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Wettbewerb und Chancengerechtigkeit im Föderalen Bildungssystem der Schweiz

Stefan Denzler
27th März 2024

Der Föderalismus im schweizerischen Bildungswesen bringt eine grosse Heterogenität mit sich. Resultiert daraus ein Wettbewerb zwischen den Kantonen, und wie steht es um die Chancengerechtigkeit? Dieser Artikel geht der Frage nach, wie sich föderale Strukturen im Bildungssystem zeigen und inwiefern dadurch die Chancengerechtigkeit tangiert ist.

Aarauer Demokratietage

Die Erwartungen an die Politische Bildung sind hoch angesichts der aktuellen Herausforderungen, mit denen sich demokratische Staaten konfrontiert sehen. Erwähnt seien etwa die zunehmenden antidemokratischen Strömungen weltweit, die ideologischen Extreme oder das Wiedererstarken des Antisemitismus. Solche Entwicklungen, die die Prinzipien der Freiheit, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit untergraben, offenbaren, wie fragil letztlich das Fundament der demokratischen Gesellschaften sein kann. Die Schulen sind von diesen Entwicklungen nicht ausgenommen, wie jüngste Meldungen antisemitischer Vorfälle und ideologischer Hetze an Schulen, auch aus der Schweiz zeigen. Umso notwendiger erscheint eine vertiefte Auseinandersetzung mit den demokratischen Grundprinzipien, eine Orientierungs- und Urteilfähigkeit in Bezug auf gesellschaftspolitische Themen sowie das Einüben demokratischer Prozesse des Zusammenlebens. Eigentlich müsste man erwarten, dass in einer Demokratie wie der schweizerischen, die von der aktiven Partizipation ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt, die Politische Bildung einen hohen Stellenwert geniesst. Dem ist aber nicht so. Die Politische Bildung fristet vielmehr ein Schattendasein.

Im dritten Panel an den Aarauer Demokratietagen geht es um den Zusammenhang zwischen Politischer Bildung und Föderalismus. Im Raum steht die Frage, ob die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und die konkrete Umsetzung in den Kantonen in einem systematischen Zusammenhang mit dem politischen Verhalten der jungen Menschen stehen. Könnte es sein, dass der Bildungsföderalismus die Bildungsgerechtigkeit verletzt? Und bräuchte es folglich eine nationale Harmonisierung? Diese Fragen können mangels empirischer Daten derzeit nicht beantwortet werden. Es lohnt sich aber, auf einer allgemeineren Ebene die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der föderalen Struktur im Bildungssystem und der Bildungsgerechtigkeit zu diskutieren. Dabei können einige relevanten Aspekte der Gerechtigkeitsdiskussion im Bildungssystem beleuchtet werden. In den folgenden Ausführungen geht es also darum, zu zeigen, wie sich föderale Strukturen im Bildungssystem zeigen und inwiefern dadurch allenfalls die Chancengerechtigkeit tangiert ist. Die Ausführungen basieren auf den Befunden des Bildungsberichts Schweiz 2023 (SKBF 2023).

Föderale Struktur des Bildungssystems

Weil Bildung, namentlich die Schulbildung, in kantonaler Kompetenz liegt (Art. 62 BV), haben wir es mit 26 unterschiedlichen Bildungssystemen in der Schweiz zu tun. Die Systeme unterscheiden sich von Kanton zu Kanton hinsichtlich Schulstruktur, Schulorganisation, Lektionenzahl, Betreuungsverhältnis, Selektionsverfahren, Bildungsausgaben usw. Nehmen wir zum Beispiel die kantonale Quote der gymnasialen Maturitäten, sie variiert zwischen 13% im Kanton Schaffhausen und 34% im Kanton Genf. Das bedeutet, dass Jugendliche im Kanton Genf eine mehr als doppelt so hohe Chance haben, eine gymnasiale Maturität zu erlangen als jene im Kanton Schaffhausen. Was bedeuten diese Unterschiede für das Bildungssystem? Resultiert daraus ein Wettbewerb unter den Kantonen um bessere Schulen und bessere Bildungschancen? Im Gegensatz zum Steuerwettbewerb sind die Unterschiede bei der Bildung nicht immer offensichtlich, und es ist noch schwieriger, zu sagen, was die Folgen sind. So ist etwa im Fall der gymnasialen Maturitätsquote nicht klar, ob die höhere Gymnasialquote besser ist. Es stellt sich folglich ganz allgemein die Frage, was bei der Bildung «besser» bedeutet. Wie können Bildungssysteme beurteilt werden? Im Bildungsmonitoring halten wir uns an die folgenden Prinzipien: Staatliches Handeln sollte wirksam sein, es sollte wirtschaftlich erfolgen und dabei das Prinzip der Equity nicht verletzen. Anhand dieser drei Kriterien – Effektivität, Effizienz und Equity – können Bildungssysteme strukturiert beurteilt werden.

