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Anmerkungen zum Buch «Verhüllung – die Burka-Debatte in der Schweiz»

Andreas Tunger-Zanetti
5th Februar 2021

Das Buch «Verhüllung – die Burka-Debatte in der Schweiz» ist seit seinem Erscheinen Anfang Januar 2021 weitherum wahrgenommen wor­den. Es fasst Ergebnisse der Forschung aus anderen westeuropäischen Ländern zusam­men und gleicht sie mit Befunden aus der Schweiz ab. Gleichwohl versuchen einzelne Akteure, es als unseriös hinzustellen. Deshalb weist der Hauptautor und die Mitautorinnen hier auf einige Punkte zum Vorgehen hin. Sie sind im Buch ausgeführt und belegt.

Seit 2007 forscht der Hauptautor Andreas Tunger-Zanetti zum Islam in der Schweiz. Etwa gleich lange ist die Vollverhüllung ein Thema in Medien und Politik. So wurde sie im Frühjahr 2020 zum Gegen­stand einer Lehrveranstaltung an der Universität Luzern. Im Sommer und Herbst hat der Dozent und Hauptautor, unterstützt von den beteiligten Studentinnen, das Thema weiter ausgearbeitet und in der Schlussphase Kolleginnen und Kollegen der involvierten Disziplinen in der Schweiz zur Kommentierung vorgelegt. Zugrunde liegt dem Buch also kein ausführliches, drittmittelfinanziertes Forschungsprojekt, sondern die intensive wissenschaftliche Arbeit eines knappen Jahres sowie die vorangehende Forschung des Hauptautors zum Islam in der Schweiz. Das Buch richtet sich nicht primär an die Fachwissenschaften, son­dern will allgemeinverständlich zur derzeit laufenden Debatte bekannte Fakten, neue Forschungserträge und eine Analyse beitragen, die letztlich der Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger dient. Dennoch war es uns wichtig, Belege anzuführen, so dass unsere Aus­sagen für jedermann nachvollziehbar sind.

Zahl der Nikab-Trägerinnen

Bis zu unserer eigenen Erhebung fanden sich zur Zahl der Nikab-Trägerinnen in der Schweiz einzig summarisch Angaben. Diese beruhten «entweder auf Schätzungen anhand einer partiellen Wahrnehmung oder auf Extrapolationen auf der Basis der Zahlen zu Frankreich» («Verhüllung», S. 46f.). Schon 2010 schrieb der Bundesrat: «Überträgt man diese Schätzung auf die Schweiz, würde dies etwa 95 bis 130 vollständig verhüllten Frauen entsprechen. Die effektive Zahl dürfte jedoch erheblich tiefer liegen» (zitiert S. 47).

Um verlässlichere Zahlen zu erhalten, «fragten wir bei muslimischen Verbänden sowie bei muslimischen Schlüsselpersonen in verschiedenen Regionen nach und baten um eine mög­lichst präzise, nachvollziehbare Schätzung zu ihrer Region» (47). Bei den Schlüsselpersonen handelt es sich um Personen vorwiegend, aber nicht ausschliesslich in muslimischen Organisationen. «Vereinzelt gaben auch Medienberichte Hinweise auf das (Nicht-)Vorhandensein von Nikab-Trägerinnen» (48). Wir fragten die Kontaktpersonen, von wie vielen individuell unterscheidbaren regelmässigen Nikab-Trägerinnen sie in dem von ihnen überblickten Gebiet wissen. Da wir mehrfach Auskünfte des Typs ‹eine oder zwei› erhielten, ergab sich in der Addition letztlich eine Spannbreite: Im Sommer 2020 haben demnach zwischen 21 und 37 Nikab-Trägerinnen in der Schweiz gelebt.

Identität der interviewten Nikab-Trägerin

Der Kontakt zur von uns interviewten Nikab-Trägerin ist uns von einer erfahrenen Forscher­kollegin vermittelt worden, die wie wir qualitative Sozialforschung betreibt und die be­treffende Frau in diesem Rahmen schon vor Jahren kennenlernte, als diese noch keinen Nikab trug. Die erwähnte Forscherin war also unser Garant für die Identität der Interviewpartnerin. Auch die Aussagen der Frau und alle Details ihres Umfelds boten kei­nerlei Grund, daran zu zweifeln, dass sie den Nikab trägt und uns aufrichtig Auskunft gibt.

