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Woher der Sinneswandel in der ungarischen Flüchtlingshilfe?

Jenna Althoff
7th Juni 2022

Die erzwungene Vertreibung von Geflüchteten aus der angrenzenden Ukraine nach Ungarn scheint die jahrzehntelange Bemühung der regierenden Fidesz-Partei, eine "Festung Ungarn" zu errichten, zunichte gemacht zu haben. Wie ist die aktuelle Kehrtwende bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu verstehen? Aufgrund des starken Ethnopopulismus der Regierung und ihres Narratives der ethnischen Inklusivität war Ungarn verpflichtet, alle Ungarn-Ukrainer im Land aufzunehmen. Da die ungarische Regierung nicht in der Lage war, überzeugend zwischen Doppelbürgern - Ungarn-Ukrainern - und Personen mit ausschließlich ukrainischer Staatsbürgerschaft zu unterscheiden, entstand eine Patt-Situation, in der ihre vormalig ablehnende Haltung in Asylfragen scheinbar implodiert.

Die Republik Ungarn, dieser EU-Mitgliedstaat an der südöstlichen Grenze des Schengen-Raums, ist in den letzten zehn Jahren für seine rigorose Asylpolitik bekannt geworden. Nach zwei Jahrzehnten der Internationalisierung und Europäisierung im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik (in den 1990er und 2000er Jahren) stellte Ungarn 2014 eine eigene Migrationsstrategie vor. Dieses Dokument (Europäische Kommission 2014) sah einen ausgewogenen Ansatz vor, der auf die möglichen Vorteile der Einwanderung hinwies, aber auch deren Herausforderungen anerkannte.

Doch noch bevor dieses Dokument umgesetzt werden konnte, führte die Krise der europäischen Migrations- und Asylpolitik der Jahre 2014 bis 2015 (Schulze Wessel 2017), die als "Flüchtlingskrise" bekannt ist, zu einer vollständig anderen Herangehensweise der Regierung an allen Migrationsbelangen. Die Befolgung europäischer und internationaler Normen und Regeln bei der Aufnahme von Asylbewerbern und der Steuerung der Migration wurde ausgesetzt. Was folgte, war eine Reihe von Maßnahmen, die den neuen ungarischen Ansatz des Gatekeeping, der Vernachlässigung und der Missachtung kennzeichnen.

Vom Fortschritt zur Verweigerung zu offenen Grenzen

Infolgedessen gehört Ungarn heute zu den entschiedensten Gegnern einer humanen Aufnahme von Asylbewerbern. Es ist auch einer der lautstärksten Befürworter geschlossener Grenzen innerhalb der EU und hat im Herbst 2015 fast im Alleingang die "Balkanroute" geschlossen. Seitdem hat die ungarische Regierung, die von der Fidesz-Partei geführt wird, die Bestimmungen für den Schutz von Geflüchteten immer weiter abgebaut. Bis zum März 2020 hatte die Regierung ein System installiert, mit dem es nicht mehr möglich war, an der ungarischen Grenze oder innerhalb des Landes überhaupt Asyl zu beantragen.  Stattdessen wurde ein einzigartiges Botschaftssystem eingeführt, bei dem entweder Belgrad (Serbien) oder Kiew (Ukraine) die einzigen beiden Einreisestellen bilden. Seitdem durften insgesamt 12 Personen nach Ungarn einreisen und dort einen Asylantrag stellen.

Die extreme Haltung Ungarns kommt einer Verbarrikadierung gegenüber Asylbewerbern gleich, die in sein Hoheitsgebiet eindringen wollen, und bedeutet, dass die Maßnahmen des Landes gegen das EU-Asylrecht verstoßen. Unter diesen Umständen schien es undenkbar, dass die ungarische Regierung ihren Standpunkt zum Asylrecht überdenken und die Öffnung der Grenzen zulassen oder sogar umfangreiche Mittel und andere Ressourcen bereitstellt würde, um die Vertriebenen aus der Ukraine angemessen unterzubringen. Genau dies geschah jedoch in den Tagen nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine.

