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Das sozioprofessionelle Profil des Nationalrats (2015–2023)

Andrea Pilotti, Karim Lasseb, Roberto Di Capua
13th November 2023

Das Observatorium der Schweizer Eliten der Universität Lausanne hat eine Analyse des Profils des neuen Nationalrats durchgeführt, der aus den letzten eidgenössischen Wahlen von 2023 hervorgegangen ist1. Die Studie beinhaltet auch einen vergleichenden Blick auf den allerersten Nationalrat von 1848, der es ermöglicht, mehrere Elemente von grosser Stabilität hervorzuheben.

1. Präsenz von Frauen: durchwachsene Bilanz

Anlässlich der eidgenössischen Wahlen 2019 sahen wir den bislang grössten Anstieg des Frauenanteils im Nationalrat seit der Einführung des Frauenwahlrechts 1971 (von 32 auf 41,5%). Bei den Wahlen am 22. Oktober 2023 stellen wir jedoch einen Rückgang um drei Prozentpunkte fest. Die gewählten Frauen stellen nun 38,5% aller Mitglieder der Volkskammer. Ein Rückgang, der weitgehend auf den Erfolg der SVP zurückzuführen ist, die schon vor den Wahlen weniger weibliche Kandidaten auf ihren Wahllisten hatte.

Auch wenn die Präsenz der Frauen von 83 Mitgliedern im Jahr 2019 auf 77 am Abend des 22. Oktober 2023 zurückgegangen ist, zeigt sich, dass mit Ausnahme der SVP die Mitte-Rechts-Parteien (FDP und Mitte) sowie die SP ihre Fraktionen insofern erneuert haben, indem sie einen bedeutenden Anteil an Frauen gewählt haben. In der Mittepartei und der SP sind dies sogar mehr als die Hälfte.

Aktuell sind die Parteien mit den höchsten Frauenanteilen im neuen Nationalrat die Grünliberalen (70%), die SP (58,5%) und die Grünen (56,5%). Die anderen weisen wie in der letzten Legislaturperiode weiterhin keine echte Geschlechterparität auf: 42,9% der gewählten FDP-Mitglieder sind Frauen (dennoch ein Anstieg gegenüber 34,5% im Jahr 2019), 31% in der Mitte (32% im Jahr 2019) und 19,4% in der SVP (24,5% im Jahr 2019) (Abbildung 1).

Abbildung 1. Frauen in den Parteidelegationen des Nationalrats (2023), in %

Differenziertes Profil nach Geschlecht

Es gibt deutliche Unterschiede im sozioprofessionellen Profil der Frauen und Männer, die in den Nationalrat gewählt werden. Weibliche Abgeordnete zeichnen sich insbesondere durch ein niedrigeres Durchschnittsalter und einen höheren Anteil an Akademikern im Vergleich zu ihren Kollegen im Parlament aus (2023: 68,8% vs. 51,2%) (Anhang 1). Unter den gewählten Abgeordneten sind zwei Berufsgruppen vorherrschend: Berufsparlamentarierinnen und andere Freiberufler (Ärzte, Wirtschafts-, Rechts-, Politik- oder Kommunikationsberaterinnen usw.). Unter den gewählten Volksvertretern überwiegen die Berufsgruppen der Unternehmer, Landwirte und Rechtsanwälte (Anhang 3).

2. Der Nationalrat: eine etwas "ältere" Kammer

Auch stellen wir ein leichtes Älterwerden des neuen Nationalrats fest. Dies lässt sich an zwei Indikatoren ablesen. Einerseits stieg das Durchschnittsalter leicht von 48,6 (2019) auf 49,7 Jahre. Andererseits ist die Gruppe der Abgeordneten unter 40 Jahren geschrumpft, während die Gruppe der 60-Jährigen und Älteren gewachsen ist (Abbildung 2).

