Kein weiterer Coup für die zweite linke Initiative dieses Jahres
Lukas Golder, Tobias Keller, Sara Rellstab, Corina Schena, Alessandro Pagani, Jenny Roberts, Margret Tschanz, Roland Rey
7th August 2024
Zusammenfassung der VOX-Analyse Juni 2024: Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 9. Juni 2024
Die Abstimmung am 9. Juni 2024 war von den beiden Gesundheitsinitiativen mitgeprägt: Insbesondere die Prämienentlastungs-Initiative gab vor dem Abstimmungstermin medial zu reden. Im Gegensatz zur erfolgreichen 13.-AHV-Initiative, über die im März abgestimmt wurde, erreichte die Prämienentlastungs-Initiative keine Mehrheit in der Stimmbevölkerung. Die Vorlage vermochte es nicht, über das linke Spektrum hinaus zu mobilisieren. Es fehlte die Aktivierung einer klaren Anspruchsgruppe, um die Vorlage ins Ziel zu bringen. Obwohl die Kostenproblematik im Gesundheitswesen unter den Stimmenden breit anerkannt ist, stand bei den Nein-Stimmenden die finanzpolitische Vernunft im Zentrum. Viele befürchteten, dass die Umsetzung des Vorhabens zu teuer würde. Ausserdem wurde kritisiert, dass die Initiative die Ursachen des Kostenwachstums ausser Acht lasse. Die Diskussionen um die Finanzierung der 13. AHV-Rente und die Situation der Bundesfinanzen haben das Meinungsklima innert drei Monaten verändert. Auch die zweite Gesundheitsvorlage, die Kostenbremse-Initiative, überzeugte die Mehrheit der Stimmenden nicht. Keine Untergruppe in der Stimmbevölkerung war klar für das Vorhaben – auch nicht Sympathisierende der initiierenden Mitte-Partei. Bei den Gegenargumenten wird ersichtlich, dass die Koppelung der Gesundheitsversorgung an die Wirtschaftsentwicklung von den Stimmenden nicht goutiert wurde. Auch wurde eine Verschlechterung des Gesundheitssystems als Folge der Kostenbremse befürchtet.
Am wenigsten Aufmerksamkeit unter den vier Vorlagen genoss die Freiheits-Initiative, welche eine Stärkung des Grundrechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit fordert. Das Vorhaben überzeugte nur eine Minderheit der Stimmenden, welche wenig Vertrauen in die Schweizer Gesundheitsbehörden haben und kritisch gegenüber den Massnahmen während der Covid-19-Pandemie eingestellt sind. Die Gegnerschaft der Initiative zeigte wenig Verständnis für das Anliegen und argumentierte insbesondere, dass bereits eine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht.
Das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien war aus Sicht der Stimmberechtigten die bedeutendste Vorlage vom 9. Juni 2024 und erzielte eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung. Mit Ausnahme der SVP-Sympathisierenden waren alle politischen Lager für das Gesetz. Eine Mehrheit der Stimmenden betrachtete den Ausbau der erneuerbaren Energien als wichtigen Schritt für die Versorgungssicherheit und gegen den Klimawandel. Ausserdem war es für viele von Bedeutung, die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern. Die Kombination von mehr Autonomie in der Stromversorgung, einer ausgeprägten Offenheit in der Bevölkerung für Umweltschutz als allgemeines Ziel und der Geschlossenheit der politischen Lager von links bis weit ins rechte Spektrum verhalfen der Vorlage zum Abstimmungssieg.
Dies belegen die Resultate der Befragung von 3’141 Stimmberechtigten der VOX-Analyse Juni 2024. Die Studie wurde von gfs.bern durchgeführt und von der Bundeskanzlei finanziert.
Prämienentlastungs-Initiative: Keine Volksmehrheit für die zweite linke Initiative des Jahres
Die Volksinitiative «Maximal 10 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien (Prämien-Entlastungs-Initiative)» fordert, dass die Versicherten höchstens 10 Prozent des verfügbaren Einkommens für Prämien aufwenden müssen. Deshalb sollen Bund und Kantone die Prämienverbilligungen erhöhen. Die Vorlage wurde von einer Mehrheit abgelehnt. SP- und Grünen-Sympathisierende stimmten überwiegend ja, jedoch erreichte das Vorhaben über das linke Lager hinaus keine Mehrheiten. FDP- und SVP-Sympathisierende haben die Initiative am stärksten abgelehnt. Hohes Vertrauen in die Gewerkschaften sowie in Gesundheitsorganisationen und -verbände erhöhte den Ja-Stimmenanteil, beim Vertrauen in die Krankenkassen zeigte sich hingegen kein signifikanter Zusammenhang. Das Ja-Lager war ebenso gekennzeichnet von Befürwortenden einer Wirtschaft mit mehr Staatseingriffen und von Stimmenden, die Solidarität gegenüber Eigenverantwortung bevorzugen.