Ethnische Exklusivität

Der Akt der Abschottung nach außen beruht auf einem außergewöhnlich starken nationalen Narrativ ethnischer Exklusivität. Dieses Narrativ ist historisch in den Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg verwurzelt, als das damalige "Großungarn" mit dem von den Siegermächten auferlegten Friedensabkommen von Trianon zwei Drittel seines Territoriums und einen großen Teil seiner Bevölkerung verlor.

Dieser ungarische "Verlust" wurde von der Fidesz-geführten Regierung genutzt, um neu zu definieren, wer zur ungarischen Nation gehört und wer nicht. Formal ist diese "Zugehörigkeit" im Staatsbürgerschaftsgesetz kodifiziert, das sich von allen EU-Mitgliedstaaten am stärksten auf das "ius sanguinis" stützt - das heißt, die Staatsbürgerschaft wird durch die Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit eines oder beider Elternteile, Großeltern oder sogar späterer Generationen erworben. In der Praxis werden starke Beziehungen zu allen ethnischen Ungarn in der gesamten Region geschaffen, insbesondere durch massiv finanzierte kulturelle Aktivitäten. Zu diesen Regionen gehören Gebiete im Süden und Südwesten Ungarns, aber auch im Osten der Ukraine (dem heutigen Transkarpatien).

Die Bedeutung der ungarischen Diaspora in der Region

Das Narrativ des "Ungarisch-Seins" stützt sich auf Blutlinie und biologische Abstammung sowie auf die Kenntnis der ungarischen Sprache - zugegebenermaßen eine der am schwierigsten zu beherrschenden Sprachen für Nicht-Einheimische - als entscheidenden Faktor in der Unterscheidung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Es dient als Grundlage für den starken Ethnopopulismus, den die Regierungspartei Fidesz seit ihrer erneuten Machtübernahme im Jahr 2010 propagiert.

Sie diente auch als Rechtfertigung für Änderungen des Staatsbürgerschafts- und Wahlrechts, die dazu führten, dass Hunderttausende von Menschen ungarischer Abstammung, die außerhalb des aktuellen Staatsgebiets leben, Zugang zum ungarischen Pass erhielten, oft in Form einer zweiten Staatsbürgerschaft. Dank dieser großzügigen Eingliederung und der loyalen Unterstützung durch diese "Ungarn-jenseits-der-Grenze" hat der Fidesz bei jeder Parlamentswahl seither (d. h. 2014, 2018, 2022) die absolute Mehrheit errungen. Allein in der Ukraine hat die ungarische Regierung rund 130.000 Zweitpässe ausgestellt.

Doch keine Kehrtwende?

Als der Krieg in der Ukraine begann, sah es so aus, als ob Ungarn seine frühere Weigerung, Asylbewerber:innen in sein Hoheitsgebiet zu lassen, aufgegeben und seine Grenzen für deren ungehinderte Einreise geöffnet hätte. Bei näherer Betrachtung der tatsächlichen Situation zeigt sich, dass viele derjenigen, die zuerst in Ungarn ankamen, nicht einfach Ukrainer waren, sondern Ukrainer aus dem ehemaligen ungarischen Gebiet Transkarpatien, die möglicherweise ungarische Vorfahren hatten und möglicherweise auch einen zweiten ungarischen Pass besaßen. Daher konnte ihnen die Einreise nicht legal verweigert werden, und dank des propagierten Narratives der Zusammengehörigkeit wurden sie stattdessen mit offenen Armen empfangen.

Was also wie eine vollständige Kehrtwende in der Asylpolitik aussah, muss in Wirklichkeit als Fortsetzung eines bekannten Weges von ethnischem Nationalismus betrachtet werden. Dies erklärt, warum sich die Behandlung der durch den Krieg in der Ukraine Vertriebenen so stark von der Behandlung anderer Gruppen von Asylbewerber:innen unterscheidet.

