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Regionen- statt Ständemehr: ein Reformvorschlag

Lukas Egli
13th June 2022

Die Konzernverantwortungsinitiative ist das jüngste Beispiel einer Volksinitiative, die am Ständemehr gescheitert ist. Im Nachgang häuften sich Debatten darum, wie angemessen das Ständemehr heute noch ist. Im kommenden Text wird die Notwendigkeit einer Ständemehrreform hergeleitet und eine Reformidee vorgeschlagen.

Das für bald 175 Jahre Bundesstaatsgeschichte unbestrittene Erfordernis des Doppelmehrs gerät in jüngster Zeit immer mehr unter Kritik (Vatter 2020: 426).  Grund für den zunehmenden Konflikt ist die Garantie des politischen Gewichtes durch das Ständemehr (Schöpfer, 2021) welche zu einem systematischen Schutz der konservativen, ländlich geprägten Kleinkantone führt (Vatter 2020: 426). Der Hauptgrund für die steigende Kollisionsgefahr zwischen Ständemehr und Volksmehr liegt in der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen zwischen den Kantonen (Sager & Vatter 2013: 15). Heute ist ein*e Appenzeller*In mächtiger als 39 Zürcher*Innen (Schuler, 2021, Internetseite 1, Germann 1991: 261). Ein weiter Grund ist, dass es immer dieselben «Gewinner-» und «Verliererkantone» sind, welche wahlweise Nutzniesser oder Benachteiligte der Doppelmehrregel sind (Vatter 202:416). Hinzu kommt die nicht zeitgemässe Definition der Stimmen: Während die Stimmer der Wähler*innen noch immer dem Territorialprinzip folgt, verlieren die Kantonsgrenzen aufgrund enger werdender Pendlerverflechtungen und einer mobilen Wohn- bzw. Arbeitsweise an Bedeutung (Internetseite 2). Ein stetiger Legitimationsdruck des Ständemehrs begründet sich ferner darauf, dass die Minoritäten von 1848 ausschliesslich anhand von geographischen Räumen definiert wurden (Vatter & Sager 1996: 5). «Neue Minderheiten» – etwa Homosexuelle, Behinderte, Sprachminderheiten, Militärdienstverweigerer, religiöse Gruppen, Ausländer*innen oder nicht-binäre Geschlechtsidentitäten (Vatter & Danaci 2010: 211) – fallen durch die Maschen des territorial gedachten Minderheitenschutzes. Die Legitimität und Effektivität des Ständemehrs müssen aus all jenen Gründen heute als zusehends unbefriedigend betrachtet werden (Vatter 2020: 427). Doch was ist zu tun? Von qualifiziertem Volks- bzw. Ständemehr über neue Mehrheitsregeln bis hin zur kompletten Abschaffung: Reformideen kursieren allesamt – und sie sind ebenso bekannt wie politisch chancenlos. Im Sinne eines Denkanstosses wird vorliegend eine neue Reformidee skizziert: das geografische und kulturelle Regionenmehr

Das Regionenmehr: Worauf es fusst, wie es funktioniert

Das Regionenmehr sieht eine Umstellung von Standesstimmen auf Regionenstimmen vor.  Letztere begründen sich anhand der interkantonalen Zusammenarbeit, denn Kantone kooperieren in vielfältiger Weise miteinander (Bochsler 2009; Arens 2020); so etwa in den Bereichen Finanzen, Steuern, Staatsorganisation, Sicherheit, Bildung und Kultur (Arens et al. 2017: 192). Wo die Stände immer mehr gemeinsam absprechen, verwässern die Kantonsgrenzen zusätzlich (Bernauer & Müller, 2015: 326). Hingegen spielt die Sprachgrenze neben funktionalen Gründen eine wichtige Rolle dafür, wer mit wem kooperiert  (Bochsler 2009: 16; Vatter 2020: 460). Eine Analyse der interkantonalen Vereinbarungen von Bochsler und Sciarini (2006: 34) sowie die «map of all intercantonal agreements» von Arens (2020: 187) zeigen, dass besonders vier Kantonsgruppen eng miteinander verflochten sind:  die Kantone der Zentralschweiz, der Nordschweiz, der Ostschweiz und der Nordwestschweiz. Der Kanton Tessin bleibt aufgrund seiner geografischen Lage und der Sprache relativ isoliert (Bochsler & Sciarini 2006: 35). Dies unterstreicht die Idee des Regionenmehr. Daraus leiten sich folgende geografische (Tabelle 1) und kulturelle (Tabelle 2) Regionen ab.