Bezüglich den Motiven für ein Ja schwang das Dringlichkeitsargument oben aus: Viele Ja-Stimmende sahen dringenden Handlungsbedarf bei den Gesundheitskosten und stimmten deshalb der Prämienentlastungs-Initiative zu. In zweiter Linie erwarteten die Befürwortenden durch eine Annahme mehr Gerechtigkeit für Gesellschaftsschichten mit tieferen Einkommen. Die Nein-Stimmenden hingegen nannten am häufigsten die Finanzierung der Initiative als Gegenargument, die sie als unsicher und teuer beurteilten. Während im vergangenen März, als die Initiative für eine 13. AHV-Rente angenommen wurde, die finanzpolitische Komponente im Hintergrund blieb, machten sich die Stimmenden bei der neusten Abstimmung vermehrt Sorgen um die Finanzierungfrage. Die parlamentarischen Diskussionen rund um die Umsetzung der 13. AHV-Rente sowie zur Lage des Bundeshaushalts insgesamt haben das Meinungsklima geändert. Für das Nein-Lager spielte ebenfalls eine Rolle, dass die Initiative die Gesundheitskosten nicht dämpft, sowie, dass sparsame Kantone die Prämienverbilligung von anderen Kantonen querfinanzieren müssten.
Die Mobilisierung unterschied sich von derjenigen bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente. Im März war die Beteiligung generell hoch, insbesondere die Alterskohorten ab 50 Jahre nahmen aber deutlich häufiger teil als beim Abstimmungssonntag im Juni. Die Beteiligung von Linksaussen war bei der Abstimmung im März ebenfalls sehr hoch, und auch Stimmende ohne Hochschulabschluss stimmten deutlich häufiger ab. Diese Segmente der Bevölkerung legten überwiegend ein Ja ein für die 13. AHV-Rente. Im Vergleich dazu schaffte es die Prämienentlastungs-Initiative nicht, eine klare Zielgruppe zu definieren und diese auch konsequent an die Urnen zu locken.
Kostenbremse-Initiative: Auch bei Mitte-Sympathisierenden keine klare Zustimmung
Die Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)» der Mitte-Partei adressiert ebenfalls die steigenden Kosten im Gesundheitswesen. Durch die Einführung einer Kostenbremse soll das Kostenwachstum in der obligatorischen Krankenversicherung gebremst werden. Den Stimmberechtigten fiel es schwerer als bei den anderen drei Vorlagen des Abstimmungssonntages, sich eine Meinung zur Vorlage zu bilden. Eine deutliche Mehrheit der Stimmbevölkerung war schliesslich dagegen. Keine Untergruppe des Stimmvolks befürwortete die Initiative klar. Auch Sympathisierende der Mitte-Partei, die hinter dem Initiativevorhaben stand, waren gespalten. Neben der Mitte stimmten am ehesten noch Grünen-Sympathisierende für die Vorlage. Stimmende, die der FDP- oder der SVP nahestehen, sagten am deutlichsten Nein zur Kostenbremse.
Ähnlich wie bei der Prämienentlastungs-Initiative begründeten Befürwortende ihren Entscheid am häufigsten mit der Dringlichkeit des Kostenproblems im Gesundheitswesen. Erst an zweiter Stelle folgten Überlegungen zur Effizienz des Gesundheitssystems und zur Solidarität mit Gruppen, die von hohen Prämien besonders stark betroffen sind (z.B. Familien). Auf der Nein-Seite wurde die Initiative häufig als unausgereift betrachtet: Vielen leuchtete nicht ein, weshalb die Kosten der Gesundheitsversorgung an die Wirtschaftsentwicklung gekoppelt werden sollten. Zudem wurde befürchtet, dass ein Kostendeckel zu einer Rationierung in der Gesundheitsversorgung oder einer «Zweiklassenmedizin» führen könnte.
