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Was verstehen Menschen eigentlich unter «Europa»?

Georg Datler, Jörg Rössel, Julia Schroedter
7th September 2021

Viel Forschung in der politischen Soziologie und Politikwissenschaften beschäftigt sich damit, ob sich Menschen mit Europa identifizieren. Doch was ist damit gemeint? Wir zeigen, dass die Begriffe und Bedeutung des Konzepts Europa entscheidend sind, wenn es um Identifikation geht.

Forschung zur Identifikation mit Europa gibt es in der politischen Soziologie und den Politikwissenschaften wie Sand am Meer. Unklar ist dabei aber, was die Menschen eigentlich damit meinen, wenn sie von einer Identifikation mit Europa sprechen. Was verbinden Befragte mit diesem Objekt der Identifikation, Europa? Ist das ein geographischer Raum, eine Gestalt der griechischen Mythologie, das europäische Sozialmodell oder gar die Europäische Union?  

Wir sind der Frage, welche Bedeutungen Menschen mit Europa verbinden, in einer empirischen Studie nachgegangen.

Daten und Methode
Im Rahmen des Forschungsprojekts “Toward a European Society: The Single Market, Binational Marriages, and Social Group Formation in Europe (EUMARR)” haben wir rund 2000 Menschen in Zürich unter anderem nach ihren Vorstellungen von Europa befragt, wobei wir sowohl Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft als auch EU-Bürger in die Studie eingeschlossen haben. Dabei haben wir Personen in unterschiedlichen Partnerschaftskonstellationen ausgewählt, von EU-Bürgerinnen, die mit Schweizern verheiratet sind, bis hin zu Schweizerinnen, die mit Schweizern verheiratet sind. Dahinter stand die Annahme, dass eine über die eigene Nation hinausreichende Partnerschaft auch eine grössere Offenheit für eine übernationale Identifikation mit sich bringt. Auf der Basis der vorhandenen Literatur haben wir elf verschiedene Bedeutungen von Europa zusammengestellt: Gemeinsame Geschichte, Geographische Region/Kontinent, Europäische Union, Christentum, Kulturelle Diversität, Dominanz ökonomischer Interessen, Politische Kooperation, Toleranz, Wohlfahrtsstaat, Trennung von Staat und Kirche sowie den Verlust nationaler Identität. Diese Liste scheint den Bedeutungsraum von Europa weitgehend abgedeckt zu haben. Die Befragten konnten in einem Freifeld nämlich auch eigene Bedeutungen von Europa eintragen, dies haben aber nur 5 % der Untersuchungspersonen getan. Dabei haben sich keine zusätzlichen Inhalte herauskristallisiert, die von vielen Personen geteilt wurden. Die elf vorgegebenen Vorschläge konnten auf einer Skala von 1 (wird überhaupt nicht mit Europa verbunden) bis 7 (wird sehr mit Europa verbunden) bewertet werden.

Welche Bedeutung verbinden nun die Befragten mit Europa? Darüber gibt Grafik 1 Aufschluss. Insbesondere der geographische Raum, die kulturelle Diversität und die gemeinsame Geschichte werden von vielen als zentral für Europas Bedeutung angesehen. Eine mittlere Relevanz nehmen die Toleranz, der Wohlfahrtsstaat, die Trennung von Kirche und Staat sowie die EU und die politische Kooperation ein. Nicht so bedeutend ist für einen grossen Teil der Befragten die Dominanz ökonomischer Interessen, das Christentum und der Verlust der nationalen Identität. Unumstritten sind also eher offensichtliche Merkmale von Europa, während typische soziokulturelle Merkmale nur von einem Teil der Befragten geteilt werden. Darüber hinaus sticht ins Auge, dass die EU-Bürger, die mit anderen EU-Bürgern verheiratet sind, mit Europa deutlich mehr verbinden als die Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft, die wiederum mit einer anderen Person mit Schweizer Staatsbürgerschaft verheiratet sind. Dies gilt insbesondere für die Europäische Union. Lediglich den Verlust nationaler Identität assoziieren die Schweizerinnen und Schweizer stärker mit Europa als die Menschen mit europäischem Pass. Generell zeigt sich in unseren Daten, dass Menschen, die vom Prozess der europäischen Integration eher profitieren, also EU-Bürgerinnen und Bürger, Personen mit hoher Bildung, mit vielen transnationalen Erfahrungen und in binationalen Partnerschaften mit anderen Menschen aus Europa eher die positiven Bedeutungsmerkmale von Europa teilen.

N.B. Arithmetische Mittelwerte auf einer Skala von 1–7.

Was aber folgt nun aus diesen unterschiedlichen Bedeutungen von Europa? Sind diese überhaupt relevant oder kann man Menschen nicht einfach trotzdem nach ihrer Identifikation mit Europa fragen und die Bedeutungen einfach unbeachtet lassen? Wir denken nicht. Betrachtet man diese Bedeutungen von Europa genauer auf ihre Korrelationen mit der europäischen Identifikation, so zeigt sich, dass manche eher positiv wirken, andere neutral und eine sogar negativ. Wenn man Europa mit dem Verlust nationaler Identität verbindet, so ist dies mit einer geringeren europäischen Identifikation verbunden. Dagegen sind Inhalte, die eher mit Gemeinsamkeiten (Geschichte, Geographie) und europäischen Errungenschaften (Wohlfahrtsstaat, Säkularität, politische Kooperation) verbunden sind, positiv mit einer Identifikation mit Europa korreliert. Das Christentum und die Dominanz ökonomischer Interessen sind eher neutrale Inhalte, sie sind weder positiv noch negativ mit europäischer Identifikation verbunden. Das Fazit ist: Die Bedeutung Europas ist ausschlaggebend für die europäische Identifikation!

Insgesamt zeigt unsere Studie, dass in der quantitativen Sozialforschung, sowohl in der politischen Soziologie als auch in den Politikwissenschaften, bestimmte Konzepte nicht einfach unterhinterfragt verwendet werden sollten. Dies gilt insbesondere für umfassende, bedeutungsschwangere Begriffe, wie Europa. Hier lohnt es sich zu untersuchen, welche Bedeutungen die untersuchten Personen eigentlich selbst mit diesen Begriffen verbinden und diese Bedeutungen auch systematisch in der Forschung zu berücksichtigen.


Referenz

  • Datler, G., Rössel, J. and Schroedter, J.H. (2021), What is Europe? The Meaning of Europe in Different Social Contexts in Switzerland. Swiss Polit Sci Rev, 27: 390-411. https://doi.org/10.1111/spsr.12460

Bild: unsplash.com