Tabelle 1: geografische Regionenstimmen

Kantone Bevölkerungsstärke geografische Regionenstimme
UR, NW, OW, LU, ZG, SZ,    
828’420   
   
1   
BE, BS, BL, SO, AG 2’507’800 2
   
SH, TG, SG, GR, AR, AI, GL, ZH   
   
2’748’400   
   
2   
JU, FR, GE, VD, NE, VS, 1’901’000 2
   
TI   
   
353’300   
   
0.5   

Die Verteilung der Stimmen begründet sich einerseits durch die Bevölkerungsstärke, anderseits soll die Sprachen ebenfalls gewichtet werden.

Tabelle 2: kulturelle Regionenstimmen

   
Sprache   
   
Bevölkerungsstärke   
   
kulturelle Regionenstimmen   
Deutsch
(UR, NW, OW, LU, ZG, SZ, BE, BS, BL, SO, AG, SH, TG, SG, GR, AR, AI, GL, ZH, VS)
   
6’433’820   
   
2   
   
Französisch
(JU, FR, GE, VD, NE)   
   
1’901’000   
   
1   
   
Italienisch
(TI)   
   
353’300   
   
0.5   

Quelle: Sprachregionen von Internetseite Nr. 4, Bevölkerungsstärke von Internetseite Nr. 3. Die Anzahl Stimmen in der neuen Verteilung wurde selbst bestimmt.

Tabelle 3 : Ex-ante Evaluation

Jahr Vorlage Ergebnis Regionenmehr Resultat
(simuliert)
1955 Bundesbeschluss über die Volksinitiative zum Schutz der Mieter und Konsumenten (Weiterführung der Preiskontrolle) • 5 Nein (Region 1, 3 und   deutschsprachig)
   
• 6 Ja (Region 2, 4, 5, italienisch-sprechende und frankophone Kantone)
angenommen
1970 Bundesbeschluss über die Änderung der Finanzordnung des Bundes • 4 Nein (Region 1, 4 und frankophone Kantone)
   
• 7 Ja (Region 2, 3, 5, deutsch- und italienisch-sprechender Kanton)
angenommen
1973 Bundesbeschluss über die Änderung der Bundesverfassung betreffend das Bildungswesen • 4 Nein (Region 3 und 4)

• 7 Ja (Region 1, 2, 5, italienisch-sprechende, frankophone und deutschsprachige Kantone)

angenommen
1975 Bundesbeschluss über den Konjunkturartikel der Bundesverfassung • 4 Nein (Region 1, 4 und frankophone Kantone)

• 7 Ja (Region 2, 3, 5, deutsch- und italienisch-sprechender Kanton)

angenommen
1983 Bundesbeschluss über den Energieartikel in der Bundesverfassung • 5 Nein (Region 1, 2 und deutschsprechende Kantone)

• 6 Ja (Region 3, 4, 5, italienisch-sprechender und frankophone Kantone)

angenommen
1983 Bundesbeschluss über die Revision der Bürgerrechtsregelung in der Bundesverfassung (Erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer) • 5 Nein (Region 1, 3 und deutschsprechende Kantone)

• 6 Ja (Region 2, 4, 5, italienisch-sprechender und frankophone Kantone)

angenommen
1994 Bundesbeschluss über einen Kulturförderungsartikel in der Bundesverfassung (Art. 27septies BV) • 5 Nein (Region 1, 3 und deutschsprechende Kantone)