Freiheits-Initiative : Für eine Mehrheit der Stimmenden ist die Covid-19-Politik kein Thema mehr
Die vom Verein Freiheitliche Bewegung Schweiz lancierte Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit (Freiheits-Initiative)» will, dass jegliche Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit nur mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Person erfolgen dürfen und dass Personen nicht benachteiligt werden, wenn sie einen solchen Eingriff ablehnen. Die Initiative wurde vom Stimmvolk deutlich abgelehnt. Linke Kreise waren am deutlichsten dagegen. Knapp die Hälfte der SVP-Sympathisierenden und der Parteilosen legten ein Ja ein. Das Stimmverhalten hängt stark mit dem Vertrauen in Institutionen zusammen: Personen, die dem Bundesamt für Gesundheit, der Covid-19-Taskforce oder der Hausärzteschaft misstrauen, stimmten deutlich häufiger Ja. Der Ja-Anteil fiel auch bei Stimmenden mit tieferen Einkommen tendenziell höher aus.
Für die Pro-Seite stand die Unantastbarkeit der individuellen Freiheit bei ihrem Entscheid im Zentrum. Es wurde ebenfalls moniert, dass Menschen wegen ihrer Haltung zu Impfungen während der Pandemie ausgegrenzt worden seien. Manche Befürwortende befürchten, dass man sich diesbezüglich nicht auf die Politik verlassen kann. Die Gegnerschaft der Initiative empfand das Vorhaben grösstenteils als unnötig, da das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit bereits in der Verfassung besteht. Die Nein-Stimmenden äusserten häufig Unverständnis für das Anliegen der Initianten, unter anderem, da sie Impfungen als wichtige Massnahme in der Epidemiebekämpfung betrachten.
Stromgesetz: Klares Votum für den Ausbau erneuerbarer Energien
Das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien will die Schweizer Stromversorgung stärken, indem insbesondere der Ausbau von Solar-, Wind- und Wasserkraft erleichtert wird. Eine grosse Mehrheit der Stimmenden segnete das Gesetz an der Urne ab. Die Zustimmung war über das gesamte politische Spektrum hoch, mit Ausnahme der SVP-Sympathisierenden. Personen, die Umweltschutz höher gewichten als wirtschaftlichen Wohlstand, Atomenergie ablehnen oder gesellschaftliche Solidarität wichtiger als Eigenverantwortung wahrnehmen, stimmten besonders häufig Ja.
Die zentralen Argumente für das Gesetz betonten, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien dringend ist – unter anderem, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Der Vorlage kam zugute, dass sie auf eine übergeordnete Ebene zielt: Im Gegensatz zu vergangenen umweltpolitischen Vorlagen, wie beispielsweise dem 2021 abgelehnten CO2- Gesetz, stand beim Stromversorgungsgesetz die Energiewende als übergeordnetes Ziel im Zentrum – und nicht Verhaltensänderungen der Stimmenden, Verteuerungen oder konkrete Bauprojekte, die eher auf Widerstand stossen. Die Befürwortenden begründen ihr Stimmverhalten ebenfalls damit, dass die Abhängigkeit vom Ausland durch das Gesetz verringert würde. Auf der Nein-Seite wurde die Verschandelung von Landschaften zugunsten der Stromversorgung befürchtet. Ausserdem gebe es bessere Alternativen zum vorliegenden Gesetz und die demokratischen Mitspracherechte würden dadurch beschnitten.
Die Beteiligung: Unterschiedliche persönliche Bedeutung der Vorlagen
Die Beteiligung am 9. Juni 2024 war mit rund 45 Prozent im langjährigen Vergleich durchschnittlich. Stimmende an den politischen Polen nahmen stärker an den Abstimmungen teil als Personen in der politischen Mitte. Die Vorlagen waren für die Stimmbevölkerung unterschiedlich wichtig: Das Stromgesetz erzielte mit einem Durchschnitt von 8.0 einen hohen Wert, während die persönliche Bedeutung der Freiheits-Initiative mit 5.7 tief ausfiel. Die Prämienentlastungs- und Kostenbremse-Initiativen lagen dazwischen. Die Kostenbremse war die am schwierigsten zu verstehende Vorlage, entsprechend fand die Meinungsbildung im Vergleich zu den anderen Vorlagen etwas später statt.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde vom gfs.bern als Zusammenfassung der VOX-Analyse Juni 2024 publiziert. Weitere Informationen finden sich auf vox.gfsbern.ch.
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