2050: Die Welt der Städte
Petra Sidler
3rd February 2021
Im Jahr 2050 ist alles bereit für die Welt der Städte: Nationalstaaten gibt es nicht mehr, Grenzen sind abgeschafft, Pässe vernichtet und die Menschen sind nervös. Wird die Welt der Städte halten, was sie verspricht? Wird die Art, wie wir uns bewegen und wohnen, endlich für alle gleich sein? Während die Welt den Atem anhält, reflektiert eine Stadtbürgerin über historische Veränderungen, grosse Hoffnungen und mögliche Sorgen.
Dieser Blogbeitrag wurde erstmals auf dem Blog des nccr – on the move publiziert (26.1.2021)
Es begann vor 30 Jahren. Eine kleine Zeitspanne, wenn wir bedenken, welch riesigen Schritt wir machten, als wir uns weg von den Nationalstaaten hin zur Welt der Städte bewegten. Als COVID-19 zum ersten Mal auftauchte, reagierten die meisten nationalen Regierungen mit Massnahmen gegen globale und lokale Bewegungen. Während einige Menschen bereits daran gewöhnt waren, leichte bis starke Bewegungseinschränkungen zu erfahren – z. B. in Bezug auf den Mobilitätsscore ihres Passes oder bezüglich ihrer Fähigkeit, aus freiem Willen mobil oder immobil zu sein, wie Joelle Moret 2017 vorschlug – war dies für andere völlig neu. Gerade im OECD-Raum erlebten mehr Menschen als je zuvor die trennende und ausgrenzende Kraft von Nationalstaaten (Wellman & Cole 2011) und deren Grenzen (OECD 2020).
Während der Pandemie berichteten die Medien ausführlich über Familien und internationale Paare, die durch Grenzen getrennt wurden, und über Asylsuchende, internationale Studierende und migrantische Angestellte, die Mühe hatten, ihre Destinationen zu erreichen. Die durch COVID-19 ausgelösten Mobilitätsregelungen liessen die Menschen überall erleben, dass Raum und der Zugang zu Raum zutiefst politisch sind. Nach der siebten Mutation von COVID-19, als sich herausstellte, dass Städte schneller und effektiver auf die Ausbreitung des Virus reagieren konnten als Nationalstaaten, entstand die Idee einer Welt der Städte.
Die Welt der Städte
Die Welt der Städte basiert auf der Idee der «Global Cities» (Sassen 1991) und verspricht eine neue Art des Lebens, die eine weniger eingeschränkte Mobilität von Menschen, Waren, Daten und Informationen, Dienstleistungen und Geld beinhaltet. Die Zugehörigkeit und damit das Mitspracherecht in einer lokalen Gemeinschaft hängt allein davon ab, wer in der jeweiligen Stadt oder Gemeinde wohnt (Bauböck 2010).
Es gibt zwei Ebenen der Rechtsprechung: die städtische, die für alle Menschen gilt, die physisch dort leben, und die globale, die für alle Menschen gilt. Die globale Rechtsprechung befasst sich mit universellen Themen, die auf lokaler Ebene nicht behandelt werden können, wie z.B. Klima und Migration. Zurzeit entstehen viele weitere Konventionen wie der Global Migration Compact. Städte, globale öffentliche Organisationen, private Unternehmen und jeder Mensch müssen sich an diese globalen Konventionen halten.
Jeder Hinweis auf Grenzen – wie die territorialen Grenzen von Nationalstaaten – wurde ausgelöscht. Städte und Gemeinden haben zwar so etwas wie eine territoriale Grenze, aber sie ist nur durch die Nutzung des Raums definiert, der frei wachsen und schrumpfen kann, relativ zu seiner Umgebung. Während das städtische Territorium aus Sicherheitsgründen gelegentlich kontrolliert wird, kann jeder Mensch frei kommen und gehen – sofern keine Anschuldigungen gegen die Person vorliegen. Während Individuen frei sind, so mobil zu sein, wie sie wollen, haben sie einen Hauptwohnsitz, an dem sie wählen und Steuern zahlen. Das lokale politische System übernimmt fast alle bürokratischen Aufgaben, die historisch vom Nationalstaat abgedeckt wurden. Während die einzelne Person mehr Freizügigkeit geniesst, sind politische Institutionen jedoch an globale Konventionen gebunden und jede Person kann eine Stadt verklagen, die sich nicht daran hält.
