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Was passiert, wenn das Rahmenabkommen scheitert? Die Erwartungen im Schweizer Stimmvolk gehen weit auseinander

Stefanie Walter
26th Mai 2021

Das zukünftige bilaterale Verhältnis der Schweiz mit der EU wird seit Wochen intensiv diskutiert. Befürworterseite und Gegnerseite des Rahmenabkommen beurteilen nicht nur die Auswirkungen eines Abschlusses und eines Scheiterns unterschiedlich, sie nehmen sogar den Status Quo der aktuellen bilateralen Beziehungen unterschiedlich wahr.

Seit einigen Wochen wird in der Schweiz wieder intensiv über das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU diskutiert. Trotz jahrelanger Verhandlungen bestehen weiterhin grosse Differenzen zwischen der Schweiz und der EU.

Mittlerweile wird auch offen über ein mögliches Scheitern der Verhandlungen über das Rahmenabkommen diskutiert. Die EU hat damit gedroht, im Falle eines Scheiterns keine neuen Marktzugangsabkommen mehr mit der Schweiz zu schliessen und keine bestehenden Abkommen aufzudatieren, was beispielsweise für die Medizinalbranche und die Maschinenbauinstrie zu Problemen führen dürfte. Auch die Forschenden in der Schweiz sind betroffen, weil der Schweiz beim Forschungsprogramm Horizon Europe die Degradierung zu einem Drittstaat mit sehr beschränkten Teilnahmerechten droht.

Das institutionelle Rahmenabkommen
Das «InstA» soll die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU stärker institutionalisieren, insbesondere durch eine dynamische Aktualisierung der bilateralen Marktzugangsabkommen und einen Streitschlichtungsmechanismus für allfällige Konflikte über die Anwendung und Auslegung der bilateralen Verträge. Ziel des institutionellen Rahmenabkommens ist die Konsolidierung und Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Erosion der Bilateralen oder schleichender EU-Beitritt?

Was sind die Chancen und Risiken eines Abschlusses des Rahmenabkommens sowie seines Scheiterns? Die Meinungen der Schweizer Stimmbürger und Stimmbürgerinnen über die Konsequenzen gehen weit auseinander. Einig sind sich beide Seiten einzig darin, dass die Frage «Rahmenabkommen ja oder nein» für das zukünftige bilaterale Verhältnis eine grosse Relevanz hat.

InstA-Befürwortende befürchten eine Erosion des bilateralen Weges und ein schrittweises Abhängen der Schweiz vom europäischen Binnenmarkt und anderen Vorteilen des europäischen Integrationsprojekts. Die gegnerische Seite befürchtet dagegen, dass mit dem Abschluss des Rahmenabkommens die nationale Souveränität der Schweiz geschwächt werde und das Abkommen der erste Schritt hin zu einem «schleichenden EU-Beitritt» sein könnte.

Die Erwartungen, wie sich die bilateralen Beziehungen nach einer Unterzeichnung wie einem Scheitern des Rahmenabkommens entwickeln werden, gehen dabei stark auseinander. In einer Umfrage mit 1492 Befragten vom September 2020 sollten die Befragten auf einer Skala von 0 (keine Kooperation) bis 10 (EU-Beitritt der Schweiz) die mittelfristige Entwicklung der bilateralen Beziehungen einschätzen. Abbildungen 1 und 2 zeigen die Erwartungen beider Seiten über die Entwicklung des Verhältnisses EU-Schweiz in diesen beiden Szenarien: Annahme (Abb. 1) und Scheitern (Abb. 2) des Rahmenabkommen.

Dabei zeigt sich, dass Befragte, die sicher oder eher für das Rahmenabkommen stimmen würden, die Auswirkungen des Rahmenabkommens auf ein kooperatives Verhältnis mit der EU als stärker einschätzen als die Befragte die dagegen stimmen würden, nämlich im Schnitt auf einen Wert von 6.7, verglichen mit einem Wert von 5.8 aufseiten der Gegner und Gegnerinnen.

Interessanterweise schätzen beide Seiten die «Integrationswirkung» des Rahmenabkommens grundsätzlich etwa gleich hoch ein. Beide Gruppen sehen im Rahmenabkommen einen Schritt in Richtung stärkere Kooperation mit der EU in der Grössenordnung von etwa einem Punkt auf der 11-Punkt-Skala. Da beide Gruppen jedoch auch die aktuellen bilateralen Beziehungen unterschiedlich einschätzen (rote Linie), erwartet die Befürworterseite mit dem Rahmenabkommen insgesamt eine stärkere Kooperation mit der EU als die Gegenseite.