Abbildung 1. Maturitätsquote nach Wohnkanton, 2021

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS· Info: Anteil der Jugendlichen, die bis zum 25. Altersjahr ein gymnasiales Maturitätszeugnis erworben haben, in % der gleichaltrigen Referenzbewölkerung.

Equity anstelle von Bildungsgerechtigkeit

Im Gegensatz zum normativ bestimmten Begriff «Gerechtigkeit», der eine politische oder gesellschaftliche Bewertung voraussetzt, orientieren wir uns am Konzept Equity mit seinen drei Analyseebenen: equal chances, equal treatment und equal outcomes (vgl. OECD 2018). Die Frage, ob und inwieweit das Prinzip Equity verletzt ist, wird i.d.R. anhand der Diagnose von Ungleichheit in Bezug auf die drei Analyseebenen identifiziert: Wir beobachten eine Verletzung des Prinzips, wenn nicht alle Zugang zu qualitativ gleichwertiger Bildung haben; wenn nicht alle dieselbe Bildung bekommen und wenn sich Menschengruppen (bspw. Mädchen und Knaben) in den Bildungsoutcomes unterscheiden, bei denen a priori keine Unterschiede zu erwarten wären.

Einseitige Konzentration von Risikoschulen verletzt das Gebot der equal chances beim Bildungszugang

Zwischen den Kantonen lassen sich systematische Unterschiede zwischen dem Anteil an Schulen mit hohem Anteil Fremdsprachiger finden. Schulen mit einen Anteil von mehr als 30% Fremdsprachigen können als Risikoschulen bezeichnet werden, weil sich unter solchen Bedingungen deutliche negative Auswirkungen auf den Leistungszuwachs beobachten lassen (Chuard et al. 2022). Diese Schulen verteilen sich nicht gleichmässig über die Kantone und Gemeinden, sondern spiegeln die sozialräumliche Segregation in der Schweiz. So haben etwa Kinder im Kanton Basel-Landschaft das höhere Risiko einer Schule mit hohem Fremdsprachigenanteil zugeteilt zu werden als etwa Kinder aus dem Kanton Schaffhausen.

Abbildung 2. Risikoschulen und fremdsprachige ausländische Schüler:innen nach Kanton, 2019

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS (LABB) · Berechnungen: SKBF · Info: 3.–8. Schuljahr

Equal treatment bei der Repetition während der Primarschule?

Bei den Repetitionsquoten lassen sich markante Unterschiede zwischen den Kantonen beobachten. Diese scheinen allerdings nicht mit den jeweiligen kantonalen Vorgaben erklärt werden können, denn die Varianz ist innerhalb desselben kantonalen Regimes ähnlich gross wie zwischen den Regimes (vgl. VD vs. GR oder UR vs. SO).

Abbildung 3. Repetitionsquote auf der Primarstufe nach Kanton

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS (LABB), EDK-IDES · Berechnungen: SKBF · Info: Schülerkohorte, die im Schuljahr 2013/14 in das 3. Schuljahr eingetreten sind; Freiburg: Repetition nur einmal während der obligatorischen Schule möglich, Thurgau: nur einmal währen der Primarstufe möglich, Appenzell Innerrhoden: Repetition des 8. Schuljahres nicht möglich, Graubünden: Repetition des 8. Schuljahres nicht möglich, wenn damit das Anforderungsprofils (Sek I) beeinflusst werden soll.

Wir beobachten allerdings nicht nur zwischen den Kantonen grosse Unterschiede in den Repetitionsquoten, sondern auch nach sozialer Herkunft oder Geschlecht. Bevor wir aber die Frage nach dem Equity-Prinzip beantworten können, müssten wir die Wirksamkeit des Treatments – in diesem Fall der Repetition – klären. Erst wenn klar ist, dass Repetitionen eine wirksame Massnahme darstellen, können wir entscheiden, wer benachteiligt ist, die Mädchen oder die Knaben.

Equal outcomes: Effektivität vs. Equity?

Die grosse Frage bei der Equity-Diskussion ist immer: Schliessen sich Wirksamkeit und Equity gegenseitig aus? Oder mit anderen Worten: Sind Bildungssysteme entweder sozial ausgeglichen oder durch starke Durchschnittsleistungen gekennzeichnet? Die empirische Basis zur Beurteilung dieser Frage stellen standardisierte Leistungsdaten aus der Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK) dar. Als Equity-Mass dient der Anteil der Leistungsvarianz, die durch die soziale Herkunft erklärt werden kann.