Wir kennen den Namen der Frau, haben uns aber ihr gegenüber verpflichtet, ihn nicht öffentlich zu nennen oder ohne ihr Einverständnis weiterzugeben. In der Sozialforschung, insbesondere zu stark stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen und bei einem so kleinen Feld wie im vorliegenden Fall, ist dies analog zum Journalismus eine gängige Praxis. Sind Forschende (oder Medienschaffende) in diesem Punkt nicht korrekt und redlich, so schaden sie rasch ihrem eigenen Ruf, in der Gemeinschaft der Forschenden ebenso wie im zu erforschenden Feld.

Reichweite unserer Aussagen

Auf fünfeinhalb Seiten (S. 53–58) lassen wir im Buch in direkten Zitaten und zusammenfas­senden Passagen die Schweizer Nikab-Trägerin zu Wort kommen. Wir behaupten nicht, die Aussagen unserer einzigen Gesprächspartnerin seien repräsentativ für alle Nikab-Trägerinnen in der Schweiz. Bei nur dreissig Personen wäre es verfehlt, Repräsentativität im landläufigen, statistischen Sinn zu verlangen. Denn jeder zusätzliche Fall bringt unweigerlich neue Facetten ins Spiel. Man müsste also theoretisch alle dreissig Personen befragen. Das wäre nur mit enormem Aufwand möglich.

Das Profil der von uns befragten Person steht zunächst für sich selber. Die Aussagen von «Frau U.» erlauben aber auch einen ersten Abgleich mit dem Ausland. Diese Forschung unter einigen Hundert Nikab-Trägerinnen in Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien und den Niederlanden haben wir im vorhergehenden Kapitel (S. 29–42) zusammengefasst. Es hat uns Forschende erstaunt, in wie vielen Punkten sich das Profil unserer Inter­viewpartnerin mit dem Durchschnittsprofil deckt, das die Forschung in den genannten Ländern herausgearbeitet hat. Anderseits sehen wir im Schweizer Kontext keine Faktoren, die ein völlig gegensätzliches Ergebnis hätten erwarten lassen müssen. Der von uns beleuchtete Fall ist somit ein passendes Schweizer Beispiel für ein europäisches Phänomen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Aus der Schweiz sind ansonsten einzig von Nora Illi, der im März 2020 verstorbenen be­kannten Aktivistin, ausführliche Aussagen über sich als Nikab-Trägerin bekannt. Sie sind öffentlich und leicht zugänglich, weshalb wir Illis Biografie nur kurz skizzieren (S. 51f.). Zu anderen Personen waren für uns in der knappen Zeit nur kurze Bruchstücke und Einzelinformationen auffindbar. Auch sie fügen sich jedoch ohne weiteres in das westeuropäische Durchschnittsbild.

Lebenswelt und Diskurs

Bei der Darstellung des Feldes der Schweizer Nikab-Trägerinnen haben wir also nicht auf grösstmögliche Vollständigkeit abgezielt, sondern auf ein aktuelles Überblicksbild, das zu­sammen mit den vorangehenden Kapiteln das notwendige Umfeld liefert für das zweite Hauptthema des Buches: die Analyse des medialen Diskurses zur Vollverhüllung in der Deutschschweiz (S. 79–124). Diesen Teil haben die Publikumsmedien bis jetzt so gut wie nicht thematisiert. Das ist insofern verständlich, als Redaktionen generell zurückhaltend sind, die eigene Arbeit und diejenige der Konkurrenz öffentlich anhand eines Blicks in den Spiegel kritisch zu reflektieren. Dabei ist gerade das komplexe Wechselverhältnis von Lebenswelt und Diskurs nach unserer Meinung einer der spannenden Aspekte und der Grund, warum wir zwei scheinbar so verschiedene Bereiche im selben Buch behandeln. Vielleicht fällt dieser Blick nach der Abstimmung vom 7. März 2021 leichter.


Referenz:

Bild: pixabay.com