklärte hauptsächlich ihre Medienpräsenz während den Wahlen 2023. Andere Merkmale wie das Geschlecht oder das Alter haben einen gewissen Einfluss auf die Aufmerksamkeit in den Medien, sind aber zumindest im Wahlkampf 2023 weniger ins Gewicht gefallen. Die sechs grössten Parteien haben somit mit ihren profilierten Spitzenpolitiker:innen eine sehr hohe Ballung der Medienpräsenz erzielt und dabei etwas zu wenig ihre demokratische Verantwortung übernommen, den Wähler:innen die gesamte Tiefe des politischen Wettbewerbs zu zeigen.

Methodik

Die Medienanalyse der schweizerischen Wahlstudie Selects 2023 erfasste und analysierte 116 Print- und Onlinemedien aus der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz. Die Erhebungsperiode erstreckt sich dabei auf den Zeitraum von sechs Monaten vor den eidgenössischen Wahlen 2023. Über ein Sentence-Embedding-basiertes Textclustering wurden generelle, medientitel-unabhängige Zeitungsrubriken, der Bezug von Artikeln zur Schweizer Politik und 17 politische Sachthemen erhoben. Zusätzlich wurde das Vorkommen der 15 wichtigsten Parteien, der 5997 National- und Ständeratskandidat:innen, der 7 Bundesrät:innen und des Bundeskanzlers gemessen.


1 Eine Berührung der Punkte mit dem Mauszeiger zeigt die Namen und die Nennungshäufigkeit der Politiker:innen, und 3224 der 6051 untersuchten Politker:innen kommen in den Medien gar nicht vor.

2 In den Auswertungen in Abbildung 2 wird der Wohnkanton nicht gezeigt. Auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern sowie dem Alter wird in der letzten Analyse eingegangen, und die Parteizugehörigkeiten bestätigen grundsätzlich die Resultate aus der ersten Analyse.

Referenzen:

  • Banducci, Susan, und Chris Hanretty (2014). Comparative Determinants of Horse-Race Coverage. European Political Science Review 6(4): 621–40.

  • Esser, Frank and Jörg Matthes (2013). Mediatization effects on political news, political actors, political decisions, and political audiences. In Kriesi, Lavenex, Esser, Matthes, Bühlmann and Bochsler (eds.): Democracy in the Age of Globalization and Mediatization. Springer.

  • Hänggli, Regula und Alexandra Feddersen (2022). Medien und politische Kommunikation. In Papadopoulos, Sciarini, Vatter, Häusermann, Emmenegger und Fossati (eds.): Handbuch der Schweizer Politik. NZZ Libro.

  • Müller, Lisa (2014). Comparing Mass Media in Established Democracies: Patterns of Media Performance. Palgrave Macmillan London.

  • Norris, Pippa (1999). Conclusions: The Growth of Critical Citizens and Its Consequences. In Norris (ed.): Critical Citizen: Global Support for Democratic Government. Oxford University Press.

  • Schudson, Michael (2008). Why Democracies Need an Unlovable Press. Polity Press.

  • Tresch, A. (2009). Politicians in the media: Determinants of legislators’ presence and prominence in Swiss newspapers. The International Journal of Press/Politics, 14(1), 67-90.

  • Wüest, Bruno, Roland Krell, Ronja, Wirz and Claude Meier (2024). Der Wahlkampf 2023 in traditionellen Medien. Hochschule für Wirtschaft Zürich, Center for Research and Methods.

Bild: flickr.com