Abbildung 4. ÜGK-Mathematikkompetenzen und Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistung nach Kanton

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: ÜGK · Berechnungen: SKBF

Wir stellen grosse Unterschiede nach Kanton fest. Die beiden Kriterien scheinen sich aber nicht gegenseitig auszuschliessen. Es gibt Kantone, welche in beiden Dimensionen eine gute Bilanz aufweisen (vgl. roter Quadrant) und Kantone, welche in beiden Dimensionen schlecht abschneiden (vgl. blauer Quadrant). Man kann also nicht von einem zwingenden Trade-off zwischen Equity (sozial ausgeglichenen Leistungen) und Effektivität (hohe durchschnittliche Leistung) sprechen. Der Kantonsvergleich fördert allerdings klar zu Tage, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien in bestimmten Kantonen eine deutlich geringere Chance haben, in der Schule zu reüssieren.

Wir können festhalten, dass kantonale Vergleiche ein Systemwissen generieren, das zur Qualitätsverbesserung genutzt werden kann. Die relative Position eines Kantons hilft, die erhobenen Systemparameter zu interpretieren. Der Benchmark aus dem Kantonsvergleich kann damit auch als Anreiz zu einem Wettbewerb zwischen den Kantonen führen. Es muss allerdings auch festgehalten werden, dass Unterschiede zwischen den Kantonen nicht zwingend Inequity zu bedeuten haben. Oftmals ist nicht klar, inwiefern ein Unterschied eine Ungleichheit bedeutet und wer dadurch benachteiligt ist.

Fazit

Entsprechend bedeutet dies in Bezug auf die Politische Bildung, dass deren Bildungsziele zwar im Rahmen des Lehrplans 21 sprachregional harmonisiert worden sind, die unterschiedliche Umsetzung in den Kantonen allerdings zu heterogenen Rahmenbedingungen geführt hat (Waldis 2017). Eine Einschätzung der Equity-Bilanz würde aber eine Analyse der Wirksamkeit der Politischen Bildung voraussetzen. So gibt es bislang kaum Analysen zur Frage, ob die Ziele der Politischen Bildung in der Schweiz erreicht werden, ob sie mittels eines eigenständigen Fachs besser erreicht werden und wie die politische Partizipation junger Menschen mit deren politischer Bildung während der Schulzeit zusammenhängt. Es gibt zwar aus internationalen Untersuchungen Hinweise auf einen solchen Zusammenhang. Das sind aber lediglich Korrelationen; für eine kausale Wirkung der Politischen Bildung auf das spätere Handeln gibt es kaum empirische Evidenz. Wir können somit nicht sagen, welche Faktoren ein Outcome wie etwa die politische Partizipation kausal beeinflussen, ob es die Politische Bildung ist, allgemein das erreichte Bildungsniveau oder ganz andere Faktoren wie das soziale Umfeld oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Der Befund aus internationalen Literaturstudien gilt insbesondere auch für die Situation in der Schweiz: Nötig wären bessere Daten, etwa Kompetenzdaten und längsschnittliche Daten sowie Forschungsbemühungen, die sich über die disziplinären und methodischen Grenzen hinweg erstrecken (vgl. Campbell 2019).


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Referats “Chancengerechtigkeit und Wettbewerb im föderalen Bildungssystem der Schweiz, gehalten von Dr. Stefan Denzler an den 16. Aarauer Demokratietagen vom 15. März 2024.

Referenzen:

  • Campbell, D. E. (2019) What Social Scientists Have Learned About Civic Education: A Review of the Literature, Peabody Journal of Education, 94:1, 32-47.
  • Chuard, C.; Aerne, A; Balestra, S.; Eugster, B. & Hodler, R. (2022). Ethnic clustering in schools and early career outcomes (Discussion paper Nr. 17505). Centre for Economic Policy Research.
  • OECD (2018). Equity in Education: Breaking Down Barriers to Social Mobility, PISA, OECD Publishing: Paris.
  • SKBF (2023). Bildungsbericht Schweiz 2023. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung: Aarau.
  • Waldis, M. (2017). Politische Bildung heute: Schweizerisches Bildungssystem vor einer herausfordernden Aufgabe. VSH-Bulletin Nr. 1, April 2017, 9-14.

Der Artikel wurde von Remo Parisi bearbeitet.

Bild: unsplash.com