Frau Tresch, wie wird eine Partei zur Wahlsiegerin?
Anke Tresch, Redaktion DeFacto
21st September 2023
Welche Themen umtreiben die Wählenden in diesem Wahljahr besonders stark? Und wie sehr beeinflussen diese Themen letztendlich das Wahlverhalten von Wählerinnen und Wählern? Anke Tresch, die Leiterin der Schweizer Wahlstudie Selects und Professorin an der Universität Lausanne, ordnet ein.
Frau Tresch, welchen Themen umtreiben die Wählerinnen und Wähler in diesem Wahljahr besonders?
Anke Tresch: Laut Umfragen dominieren zurzeit drei Themen: die steigenden Gesundheitskosten, der Klimawandel sowie die Zuwanderung. Das sind Sorgen, welche die Bevölkerung in allen Landesteilen umtreiben. Aber auch die soziale Sicherheit, allen voran die Sicherung der Renten, und die Energieversorgung beschäftigen viele Menschen. Damit stehen mit den Krankenkassenprämien und der Altersvorsorge einerseits langjährige politische Grossbaustellen der Schweizer Politik im Fokus, andererseits mit Migration und Klimawandel globale Themen, die von äusseren Umständen abhängen. Diese äusseren Umstände können die Parteien in der Schweiz kaum beeinflussen. Einzelne Parteien profitieren aber von ihnen, da sie ihnen in die Hände spielen und ihnen Gelegenheit bieten, ihre bevorzugten Themen einfacher zu bewirtschaften.
Gibt es bemerkenswerte Veränderungen zu vor vier Jahren?
Die Zuwanderung hat als Folge des Kriegs in der Ukraine und dem Fachkräftemangel an Einfluss gewonnen. Vor den Wahlen 2019 war die Migration hingegen kaum ein Thema. Demgegenüber hält sich die Sorge um das Klima auch vor diesen Wahlen in den Topthemen. Allerdings hat sich der Kontext verändert. Vor vier Jahren kam die Sorge um das Klima unter dem Einfluss von Greta Thunberg und der Fridays for Future Bewegung nicht nur in der Schweiz während Monaten durch Klimastreiks und Strassenmobilisierungen zum Ausdruck. Diese breite Mobilisierung fehlt nun. Stattdessen sorgen die Proteste von Klimaaktivisten zuweilen für negative Schlagzeilen (Stichwort „Klimakleber“).
Inwieweit beeinflussen diese Themen die Wahlentscheidung der Wählenden?
Sachthemen beeinflussen die Wählenden in zweierlei Hinsicht. Zunächst ist der Themenkontext für die Mobilisierung wichtig, also die Entscheidung, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen. Von Abstimmungen kennen wir diesen Effekt sehr gut: wer eine Abstimmungsvorlage als besonders wichtig erachtet, geht eher an die Urne als jemand, dem das Thema gleichgültig ist. Bei Wahlen ist es ähnlich: wenn man sieht, dass viele Menschen um einen herum die eigenen Sorgen teilen, dann fühlt man sich bestätigt und wird zuversichtlich, dass man etwas bewegen kann. Wer hingegen feststellt, dass die eigenen Prioritäten von der Gesellschaft nicht geteilt werden, fühlt sich sozial isoliert und bleibt den Wahlen eher fern. Das hat die SVP bei den Wahlen 2019 erfahren: ihre Kernthemen Migration und Asyl waren kaum im öffentlichen Bewusstsein, sodass die SVP von allen grossen Parteien die meiste Mühe bekundete, ihre Basis zur Wahlteilnahme zu bewegen.
Darüber hinaus sind Sachthemen aber auch für den Wahlentscheid wichtig: man gibt der Partei den Vorzug, die man mit dem Thema assoziiert und als kompetent erachtet. D.h. die Partei, von der man erwartet, dass sie sich am stärksten um das Thema kümmert, es auf die politische Agenda setzt, an ihm dranbleibt und Lösungsvorschläge einbringt, die im Einklang mit den persönlichen Präferenzen stehen.
Welche Partei profitiert nun bei den anstehenden Wahlen am meisten von den diskutierten Themen?
Die Frage der Zuwanderung dürfte vor allem der SVP nützen, die das Thema schon lange – auch mittels Volksinitiativen – erfolgreich bewirtschaftet und auch im derzeitigen Wahlkampf unter verschiedenen Aspekten (10 Millionen Schweiz, Sicherheit) in den Mittelpunkt ihrer Kampagne rückt.
Anke Tresch ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne. Sie leitet seit 2017 die Gruppe “Politische Umfragen” am FORS und ist in dieser Funktion für die Schweizer Wahlstudie Selects verantwortlich.
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