• 6 Ja (Region 2, 4, italienisch-sprechender und frankophone Kantone)

angenommen
2013 Bundesbeschluss über die Familienpolitik • 5 Nein (Region 1, 3 und deutschsprechende Kantone)

• 6 Ja (Region 2, 4, italienisch-sprechender und frankophone Kantone)

angenommen
2020 Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» • 5 Nein (Region 1, 3 und deutschsprechende Kantone)

• 6 Ja (Region 2, 4, italienisch-sprechender und frankophone Kantone)

angenommen

Tabelle 3 simuliert die bisherigen «Kollisionsabstimmungen», bei der sich Volk- und Ständemehr widersprachen, unter Anwendung des geografischen und kulturellen Regionenmehrs. Dessen Bilanz ist offensichtlich: Ein Regionenmehr hätte jeden Kollissionsfall ungeschehen gemacht.

Dies kann sicherlich kritisiert werden, weil dann die Frage aufkommt, ob diese Regionenmehr-Regelung wirklich eine Hürde darstellt. Doch wenn die Verteilung der Regionenstimmen nach Gewinner- und Verliererregion betrachtet wird, so sehen wir erstens, dass die Sprachminderheiten erfolgreich geschützt werden. Zweitens verteilt die Verteilung der Gewinner- und Verliererregionen weniger klar ausfällt, als beim jetzigen Ständemehr, wo beispielsweise Zürich immer auf der Verlierer*innenseite steht und die Kantone Schwyz, Appenzell Inner- und Ausserrhoden und Aargau immer auf der Gewinner*Innenseite (Vater 2020, S.416). Die Verliererregion dieser Reformidee wäre die Region 1, also die Kantone Uri, Schwyz, Nidwalden, Obwalden, Luzern und Zug, welche heute zu den stetigen Gewinnerkantone der Doppelmehrregel gehören (Vatter, 2020, S. 416).

Kritische Würdigung: welche Vor- und Nachteile das Regionenmehr mit sich brächte

Das Regionenmehr brächte die Ermittlung des Ständemehrs besser in Einklang mit der mobilen Lebens- und Arbeitsweise, welche Kantonsgrenzen als bedeutungslos erscheinen werden lassen. Bilden die Sprachminderheiten gemeinsam eine kulturelle sowie eine geografische Region, fallen ihre Stimmen mehr ins Gewicht als es heute beim gegenüber der lateinischen Schweiz oft diskriminierenden Ständemehr der Fall ist. So ist beim Ständemehr der Stimmenanteil der lateinischen Kantone in Prozent 26.1[1], beim Regionenmehr wäre er 36.4[2] Prozent. Ein weiterer Vorteil wäre, dass durch das Regionenmehr der Gedanke des Doppelmehrs bei Verfassungsänderungen bestehen bleiben würde.

Nachteilig ist, dass die Kantone mit unterschiedlichen Drittkantonen kooperieren. Eine trennscharfe Unterscheidung der Regionen, die für die Berechnung des Regionenmehrs vonnöten ist, ist dadurch kaum möglich. So würde nach dem Vorschlag des Regionenmehrs der Kanton Bern, welcher im Kooperationsnetzerwerk der Kantone eine wichtige Brückenfunktion einnimmt, der Region Nordwestschweiz zugehörig. Dasselbe Problem stellt sich bei den bilingualen Kantonen, welche strikt einer Sprachregion zugeordnet werden müssten. Eine solche Akzentuierung der Sprachgrenzen könnte letztlich zu «belgischen Verhältnissen» führen – und ein Auseinanderdriften der Sprachregionen befördern.

[1] (alle Standesstimmen der lateinischen Kantone) / (total Standesstimmen) = 6/23 = 26.1 %.

[2] (alle geographischen und kulturellen Regionenstimmen der lateinischen Kantone) / (total Regionenstimmen) = 5/11 = 36.4 %.

