Deutschschweizer Städte – die Weltmeisterinnen der direkten Demokratie
Martina Flick Witzig, Adrian Vatter
7th July 2023
Worüber wird in Schweizer Gemeinden und Städten besonders häufig abgestimmt? Wie oft werden fakultative Referenden oder Initiativen lanciert und wie steht es um deren Erfolgschancen? Wovon hängt die Beteiligung an kommunalen Abstimmungen ab? Antworten auf diese und andere Fragen liefert ein neues Buch, das eine umfassende Übersicht zu Urnenabstimmungen in den Schweizer Gemeinden präsentiert.
Die Schweiz gilt als unangefochtene Weltmeisterin der direkten Demokratie. In keinem anderen Land sind die unmittelbaren Entscheidungsbefugnisse der Bürgerinnen und Bürger bei Sachgeschäften so stark ausgebaut und werden so intensiv praktiziert wie in der Schweizer Eidgenossenschaft. Rund die Hälfte aller nationalen Volksabstimmungen weltweit haben in der Schweiz stattgefunden. Dennoch fehlte bis heute ein Grundlagen- und Übersichtswerk über die Institutionen und die Praxis der unmittelbaren Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf kommunaler Ebene. Dieses legen wir nun vor.
Umfassendes Grundlagen- und Übersichtswerk
Mit Daten zu allen Grossstädten und ausgewählten Gemeinden aus sämtlichen Kantonen zeigen wir neue Facetten und die Bedeutung der direkten Demokratie auf der kommunalen Ebene auf. Wir gehen dabei unter anderem folgenden Fragen nach: Welche Instrumente der direkten Demokratie existieren in den Schweizer Gemeinden und Städten? Wie weitgehend sind kantonale Vorgaben zu kommunalen Abstimmungen? Mit welchen Faktoren lassen sich die Häufigkeit, das Resultat und die Beteiligung bei kommunalen Volksabstimmungen erklären? Welche Veränderungen werden bei Abstimmungen in den Schweizer Grossstädten über einen Zeitraum von 30 Jahren sichtbar?
Stadt-Land- und Röstigraben
Unsere Analysen warten mit überraschenden Befunden auf: So zeigt sich beim Gebrauch der Volksrechte ein ausgeprägter Röstigraben, der in der Deutschschweiz zusätzlich durch einen Stadt-Landgraben ergänzt wird. Die kommunale direkte Demokratie wird nämlich hauptsächlich in den grossen Deutschschweizer Städten intensiv praktiziert und gelebt, während sie in den französisch- und italienischsprachigen Gemeinden nur eine vernachlässigbare Bedeutung besitzt.
Die Studie kürt damit auch die eigentlichen Weltmeisterinnen der direkten Demokratie, was die Häufigkeit von Abstimmungen anbetrifft. Den Spitzenplatz mit den weltweit meisten Urnenabstimmungen nimmt für das 21. Jahrhundert die Stadt Bern ein, danach folgen der Kanton Zürich und die Stadt Zürich. In Bezug auf die Existenz der direktdemokratischen Instrumente lassen sich dagegen keine auffälligen Unterschiede nach Sprachregionen feststellen. Eine grössere Rolle spielt dagegen die Gemeindegrösse: Je grösser die Gemeinde, desto wahrscheinlicher sind obligatorische und fakultative Referenden sowie Volksinitiativen vorgesehen.
Erfolgreiche Volksinitiative in den Städten
Insgesamt werden kommunale Vorlagen fast doppelt so häufig an der Abstimmungsurne angenommen wie eidgenössische Sachgeschäfte. Besonders auffällig ist, dass Volksinitiativen in den Städten und Gemeinden fast dreimal so häufig erfolgreich sind wie jene im Bund. Offenbar ist es leichter, die Anliegen von Initiativen auf die relativ homogene Interessenlage in Gemeinden abzustimmen. Zudem sind die Zugangshürden für Initiativen in Form von Unterschriftenerfordernissen und Sammelfristen auf kommunaler Ebene deutlich strenger, was einen gewissen Filtereffekt hat: Vorlagen, die die Zugangshürden überwinden, verfügen über einen vergleichsweise starken Rückhalt in der Bevölkerung, was sich positiv auf ihre Annahmechancen auswirkt.
Spillover-Effekte bei der Beteiligung
Für die Höhe der Stimmbeteiligung auf kommunaler Ebene ist vor allem ein Faktor entscheidend, nämlich ob zeitgleich Urnengänge auf eidgenössischer Ebene stattfinden. In diesen Fällen liegen die Teilnahmewerte bei rund 46 Prozent. Wird zeitlich unabhängig von Urnengängen auf eidgenössischer oder kantonaler Ebene abgestimmt, erreicht die Beteiligung dagegen im Schnitt nur ca. 31 Prozent. Dieser Spillover-Effekt von Multipack-Abstimmungen erklärt alleine über 70 Prozent der Beteiligungsunterschiede zwischen den kommunalen Urnengängen. Dagegen haben die Themen der Vorlagen fast keinen Einfluss auf die Mobilisierung.
Insgesamt leistet das Buch einen Beitrag, die bestehende Forschungslücke zur Ausgestaltung und Bedeutung der direkten Demokratie auf Gemeindeebene ein Stück weit zu schliessen. Dabei zeigt sich ein differenziertes Bild, das die Bedeutung der subnationalen Ebene als Labor für unterschiedliche institutionelle Regelungen unterstreicht.
Referenz:
- Martina Flick Witzig und Adrian Vatter (2023). Direkte Demokratie in den Gemeinden. Basel: NZZ-Libro. ISBN: 978-3-907396-24-7
Bild: Chur, Aufnahme von Christian Regg. Quelle: Unsplash.