Die digitale Zusammenarbeit führt dazu, dass mehr Menschen von dort aus arbeiten, wo sie leben möchten, was eine grosse kulturelle Vielfalt fördert – nicht nur in den Stadtzentren, sondern auch in einigen Peripherien. Zudem erleichtern Handy Apps den Abbau von Sprachbarrieren. Auch das Wohlfahrtssystem funktioniert auf beiden Ebenen, lokal und global, und die Rede von einem globalen Grundeinkommenssystem kommt auf. Menschen und Unternehmen werden nun lokal und global besteuert, wobei letzteres für die Nachhaltigkeit der globalen Konventionen genutzt wird. Die vernetzte Existenz verschiedener globaler Pakte und unabhängiger Städte schützt die einzelne Person vor Missbrauch und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sowie beim Zugang zu Institutionen, Raum und Lebenschancen.
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Wie alle um mich herum kann ich noch nicht absehen, ob die Vorteile, die diese neue Welt der Städte verspricht, nicht von ihren möglichen Fallstricken überschattet werden. Wird es weiterhin Krieg geben? Werden Stadtplanung und Wohnungsmärkte überfüllte oder verlassene Städte verhindern? Werden der infrastrukturelle und der demografische Übergang reibungslos oder spaltend verlaufen? Wird die städtische Bürgerschaft inklusiver sein als die der Nationalstaaten? Werden globale öffentliche Organisationen gerecht und legitim sein? Wird die Korruption eingedämmt werden?
Nur die Zeit wird es zeigen, und es wird unweigerlich Probleme mit jedem gesellschaftlichen System geben. Wenn wir jedoch zurückblicken, erscheint die Zeit vor COVID-19 wie aus einem Märchen. Heute verstehen die Menschen nicht, dass noch vor 30 Jahren koloniale Errungenschaften so sehr verteidigt wurden, dass wir glaubten, dies sei die einzige Möglichkeit, wie menschliches Zusammenleben und Interaktion stattfinden könne.
Wer hätte gedacht, dass ein mikroskopischer Virus uns endlich dazu bringen würde, das makroskopische Problem ungleicher Mobilitäten und die Notwendigkeit der Mobilitätsgerechtigkeit anzuerkennen (Sheller 2018)? Wer hätte gedacht, dass Grenzen unnötig sind, damit Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können und damit Volkswirtschaften sowie politische Systeme funktionieren? Wer hätte gedacht, dass Pässe zu einem historischen Objekt in Museen werden, betitelt als «das nationale Klassensystem zur Teilung und Entwürdigung von Menschen»? Und wer hätte gedacht, dass wir, indem wir zu Weltbürgerinnen und Weltbürgern werden, auch zu lokalen Stadtbürgerinnen und Stadtbürgern werden, zu Mitgliedern verschiedener Städte, Gemeinden und Dörfer? Wir sind dabei, Teil der glokalen Gemeinschaft zu werden; mal sehen, ob die Welt der Städte hält, was sie verspricht.
Referenz:
- Baubock, R. (2003). Reinventing Urban Citizenship, Citizenship Studies 7(2), 139–160.
- Moret, J. (2020). Mobility Capital: Somali Migrants’ Trajectories of (Im) Mobilities and the Negotiation of Social Inequalities Across Corders. Geoforum 116, 235–242.
- OECD (2020). International Migration Outlook 2020. OECD Publishing.
- Sassen, S. (1991). The Global City. New York.
- Sheller, M. (2018). Mobility Justice: The Politics of Movement in an Age of Extremes. Verso Books.
- Wellman, C. H. & Cole, P. (2011). Debating the Ethics of Immigration: Is there a Right to Exclude? Oxford University Press.
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