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Auf der Suche nach dem perfekten politischen System

Laurence Brandenberger, Florence Metz
17th Juni 2022

Gibt es politische Systeme, die komplizierte Probleme effizienter lösen oder Lösungen besser umsetzen als andere? Um diese Frage zu beantworten, haben wir analysiert, wie sich das politische System eines Landes auf politische Netzwerkstrukturen auswirkt. Untersucht haben wir diese Netzwerkstrukturen am Beispiel des Gewässerschutzes, ein Politikfeld, bei dem die Schweiz eine Vorreiterrolle einnimmt.

Das politische System beeinflusst die Zusammenarbeit der politischen Akteure und damit auch den Entscheidungsprozess.Mit unserer Forschung zeigen wir, dass sich ein Blick auf das Beziehungsgeflecht, in das politische Akteure verwickelt sind, lohnt, um den Einfluss politischer Systeme auf getroffene Entscheide zu verstehen.

Manche politische Systeme sind für das Lösen von komplizierten gesellschaftlichen Problemen besonders gut geeignet. Dies gilt für diverse Politikfelder. So hat beispielsweise Schweden 1974 eine genderneutrale Elternzeit eingeführt und steht dadurch seit 2010 auf Platz 1 des Europäischen gender equality index. Im Bereich Klimawandel ist England das erste Land weltweit, dass sich gesetzlich dazu verpflichtet hat, die Erderwärmung zu beenden.

Das Herzstück von Demokratien: Kooperation als Mittel zu politischen Entscheiden

In westlichen Demokratien kommen politische Entscheide nur durch die Zusammenarbeit verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Interessen zustande. Welche Entscheide sich durchsetzen, hängt von den Machtstrukturen und Beziehungsgeflechten innerhalb des politischen Systems ab. In unserer Arbeit stellen wir Macht- und Beziehungsstrukturen als soziales Netzwerk dar und vergleichen diese Strukturen zwischen verschiedenen politischen Systemen. Besonders wichtig dabei ist die Machtverteilung im Netzwerk und die Frage, welche Akteure miteinander kooperieren.

Wer hat das Sagen? Machtverteilung in politischen Entscheidungsprozessen

Wer sich im politischen Prozess stärker vernetzt, geniesst mehr Einflussmöglichkeiten, ist näher am Geschehen, besser informiert und kann sich schneller positionieren (Kriesi, Adam und Jochum 2006).

Das politische System hat auf diese Machtverteilung einen zentralen Einfluss (siehe Abbildung 1). In Konsensdemokratien stellen verschiedene politische Institutionen — wie zum Beispiel das Proporzsystem oder die Beteiligung von Interessensgruppen an politischen Prozessen — sicher, dass sich das Machtgefüge nicht zu sehr auf ein paar wenige Akteure konzentriert. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Entscheidungsmacht in Mehrheitsdemokratien meist auf ein paar zentrale Akteure (Lijphart 1999).

Abbildung 1: Darstellung Machtverteilung

Um diese beiden politischen Systeme zu vergleichen, haben wir insgesamt vier politische Netzwerke untersucht. Dabei können wir den Einfluss vom politischen System auf das Beziehungsgeflecht von politischen Akteuren detailliert darstellen.

Die beiden föderalen Staaten Deutschland und Schweiz, zwei typische Konsensdemokratien, zeichnen sich durch rege Kooperationen zwischen unterschiedlichen Akteuren aus. In der zentral organisierten Mehrheitsdemokratie Frankreichs versuchen sich die Akteure im Netzwerk mit den Stärksten zu vernetzen, was wiederum deren Position noch verstärkt. Dies gilt zu einem gewissen Grad auch in den ebenfalls zentralistischen Niederlanden, wo eine Art Hybridform beider Demokratien herrscht.

Wer arbeitet mit seinen politischen Gegner:innen zusammen? Kooperationsmuster in politischen Entscheidungsprozessen

Je besser politische Akteure vernetzt sind, desto fliessender ist der Informationsaustausch und desto eher ist es möglich, eine gemeinsame Lösung zu finde hinter der alle Beteiligten stehen können.

Reger Informationsaustausch, Zusammenarbeit in Projekten oder Treffen in Foren helfen Akteuren dabei, sich anzunähern, Positionen der anderen kennen zu lernen, sich gegenseitig zuzuhören und Probleme (oder Bedenken) des Gegenübers wahrzunehmen. Auch hier hat das politsche System einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf, wer sich in diesem Austausch findet und wie Beziehungen aufgebaut werden.

In Konsensdemokratien ist das Ziel, Akteure mit verschiedenen Überzeugungen an einen Tisch zu bringen. Die Entscheidungsprozesse können dadurch allerdings langwierig werden und kommen unter Umständen auch nur in kleinen Schritten voran.

In Mehrheitsdemokratien wird hingegen darauf abgezielt, eine starke Mehrheit zu bilden, um schnellere und umfassendere Entscheide zu treffen  (siehe Abb. 2). Politische Gegner:innen sind bei der Entscheidungsfindung jedoch nicht involviert. Dies kann dazu führen, dass Entscheide bei neuen Mehrheitsverhältnissen, zum Beispiel nach Wahlen, wieder zurückgenommen werden

Abbildung 2: Darstellung Kooperationsmuster

Politische Systeme beeinflussen die Zusammensetzung und den Austausch in den Netzwerken markant. Wie unsere Untersuchungen zeigen, gibt es in den Konsensdemokratien Deutschland und Schweiz (und dem hybriden System der Niederlande) die Tendenz, mit den politischen Gegner:innen zusammenzuarbeiten. Die Akteure sind sich ihrer unterschiedlichen Positionen bewusst und versuchen trotzdem, zu kollaborieren, beziehungsweise gemeinsam nach einer Lösung zu suchen.   

