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Wählen Frauen anders als Männer?

Laurent Bernhard, Nathalie Eggenberg, Anke Tresch, Lukas Lauener
8th Februar 2021

Als in der Schweiz 1971 das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene eingeführt wurde, gingen die Frauen weit weniger zahlreich an die Urnen als die Männer. Mittlerweile sind die geschlechterbezogenen Unterschiede in der Wahlbeteiligung nicht mehr so ausgeprägt wie damals. Allerdings nehmen ältere Frauen immer noch weniger häufig an den Wahlen teil als gleichaltrige Männer. Beim Wahlentscheid gibt es ebenfalls bemerkenswerte Veränderungen: Wählten die Frauen zu Beginn etwas konservativer als Männer, so wurden diese mittlerweile links überholt. Das zeigt die neuste Auswertung von Daten der Schweizer Wahlstudie Selects.

Vor 50 Jahren stand im Zusammenhang mit der Einführung des Frauenstimmrechts auf eidgenössischer Ebene die Frage im Raum, ob sich Frauen in der Politik anders verhalten als Männer und dadurch eine Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse bewirken würden.

Rückläufiger, aber anhaltender gender gap

Vergleicht man die Wahlbeteiligung der Frauen mit jener der Männer, so ist im ersten Wahlgang nach der Einführung des Frauenstimmrechts eine grosse Diskrepanz festzustellen (vgl. Abb. 1). Bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst 1971 gingen lediglich 46 Prozent der neu ebenfalls wahlberechtigten Frauen an die Urne, von den Männern nahmen siebzig Prozent teil. Der sogennannte gender gap betrug somit satte 24 Prozentpunkte.

Abbildung 1: Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen Männern und Frauen

Doch bereits in den darauffolgenden eidgenössischen Wahlen nahm der Geschlechtergraben deutlich ab und reduzierte sich stetig. 1995 kam er noch auf fünf Prozentpunkte. Doch ganz verschwand der gender gap nie. Bei den Nationalratswahlen 1999, 2003 und 2007 erhöhte sich die Beteiligungsdifferenz zwischenzeitlich sogar wieder auf über 10 Prozentpunkte. Im Jahre 2019 belief sich diese auf knapp 8 Prozentpunkte. Die erheblich tiefere Wahlbeteiligung von Schweizer Frauen stellt in Westeuropa eine Ausnahme dar. So beläuft sich der gender gap in Deutschland gegenwärtig auf weniger als einen Prozentpunkt.

Diese Diskrepanz wird damit in Verbindung gebracht, dass das Frauenstimmrecht in unserem nördlichen Nachbarland bereits vor mehr als hundert Jahren eingeführt wurde. Dagegen leben in der Schweiz noch Frauen, die als junge Erwachsene nicht wahlberechtigt waren. Die fehlende politische Sozialisation macht sich nach wie vor in einer tieferen Partizipation der älteren Altersgruppe bemerkbar.

In der Tat war 2019 der gender gap stark von der Altersgruppe abhängig (siehe Abb. 2). Die festgestellten Beteiligungsunterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich vorwiegend auf die älteren Generationen zurückführen. In den drei Gruppen mit dem höchsten Alter und bei den 35- bis 44-Jährigen nahmen die Männer deutlich häufiger an den eidgenössischen Wahlen teil als die gleichaltrigen Frauen. Im Gegensatz dazu zeigen sich bei den jüngsten Alterskategorien und bei den 45- bis 54-Jährigen keine markanten Differenzen.

Abbildung 2: Gender gap in Abhängigkeit der Altersgruppe

Die Frauen haben die Männer links überholt

Differenzen zwischen den Geschlechtern treten nicht nur bei der Wahlbeteiligung, sondern auch beim Wahlentscheid zutage. So wurde 1971 die SP überdurchschnittlich oft von Männern gewählt. Hingegen erhielten die beiden bürgerlichen Parteien FDP und CVP ihre Stimmen zu etwa gleichen Teilen von Männern und Frauen. Auch 2019 waren beim Wahlentscheid Unterschiede zwischen den Geschlechtern festzustellen. Allerdings haben sich die Parteipräferenzen wesentlich verändert.

Frauen bevorzugen mittlerweile linke Parteien. So gaben sie ihre Stimmen überdurchschnittlich oft der SP und den Grünen. Im Gegensatz dazu wählten Männer häufiger SVP und FDP. In Bezug auf die Mitteparteien CVP und GLP liessen sich keine Geschlechterunterschiede feststellen.

Dasselbe Muster geht aus der Analyse der individuellen Links-Rechts-Selbsteinstufung hervor. 1971 verorteten sich die Frauen im Durchschnitt noch etwas weiter rechts als die Männer. Bereits 1987 wurden die Männer von den Frauen links überholt. Diese ideologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben sich seither nach jeder Wahl bestätigt.

Wie aus Abbildung 3 ersichtlich ist, haben sich die Unterschiede in jüngster Zeit sogar leicht akzentuiert. Mögliche Erklärungsansätze für die Veränderung hin zu einer linkeren Positionierung der Frauen sind die Loslösung von ehemals stärkeren religiösen Bindung der Frauen, der tiefgreifende Wandel von Werten und Rollenorientierungen sowie die steigende Erwerbsquote und das wachsende Bildungsniveau der weiblichen Bevölkerung.

Abbildung 3: Unterschiede auf der links-rechts-Achse zwischen Männern und Frauen

Somit lässt sich festhalten, dass ältere Schweizerinnen nach wie vor weniger an den Wahlen teilnehmen als gleichaltrige Männer. Bei der Einführung des Frauenstimmrechts hatten die Stimmen der Frauen kaum einen Einfluss auf die bestehenden politischen Kräfteverhältnisse. Doch im Laufe der Zeit haben die Frauen zu einer Stärkung der Linken beigetragen. Man darf gespannt sein, ob sich der Schweizer Geschlechtergraben bezüglich Beteiligung in naher Zukunft schliesst und wie sich die politischen Einstellungen von Männern und Frauen weiterentwickeln.

Die Schweizer Wahlstudie Selects
Dieser Beitrag liefert anhand von Nachbefragungsdaten der Schweizer Wahlstudie Selects einen Überblick über den politischen gender gap (d.h die geschlechterbezogenen Unterschiede) in Bezug auf Wahlbeteiligung und Wahlentscheid seit 1971. Selects untersucht seit 1995 die Wahlteilnahme und das Wahlverhalten bei eidgenössischen Wahlen. Zudem stellt Selects einen Datensatz bereit, welcher die Umfragedaten von vorangehenden Forschungsprojekten mit den neuen Daten systematisch kombiniert. Dieser kumulative Datensatz enthält Umfragedaten von Schweizer Wahlstudien seit 1971 und deckt bis auf das Jahr 1983 alle Wahlen in der Schweiz ab. Sämtliche Datensätze sind dokumentiert und für wissenschaftliche Zwecke frei zugänglich. Selects wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert und von FORS in Lausanne durchgeführt.


Bild: Gosteli-Stiftung, AGoF A/228