Abbildung 2. Altersverteilung der Mitglieder des Nationalrats (1848 und 2015-2023), in %

Die Tatsache, dass der allererste Nationalrat von 1848 sowohl ein niedrigeres Durchschnittsalter (43 Jahre) als auch einen weitaus geringeren Anteil an gewählten Vertretern im Alter von 50 Jahren oder mehr (22,5% vs. 50,5% im Jahr 2023) aufweist, hat zwei Gründe, die beide mit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenhängen. Einerseits brachte die Entstehung des Bundesstaates und seinem neuen politischen System auch eine junge politische Elite mit sich, die diejenige ersetzte, die den vorherigen Zeitraum geprägt hatte. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass die Lebenserwartung der Bevölkerung damals niedriger war als heute, was teilweise auch die Altersstruktur des Schweizer Parlaments beeinflusste.

3. Akademische Ausbildung: eine etwas weniger unverzichtbare Ressource

Der Anteil der Akademiker:innen im Nationalrat ist seit den 1990er-Jahren aufgrund des Erfolgs der SVP stetig gesunken. Diese Entwicklung hielt bis 2019 an, als der Anteil der Gewählten mit einer akademischen Ausbildung erstmals wieder anstieg, was vor allem auf mehrere neugewählte Grüne und Grünliberale mit einem Diplom einer Universität oder einer technischen Hochschule zurückzuführen war. Als Folge des Wiedererstarkens der SVP sinkt im Jahr 2023 der Anteil der Akademiker:innen wieder leicht (von 60,5 auf 58 Prozent). Dennoch ist die Universitätsausbildung nach wie vor eine weit verbreitete Ressource unter den Mitgliedern des Nationalrats (Anhang 1). Die Mitte-Rechts- (FDP, Mitte und Grünliberale) und die Linksparteien (SP und Grüne) weisen allesamt einen sehr hohen Akademisierungsgrad auf, während die SVP bei weitem den niedrigsten Anteil sowohl unter den neu Gewählten als auch insgesamt aufweist (Abbildung 3).

Abbildung 3. Gewählte mit akademischem Hintergrund in den Parteidelegationen des Nationalrats (2023), in %

4. Immer mehr Selbstständige und weniger Angestellte

In Bezug auf die Berufe stellen wir fest, dass der Nationalrat seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 eine sehr stabile Zusammensetzung aufweist (für weitere historische Details siehe auch Pilotti 2018, 2022). In Bezug auf die Entwicklung zwischen 2019 und 2023 sind zwei bemerkenswerte Veränderungen erkennbar: der deutliche Anstieg der Selbstständigen (von 45 auf 51,5%) und der deutliche Rückgang der Angestellten (von 18,5 auf 11%) (Abbildung 4).

Abbildung 4. Verteilung der Mitglieder des Nationalrats nach beruflichem Status (1848 und 2015-2023), in %

Der Anstieg der Selbstständigen hängt weitgehend vom Erfolg der SVP ab, deren neue Mitglieder fast alle (90,5%) dieser Berufsgruppe angehören. Der Anstieg der Selbstständigen ist auch auf die neu gewählten Mitglieder der Mitte zurückzuführen: Mehr als die Hälfte von ihnen übt eine selbstständige Tätigkeit aus.

Abbildung 5 zeigt eine detailliertere Aufschlüsselung aller 200 in den Nationalrat Gewählten nach beruflichem Profil. Man sieht, dass der Nationalrat von drei Hauptgruppen dominiert wird. Erstens die Berufspolitiker:innen2 (34,5%), die insbesondere einen grossen Anteil an Berufsparlamentarier:innen einschliessen, welche im Übrigen den grössten Zuwachs gegenüber 2019 verzeichnen (+5,5 Prozentpunkte; siehe Anhang 6). Zweitens die Unternehmer:innen (27%), deren Gewicht 2023 im Vergleich zum Beginn der letzten Legislaturperiode zunimmt, da mehr Landwirt:innen (+2,5 Prozentpunkte) und Unternehmer:innen in Industrie, Kunst und Gewerbe (+2 Prozentpunkte) dazustossen. Schliesslich die Gruppe der freien Berufe (24%), innerhalb derer interessanterweise die Anwält:innen anwachsen (+3 Prozentpunkte), was gemäss den Daten des Observatoriums der Schweizer Eliten das erste Mal seit Ende der 1970er-Jahre der Fall ist (siehe Pilotti 2017 : 360).