Die doppelgesichtige ungarische Reaktion auf Flüchtlinge

Aus westlicher, europäischer Sicht mag die Bereitstellung von Unterkünften, Hilfsgütern und anderen Formen der Unterstützung für die durch den Krieg in der Ukraine Vertriebenen den Anschein erwecken, als würde sich Ungarn endlich an die EU-Regeln und -Vorschriften halten und seiner Verpflichtung zur Gewährung von Asyl nachkommen. Aus interner Sicht ist dies jedoch nicht der Fall.

Ähnlich verhält es sich mit den ungarischen Hilfstransporten in die Grenzregion Transkapartien - aus westeuropäischer Sicht gehen sie in die Ukraine. Aus ungarischer Sicht ist die Hilfe jedoch auf das Gebiet beschränkt, das historisch mit Ungarn verbunden ist und von ungarischen Bürger:innen bewohnt wird. Was wie eine Geste der Solidarität aussieht, ist in Wirklichkeit keine. Was wie eine Änderung der Aufnahmepolitik für Flüchtlinge aussieht, ist tatsächlich ein Ausdruck ethnischer Exklusivität der Fidesz-regierten Regierung.

Ein tragisches Ende

In der Tat hat der russische Krieg gegen die Ukraine die Willkür der Flüchtlingsaufnahme in Ungarn verdeutlicht. Die Unterstützung, die jetzt fließt, wurde weder der vorherigen Gruppe von Asylbewerber:innen, nämlich den durch den Bürgerkrieg in Syrien Vertriebenen, noch denjenigen gewährt, die bereits im Land sind und teils unter erbärmlichen Bedingungen leben, z. B. Teile der ungarischen Roma-Bevölkerung. Dieser Ansatz verweist auf eine Hierarchie der Bedürftigkeit und verdeutlicht die bereits von anderen Wissenschaftler:innen beschriebene Diskriminierung innerhalb der Flüchtlingsbevölkerung (Dahinden 2022).

Auch wenn dies nicht das Ende des ungarischen Ethnopopulismus, des ungarischen Nativismus und der Ära der "Festung Ungarn" bedeutet, scheinen die mehr oder minder verdeckte Unterstützung Putins und die Versuche, weitere Sanktionen gegen Russland zu verhindern, zur Implosion der Visegrád-Gruppe, d. h. der Vierergruppe bestehend aus Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Polen, geführt zu haben. Diese Länder hatten sich zuvor viele Jahre erfolgreich gegen progressive Entwicklungen in der Asyl- und Migrationspolitik in Europa zusammengeschlossen. Ironischerweise besiegelt nun ausgerechnet das Thema Flüchtlingsaufnahme und Asyl, bei dem sie sich früher einig waren, das Ende ihrer Einheit.

Autorinnenhinweis

Jenna Althoff ist assoziierte Forscherin am nccr - on the move, wo sie zu Anspruchserhebungen in Krisenzeiten in postsowjetischen Wohlfahrtsstaaten forscht.

Folgen Sie ihrer kuratierten Auswahl an thematisch relevanten Publikationen, Artikeln und Veranstaltungen auf Facebook unter "Migration Policy In A European Context".

Referenzen:

– Althoff, Jenna (2022): Länderbericht Ungarn, MIDEM Länderberichte, Technische Universität Dresden, Dresden.
– Dahinden, Janine (2022): A Call for Solidarity with All Refugees, Beyond Double Standards!, nccr on the move, blog series “Europe on the Brink”, Université Neuchâtel, Neuchâtel.
– European Commission (2014): Hungary’s Migration Strategy, (last accessed: 16.05.2022).
– Schulze Wessel, Julia (2017): Krise! Welche Krise?; in: Walter, Franz (Hg.): Europa ohne Identität? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 62-66.

Fotoquelle: Commons.wikimedia.org