Literaturverzeichnis:

  • Arens, Alexander, Arnold, Tobias, Müller, Sean und Adrian, Vatter. 2017. «Föderalismus und Dezentralisierung in der Schweiz: Die politischen Effekte der Föderalismusreform NFA». In: Jahrbuch des Föderalismus 2017, hrsg. v. Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung. Baden-Baden: Nomos, 184 – 196.
  • Arens, Alexander. 2020. Federal Reform and Intergovernmental Relations in Switzerland. An Analysis of Intercantonal Agreements and Parliamentary Scrutiny in the Wake of the NFA (Dissertation). Bern: Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft.
  • Bernauer, Julian und Sean, Müller. 2015. «Einheit in der Vielfalt? Ausmass und Gründe der Nationalisierung von Schweizer Parteien». In Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz, hrsg. v. Freitag Markus und Adrian Vatter, Adrian. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 325–354.
  • Bochsler, Daniel und Pascal, Sciarini. 2006. «Konkordate und Regierungskonferenzen. Standbeine des horizontalen Föderalismus». Les Gens – Gesetzgebung und Evaluation, 17:1, 23–41.
  • Bochsler, Daniel. 2009. «Neighbours or friends? When Swiss cantonal governments cooperate with each other”. Center for Comparative and International Studies, University of Zurich.
  • Germann, E. Raimund. 1991. «Die Europatauglichkeit der direkt-demokratischen Institutionen der Schweiz». Institut de hautes études en administration publique, 257–269.
  • Sager, Fritz und Adrian, Vatter. 2013. «Föderalismus contra Demokratie. Das Ständemehr schützt nach wie vor die einstigen Sonderbundskantone». Neue Zürcher Zeitung, 06. März 2013 (https://www.nzz.ch/schweiz/foederalismus-contra-demokratie-ld.1022934).
  • Schöpfer, Linus. «Wenn die Maschine stottert». Tages-Anzeiger, 2. März 2021 (https://www.tagesanzeiger.ch/die-maschine-schweiz-stottert-740592729864).
  • Schuler, Carlo. «Ein Appenzeller ist mächtig wie 39 Zürcher: Wie Ausser- und Innerhoden vom Ständemehr profitieren und warum es weiterhin zu Anwendung kommen soll». Tagblatt, 8. Februar 2021 (https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/ein-appenzeller-ist-machtig-wie-39-zurcher-ld.2095765?reduced=true).
  • Vatter, Adrian und Fritz, Sager. 1996. «Föderalismusreform am Beispiel des Ständemehrs». Swiss Political Sience Review, 2:2, 1–40.
  • Vatter, Adrian und Deniz, Danaci. 2010. «Mehrheitstyrannei durch Volksentscheide? Zum Spannungsverhältnis zwischen direkter Demokratie und Minderheitenschutz». Politische Viertelsjahresschrift, 15, 205–222.
  • Vatter, Adrian. 2020. Das politische System der Schweiz, 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos.

Internetquellen

  1. Internetseite vom Schweizer Radio und Fernsehen. Abstimmungen in der Schweiz: Das sind die Alternativen zum Ständemehr. https://www.srf.ch/news/schweiz/abstimmungen-in-der-schweiz-das-sind-die-alternativen-zum-staendemehr. (zuletzt besucht am 15. Januar 2022).
  2. Internetseite der Stadt Freiburg. https://www.fr.ch/de/droits_politiques/stimmrecht. (zuletzt besucht am 15. Januar 2022).
  3. Internetseite vom Bundesamt für Statistik. Kantonale Szenarien. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/zukuenftige-entwicklung/kantonale-szenarien.html. (zuletzt besucht am 29. Januar 2022).
  4. Internetseite der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Die Sprachen – Fakten und Zahlen. https://www.eda.admin.ch/aboutswitzerland/de/home/gesellschaft/sprachen/die-sprachen—fakten-und-zahlen.html. (zuletzt besucht am 29. Januar 2022).

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