Abbildung 5. Verteilung der Mitglieder des Nationalrats nach Berufsgruppe im Jahr 2023, in %

5. 175 Jahre Bundesstaat (1848-2023) und eine erhebliche Stabilität des Berufsprofils des Nationalrats

Im Jahr 2023 feiern wir den 175. Jahrestag der Gründung des Bundesstaates. Ein Vergleich zwischen dem allerersten Nationalrat von 1848 und dem aus den letzten eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober 2023 hervorgegangenen zeigt ebenfalls einige Kontraste (Anhang 2). Erstens, eine stets erstklassige Präsenz von Unternehmern im Bereich Industrie und Gewerbe (15,3% in 1848 vs 17% in 2023), und die freien Berufe (etwa 25% an beiden Terminen). Zweitens ist die Präsenz von Landwirten im Jahr 2023 (10%) nun fast viermal so hoch wie 1848 (2,7%). Drittens verschwinden innerhalb der politischen Berufe die Mitglieder der kantonalen Exekutiven (22,5% im Jahr 1848), während in den Jahren 2000 und 2010 die Zahl der Vollzeitparlamentarier:innen sehr stark zunimmt); dies nicht zuletzt aufgrund der besseren Entlöhnung der Parlamentsarbeit. Schliesslich gibt es im Nationalrat immer noch wenig Platz für Angestellte. Auch wenn ihr Anteil im Jahr 2023 etwas höher ist als im Jahr 1848 (11% vs. 5,4), sind sie stark unterrepräsentiert.

Fazit

Obige Analyse des sozialen und politischen Profils des neuen Nationalrats, der aus den eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2023 hervorging, verdeutlicht die tiefe und konstante soziale Selektivität, welche die parlamentarische Rekrutierung in der Schweiz kennzeichnet. 

Zwar haben sich einige Indikatoren nach den letzten Wahlen verändert, so etwa das leicht angestiegene Durchschnittsalter, der leichte Rückgang der Frauenvertretung und der leichte Rückgang der Akademiker:innen aufgrund des Erfolgs der SVP. Trotzdem bestehen die meisten sozialen Merkmale der Gewählten bereits seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848.

So sind die freien Berufe und das Unternehmertum nach wie vor dominant im Nationalrat vertreten – und das seit 175 Jahren. Die Landwirt:innen sind zwar nur eine kleine Minderheit in der Gesellschaft, aber sehr stark vertreten. Umgekehrt sind die Angestellten des öffentlichen und privaten Sektors im Verhältnis zu ihrem demografischen Gewicht schwach vertreten. Dieser umgekehrte Spiegel zwischen den Mitgliedern des Parlaments und der sozioökonomischen Realität der Schweizer Bevölkerung wirft die Frage auf, ob die gewählten Vertreter:innen in der Lage sind, die alltäglichen Probleme der Bevölkerung auf Bundesebene umzusetzen.

Methodik

Diese kurze deskriptive Analyse wurde für die 200 gewählten Nationalratsmitglieder nach den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober 2023 durchgeführt. Die Zusammensetzung des Nationalrats wird sich nach den 2. Wahlgängen für den Ständerat noch etwas verändern. Die Neugewählten besteht aus 48 Personen mit folgender parteipolitischer Verteilung: 21 SVP, 10 SP, 7 FDP, 7 Mitte, 2 MCG und 1 EDU. Die soziografischen Daten stammen aus der Schweizer Elitendatenbank (2015 und 2019) oder wurden von den persönlichen Websites der gewählten Personen, den Kantonskanzleien oder aus Quellen der Print- und Onlinepresse gesammelt (2019 und 2023). Die soziodemografischen Daten von 1848 stammen aus einer persönlichen Datenbank von Andrea Pilotti. Die für 1848, 2015 und 2019 gesammelten Daten beziehen sich jeweils auf den Beginn der entsprechenden Legislaturperiode.


