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Kulturverhalten in der Schweiz: die «Allesfresser» im Vormarsch

Sebastian Weingartner, Jörg Rössel
4th Januar 2023

In der 32. Ausgabe der Zeitschrift Social Change in Switzerland zeigen Sebastian Weingartner und Jörg Rössel, dass die schweizerische Bevölkerung zwischen 1976 und 2019 kulturell deutlich aktiver geworden ist. Dominierten in den 1970er Jahren die kulturell Inaktiven, sind heute die Eklektiker – die kulturellen «Allesfresser» – die grösste Gruppe. Auch der Anteil der Hochkulturfans hat zugenommen. Diese finden sich jedoch zunehmend nur noch in den älteren Generationen.

Die beiden Forscher aus Zürich analysieren den Wandel im Kulturverhalten auf der Basis von vier repräsentativen Erhebungen der Schweizer Bevölkerung zwischen 1976 und 2019. Sie untersuchen 12 verschiedene Kulturaktivitäten, wobei sechs Aktivitäten einem hochkulturellen Modell (z. B. Theater-, Konzert- oder Museumsbesuch) und sechs einem Modell der Populärkultur (z. B. Fernsehen, Radio oder Besuch einer Sportveranstaltung) entsprechen.

Ihre Analyse fördert drei verschiedene Typen von Kulturnutzern zutage. Die Inaktiven beteiligen sich kulturell bis auf Radiohören und Fernsehen kaum. Die Eklektiker sind kulturelle «Allesfresser» und mischen ganz unterschiedliche kulturelle Aktivitäten wie Rockkonzert und Kunstmuseum. Die Hochkulturfans engagieren sich vorwiegend hochkulturell und tun dies besonders intensiv.  Während 1976 die Hälfte der Bevölkerung zu den Inaktiven gehörten, war dies 2019 nur noch für einen Drittel der Fall. Die Bevölkerung der Schweiz ist also kulturell deutlich aktiver geworden. Die Eklektiker haben ihren Anteil von weniger als 30% in 1976 auf heute fast 40% gesteigert. Auch der Anteil der Hochkulturfans hat zugenommen, von 12% auf nahezu 30%.

Die beiden Autoren zeigen, dass sich die kulturelle Partizipation weiterhin stark nach sozialstrukturellen Merkmalen unterscheidet. Das generelle Ausmass des kulturellen Engagements wird zunehmend durch den Bildungsstand geprägt: je höher die Bildung, desto kulturell aktiver sind die Leute. Dies gilt jedoch nicht für hochkulturelle Aktivitäten. Diese hängen heute stärker vom Alter ab und sind zunehmend eine Domäne der älteren Bevölkerungsgruppen geworden. Anders als vom berühmten Soziologen Pierre Bourdieu erwartet ist der Gegensatz von Hoch- und Populärkultur in der Schweiz nachrangig.

Social Change
Die Reihe Social Change in Switzerland dokumentiert laufend die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Schweiz. Die Reihe wird gemeinsam herausgegeben vom Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS, vom Zentrum für die Erforschung von Lebensläufen und Ungleichheiten der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne LIVES, sowie vom Schweizer Kompetenzzentrum LIVES zur Forschung der Überwindung der Verletzbarkeit im Verlauf des Lebens. Ziel der Reihe ist es, Veränderungen bezüglich Arbeit, Familie, Einkommen, Mobilität, Stimmrecht oder Geschlechterverhältnisse aufzuzeigen. Die Beiträge beruhen auf wissenschaftlichen Untersuchungen und richten sich an ein breiteres Publikum.


Referenz:

Bild: unsplash.com