Diese Bewegung hin zu mehr Kooperation entspricht den Präferenzen der Befragten die für das Rahmenabkommen sind (dunkelblau gestrichelte Linie), da diese generell eine etwas engere Beziehung zwischen Schweiz und EU – aber keinen EU-Beitritt – als ideales Szenario ansehen. Für die Gegenseite ist dies jedoch nicht der Fall, da der aktuelle Zuschnitt der bilateralen Beziehungen ihrer Idealvorstellung stark entspricht. Eine durch das Rahmenabkommen bedingte Veränderung hin zu mehr Kooperation würde den Status Quo also zu ihren Ungunsten verschieben.

Abbildung 1: Die bilateralen Beziehungen: Wunsch, Ist-Zustand und erwartete Entwicklung bei Annahme des Rahmenabkommens, September 2020

Meinungen bezüglich des Scheiterns gehen stark auseinander

Die Meinungen über die Konsequenzen eines Scheiterns des Rahmenabkommens gehen dagegen deutlicher auseinander. Obwohl beide Seiten eine Bewegung in Richtung eines weniger kooperativen Verhältnisses erwarten, befürchten die Unterstützerinnen und Unterstützer des Abkommens insgesamt eine viel deutlichere Verschlechterung der bilateralen Beziehungen.

Nimmt man die Bewertung des Ist-Zustandes als Referenzpunkt, erwartet die Befürworterseite eine Verringerung von Kooperation im Umfang von 2.2 Punkten, während Gegner und Gegnerinnen nur eine Verringerung von 0.9 Punkten erwarten. Gleichzeitig liegt der Mittelwert des bei einem Scheitern erwarteten Verhältnisses deutlich näher am Idealszenario der Gegnerseite als bei einer Annahme des Abkommens (Distanz von 0.3 Punkten beim Scheitern und 1.7 Punkten bei einer Annahme).

Für die Befürworter und Befürworterinnen des Abkommens würde ein Scheitern dagegen eine signifikante Verschlechterung des Verhältnisses im Vergleich zu ihrem Idealszenario bedeuten (Distanz von 3.4 Punkten). Dagegen  kommt eine Annahme des Abkommens mit 0.3 Punkten Distanz ihrem Idealszenario nahe.

Abbildung 2: Die bilateralen Beziehungen: Wunsch, Ist-Zustand und erwartete Entwicklung bei einem Scheitern des Rahmenabkommens, September 2020

Welche Chancen und Risiken birgt ein Plan B?

Angesichts der Unterschiede in den Wünschen und Erwartungen auf beiden Seiten überrascht es nicht, dass beide Seiten auch die Risiken eines Scheitern des Rahmenabkommens unterschiedlich beurteilen.

Abbildung 3 zeigt dass die dezidierten Gegner und Gegnerinnen des Abkommens denken, dass eine Erosion der Bilateralen keinen Einfluss auf die Schweiz haben würde. Gleichzeitig sehen sie auch keine Risiken in Form von allfälligen Neuverhandlungen eines Rahmenabkommens, sondern erwarten, dass die EU etwa gleich kompromissbereit sein wird wie beim aktuellen Entwurf. Allerdings sehen sie auch keine grossen Chancen, dass die EU sich kompromissbereiter zeigen wird.

Alle anderen Gruppen befürchten dagegen, dass es sich negativ auf die Schweiz auswirken würde, wenn die EU ihre Ankündigung wahr macht und bestehende Abkommen nicht mehr aktualisiert und keine neuen Abkommen mit der Schweiz abschliesst, bis ein Rahmenabkommen unterzeichnet ist. Zudem erwarten Befragte, die für das Rahmenabkommen stimmen würden, dass die EU bei einem Scheitern und anschliessenden zweiten Verhandlungsanlauf weniger kompromissbereit sein würde als beim vorliegenden Entwurf.

Erinnerungen an den 2003 von National- und Ständerat abgelehnten Staatsvertrag mit Deutschland zur Regelung des Fluglärmstreits, der statt eines besseren Vertrages in einer schlechteren Situation als im ursprünglichen Staatsvertrag vorgesehen resultierte, legen nahe, dass dies durchaus ein mögliches Szenario ist.

Abbildung 3: Individuelle Erwartungen über die Konsequenzen von Scheitern und Neuverhandlungen des institutionellen Rahmenabkommens, Februar 2021

Solch starke Unterschiede in individuellen Erwartungen über die Konsequenzen von nicht-kooperativen Entscheiden in den internationalen Beziehungen sind nicht ungewöhnlich.