1 Die vorliegende Analyse stammt aus einer umfassenderen Studie, die unter folgendem Link abrufbar ist: Le profil socioprofessionnel du Conseil national (2015-2023)

2 Zu dieser Gruppe gehören Führungskräfte der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, Mitglieder kommunaler Exekutiven sowie professionelle Parlamentarier:innen.


Anhänge
Anhang 1: Mitglieder des Nationalrats mit akademischem Hintergrund (1848 und 2015-2023), nach Geschlecht, in %

  1848 2015 2019 2023
Akademiker:innen 58.6%   57.0%   60.5%   58.0%  
Frauen –   61.5%   63.9%   68.8%  
Männer –   54.8%   58.1%   51.2%  
Anhang 2: Verteilung der Mitglieder des Nationalrats nach Beruf (1848 und 2015-2023), in %

Berufe 1848 2015 2019 2023 Differenz
2019-2023
Unternehmensleitung 15,3% 15,5% 15,0% 17,0% 2,0
Anwält:innen 15,3% 9,5% 7,5% 10,5% 3,0
Rentner:innen 6,3% 1,0% 0,0% 0,5% 0,5
Andere freie Berufe 9,9% 16,0% 15,5% 13,5% -2,0
Führungskräfte der Privatwirtschaft 0,0% 8,0% 9,5% 6,0% -3,5
Landwirt:innen 2,7% 8,0% 7,5% 10,0% 2,5
Führungskräfte in Vereinen 0,0% 5,0% 6,0% 6,5% 0,5
Führungskräfte in NGOs und Genossenschaften 0,0% 1,0% 1,0% 0,0% -1,0
Mitglieder kommunaler Exekutive 2,7% 7,5% 6,5% 3,0% -3,5
Mitglieder kantonaler Exekutiven 22,5% 1,0% 0,0% 0,0% 0,0
Berufsparlamentarier:innen 0,0% 21,0% 21,5% 27,0% 5,5
Richter:innen und Bezirksräte 17,1% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0
Führungskräfte politischer Partein 0,0% 0,0% 0,5% 0,0% -0,5
Journalist:innen 2,7% 1,0% 1,0% 1,0% 0,0
Lehrer:innen 1,8% 2,0% 6,5% 4,0% -2,5
Führungskräfte öffentlicher Dienst 3,6% 3,5% 2,0% 1,0% -1,0
Anhang 3: Verteilung der Mitglieder des Nationalrats nach Beruf (2015-2023), nach Geschlecht, in %

  2015 2019 2023
Berufe Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Unternehmensleitung 19,3% 7,7% 21,4% 6,0% 22,0% 9,1%
Anwält:innen 11,1% 6,2% 10,3% 3,6% 13,8% 5,2%
Rentner:innen 0,7% 1,5% 0,0% 0,0% 0,8% 0,0%
Andere freie Berufe 14,1% 20,0% 12,0% 20,5% 9,8% 18,2%
Führungskräfte der Privatwirtschaft 8,9% 6,2% 11,1% 7,2% 7,3% 3,9%
Landwirt:innen 9,6% 4,6% 10,3% 3,6% 12,2% 6,5%
Führungskräfte in Vereinen 5,9% 3,1% 5,1% 7,2% 7,3% 5,2%
Führungskräfte in NGOs und Genossenschaften 0,0% 3,1% 0,0% 2,4% 0,0% 0,0%
Mitglieder kommunaler Exekutive 9,6% 3,1% 7,7% 4,8% 3,3% 2,6%
Mitglieder kantonaler Exekutiven 1,5% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
Berufsparlamentarier:innen 12,6% 38,5% 12,0% 34,9% 21,1% 37,7%
Richter:innen und Bezirksräte 0,0% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
Führungskräfte politischer Partein 0,0% 0,0% 0,0% 1,2% 0,0% 0,0%
Journalist:innen 0,7% 1,5% 0,9% 1,2% 0,0% 2,6%
Lehrer:innen 2,2% 1,5% 6,8% 6,0% 2,4% 6,5%
Führungskräfte öffentlicher Dienst 3,7% 3,1% 2,6% 1,2% 0,0% 2,6%