In der Mehrheitsdemokratie Frankreich ist die Zusammenarbeit mit den politischen Gegner:innen hingegen eher selten. In solchen Systemen ist die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Akteuren stärker als die Zusammenarbeit mit politischen Gegner:innen. Akteure, die betreffend möglicher Lösungen ähnliche Vorstellungen haben, tendieren dazu untereinander zu kollaborieren und arbeiten eher selten mit dem politischen Gegner zusammen.

Zusammenfassung und Ausblick

Mit unserer Methode können wir Kooperationsmuster und Machtstrukturen in politischen Prozessen präzise und vergleichend darstellen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich das politische System eines Landes auf die alltäglichen Entscheidungsprozesse auswirkt und dabei die Art der Zusammenarbeit zwischen politischen Akteuren massgeblich mitgestaltet.

Die Menschheit steht vor einer Vielzahl an sektorübergreifenden Problemen wie z.B. Klimawandel, Artensterben, steigende Energiepreise und drohende Wirtschaftseinbrüche (z.B. durch Finanzkrisen oder internationale Auseinandersetzungen).

Um diese dringlichen politischen Probleme nicht nur auf nachhaltige und gerechte Weise, sondern auch zeitnah zu lösen, ist die Zusammenarbeit zwischen politischen Gegner:innen unumgänglich. Unsere Forschung zeigt, dass konsensorientierte Systeme im Vergleich zu mehrheitsorientierten Systemen besonders gute Voraussetzungen für lagerübergreifende Zusammenarbeit bieten.

Für mehrheitsorientierte Systeme gilt: Um politische Lagerkämpfe zu überwinden, müssen politische Entscheide dann getroffen werden, wenn Mehrheiten entstehen. Ohne klare Mehrheit bleibt die Möglichkeit, den Fokus auf die regionale Ebene zu legen und dort in Zusammenarbeit mit allen relevanten Interessenkreisen Probleme dezentral zu lösen. 

Daten und Methoden
Wir haben politische Netzwerke in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden untersucht. Die Akteure, die Teil dieser Netzwerke sind, befassen sich mit der Problematik der Gewässerverschmutzung und arbeiten an der Regulierung neuartiger Schadstoffe.

Wir bezogen staatliche Akteure auf nationaler und regionaler Ebene sowie nichtstaatliche Akteure aus den Bereichen Wasser-und Abwasser, Umwelt, Landwirtschaft und Industrie in unsere Analysen ein. Das Netzwerk in der Schweiz - einer typischen Konsensdemokratie mit Föderalstruktur - umfasst 47 Akteure. Das Netzwerk in Deutschland umfasst 29 Akteure. Im französischen Netzwerk, das im majoritär-unitären System Frankreichs eingebettet ist, finden wir 18 Akteure. Als viertes Netzwerk untersuchten wir die Niederlande mit 16 Akteuren. Das Land hat ein hybrides System mit zentralistischen und konsensorientierten Strukturen..

Netzwerke zu vergleichen ist schwierig

Die vier von uns untersuchten Netzwerke setzen sich aus unterschiedlich vielen Akteuren zusammen. Ausserdem sind die Akteure unterschiedlich gut vernetzt.

Nur mit Hilfe von Inferenzstatistik kann man gezielt Aussagen darüber treffen, wie sich die Strukturen der vier Netzwerke unterscheiden. Wir haben dafür sogenannte Exponential Random Graph Models verwendet (Frank and Strauss 1986, Cranmer et al. 2017). Zusätzlich haben wir in unserem Artikel wichtige methodische Schritte angewendet, um die Ergebnisse vergleichbar zu machen und Fehlinterpretationen auszuschliessen. So kann man zum Beispiel nicht einfach die Koeffizienten der Schätzungen vergleichen, da diese relativ sind und immer nur für das einzelne Netzwerk gelten. Wir berechneten deshalb für all unsere Vergleiche Vorhersagewahrscheinlichkeiten, damit Netzwerkstrukturen richtig verglichen werden können. Unser Artikel ist einer der ersten, der politische Netzwerke über politische Systeme hinweg vergleicht und dabei die methodischen Probleme nicht ausser Acht lässt. Mit der Bereitstellung unseres R‑Codes und der Daten hoffen wir, dass auch in Zukunft mehr Forscher:innen diesen Schritt wagen und Netzwerke miteinander vergleichen. Nur mit rigoroser komparativer Forschung kann man herausfinden, welche Machtstrukturen helfen, komplexe Probleme schneller zu lösen.

Die Daten (inkl. Analyseskripts) sind auf Harvard Dataverse zur Verfügung gestellt: http://doi.org/10.7910/DVN/NKCDCO.



Quelle:

Metz, Florence und Laurence Brandenberger (2002). "Policy Networks Accross Political Systems." American Journal of Political Science.


Referenzen:

  • Cranmer, Skyler J., Philip Leifeld, Scott D. McClurg und Meredith Rolfe. (2017). “Navigating the Range of Statistical Tools for Inferential Network Analysis.” American Journal of Political Science 61(1): 237–51.
  • Frank, Ove und David Strauss (1986). “Markov Graphs.” Journal of the American Statistical Association 81(395): 832– 42.
  • Kriesi, Hanspeter, Silke Adam und Margit Jochum (2006). “Comparative Analysis of Policy Networks in Western Europe.” Journal of European Public Policy 13(3): 341–61.
  • Lijphart, Arend (1999). Patterns of Democracy: Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. New Haven, CT: Yale University Press.