Verschiedene Studien dokumentieren ähnliche Unterschiede beispielsweise bei britischen Befragten vor dem Brexit-Referendum 2016, als die Pro-Brexit-Seite die Risiken eines Brexit als deutlich geringer einschätzten als die Gegenseite und beispielsweise davon überzeugt waren, dass Grossbritannien auch nach einem Brexit den barrierefreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht verlieren würde.

Auch beim griechischen Bailout-Referendum 2015 war eine Mehrheit der «Nein»-Stimmenden überzeugt, dass ein Nein-Votum die anderen Euro-Staaten zu grösseren Zugeständnissen in den Verhandlungen über die Konditionen eines Bailout-Paketes zwingen würde. Die optimistischen Erwartungen über die Bereitschaft des Verhandlungspartners, weitgehende Zugeständnisse zu machen, wurden in beiden Fällen jedoch nicht oder nur teilweise erfüllt.

Die Verhandlungsstrategie – Brexit als Vorbild?

Die Parallelen zum Brexit sind nicht nur theoretischer Natur, der Brexit-Prozess hat den politischen Prozess um das Rahmenabkommen stark geprägt. Die Verhandlungen wurden im Schatten des Brexit geführt, in der Debatte um das Rahmenabkommens wurde immer wieder auf den Brexit Bezug genommen und der Brexit-Prozess selber hat die europapolitischen Stimmabsichten in der Schweizer Stimmbevölkerung mit beeinflusst. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass über die Frage, inwiefern die britische Verhandlungsstrategie ein Vorbild für die Schweiz sein sollte, heftig diskutiert wird.

Abbildung 4 zeigt, dass die Meinung der Befragten auch zu dieser Frage weit auseinandergehen. Während die Gegner und Gegnerinnen des Rahmenabkommens der Meinung sind, dass die Drohung der Briten, die Verhandlungen eher scheitern zu lassen als einen «Bad Deal» zu akzeptieren, zu einer höheren Kompromissbereitschaft der EU geführt hat, sieht die Befürworterseite keinen Effekt auf die Kompromissbereitschaft.

Zusammen mit den als gering eingeschätzten Risiken eines Scheiterns der Verhandlungen und der als erfolgreich wahrgenommenen Drohstrategie der Briten überrascht es nicht, dass Befragte, welche das Rahmenabkommen ablehnen, die britische Brexit-Verhandlungsstrategie auch eher als ein Vorbild für die Schweiz sehen. Die Befürworter und Befürworterinnen sehen diese konfrontative Strategie dagegen eher als ein abschreckendes Beispiel für die Schweiz.

Abbildung 4: Individuelle Einschätzungen der britischen Brexit-Verhandlungsstrategie, Februar 2021
Ungleiche Wahrnehmung zwischen Befürworter- und Gegenerschaft

Insgesamt zeigt sich, dass der politische Graben zwischen Befürwortern und Befürworterinnen sowie Gegnern und Gegnerinnen des Rahmenabkommens nicht nur auf Ebene der politischen Parteien besteht, sondern auch im Stimmvolk beobachtet werden kann. Bemerkenswert ist dabei, dass beide Seiten nicht nur die Auswirkungen eines Abschlusses und eines Scheiterns des Rahmenabkommens unterschiedlich beurteilen, sondern dass sie sogar den Status Quo der aktuellen bilateralen Beziehungen unterschiedlich wahrnehmen.

In den nächsten Wochen stehen wichtige Entscheide zur Aktualisierung des Abkommens über den Abbau technischer Handelshemmnisse in der Medizinalbranche und die Assoziierung der Schweiz am europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe an. Dies wird erste Hinweise darauf geben, ob eher der Optimismus der Gegnerschaft oder die Befürchtungen des Befürworterlagers gerechtfertigt sind.

Daten und Methode
Im Rahmen des Forschungsprojektes «The Mass Politics of Disintegration» hat eine Gruppe von Forschenden an der Universität Zürich in den letzten Monaten detaillierte Daten über die Meinung von Schweizer*innen über die bilateralen Beziehungen und aktuelle europapolitische Debatten erhoben, welche einen Einblick in die Erwartungen von Befürworter*innen und Gegner*innen des institutionellen Rahmenabkommens erlauben. Im Rahmen einer Vier-Wellen-Studie wurden insgesamt 2633 Schweizerinnen und Schweizer wiederholt zu ihren Meinungen zur Schweizerischen EU- und Aussenpolitik befragt. Abbildungen 1 und 2 beziehen sich auf den Befragungszeitraum 9.-28 September 2020 (N=1493), Abbildungen 3 und 4 auf den Befragungszeitraum 8.-28 Februar 2021 (N=1353).