1

Gemeindeversammlungen wirken abschreckend auf Einbürgerungswillige

Daniela Ramp
17th November 2020

Seit in den meisten Zürcher Gemeinden der Gemeinderat und nicht mehr die Gemeindeversammlung für Einbürgerungen zuständig ist, ziehen Einbürgerungswillige ihre Gesuche deutlich weniger häufig zurück. Aus Sicht des Diskriminierungsschutzes betrachtet ist das begrüssenswert, denn nur wenn eine offizielle Ablehnung vorliegt, kann gegen allfällige Willkür Rekurs eingelegt werden.

Lehnen Gemeinden Einbürgerungsgesuche ab, können Gesuchstellende gegen den Entscheid rechtlich vorgehen. Funda Yilmaz, Mergim Ahmeti und ein italienische Gipser haben dies getan: Sie legten Rekurs ein und gerieten damit in die Schlagzeilen. Hätten sie ihre Gesuche im Laufe des Einbürgerungsverfahrens stattdessen zurückgezogen, hätte niemand erfahren, dass eine Türkin als typische Schweizer Sportarten «Chlausklopfen» und Skifahren statt Hornussen und Schwingen nannte, dass ein Kosovare unter den Dorfbeizen nur den «Löwen» kannte und dass ein Italiener nicht wusste, dass sich Bären und Wölfe im lokalen Tierpark ein Gehege teilen.

Mehr Rückzüge vor der Gemeindeversammlung als im Gemeinderat

Meine Analyse zeigt, dass Gesuchstellende ihr Gesuch eher zurückziehen, wenn die Einbürgerungskompetenz bei der Gemeindeversammlung liegt, als wenn der Gemeinderat abschliessend entscheidet. Der Wechsel der kommunalen Einbürgerungskompetenz von der Gemeindeversammlung auf den Gemeinderat hat im Kanton Zürich zu einer durchschnittlichen Abnahme der individuellen Rückzugswahrscheinlichkeit um rund 30 Prozent geführt.

Die untenstehenden Grafiken bilden Einbürgerungen, Ablehnungen und Rückzüge von Zürcher Gemeinden ab, die ihre Einbürgerungszuständigkeit zwischen 2008 und 2017 von der Gemeindeversammlung auf den Gemeinderat übertragen haben oder die bis heute an der Gemeindeversammlung einbürgern. Sie zeigen, dass ein beträchtlicher Anteil der kommunalen Nichteinbürgerungen vor einer offiziellen Ablehnung zurückgezogen wird, insbesondere vor einem Entscheid an der Gemeindeversammlung. Marginalisierte in der Migrationsbevölkerung (Personen aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, dem Mittleren Osten und Nordafrika, s. Box) ziehen dabei, unabhängig vom Entscheidungsorgan, mehr als doppelt so häufig zurück als Einbürgerungswillige anderer Herkunftsregionen.

Abbildung 1: Entscheidungskategorien ordentlicher Einbürgerungsgesuche Gemeindeversammlung

Hinweis: Abgebildet sind Einbürgerungen, Ablehnungen und Rückzüge von im Ausland geborenen Erwachsenen. Anzahl Gesuche: 1'318
Abbildung 2: Entscheidungskategorien ordentlicher Einbürgerungsgesuche Gemeinderat

Hinweis: Abgebildet sind Einbürgerungen, Ablehnungen und Rückzüge von im Ausland geborenen Erwachsenen. Anzahl Gesuche: 1'127

Das Einbürgerungsverfahren in der Schweiz
In der Schweiz wird dreistufig eingebürgert: Damit eine Person den Schweizer Pass erhält, müssen Bund, Kanton und Wohngemeinde ihre Einwilligung geben. Während der Bund und die Kantone vor allem formelle Einbürgerungsvoraussetzungen prüfen, kommt den Gemeinden in den meisten Kantonen die Aufgabe zu, die im Gesetz vor allem nach altem (bis 2017 geltendem) Recht sehr offen formulierten Integrationskriterien der Gesuchstellenden zu beurteilen. Daher verfügen die Gemeinden je nach Standardisierungs- und Professionalisierungsgrad der kommunalen Einbürgerungsverfahren über einen erheblichen Ermessensspielraum. Dieser Ermessensspielraum wird durch kantonale Bestimmungen und durch das verfassungsmässig garantierte Willkür- und das Diskriminierungsverbot beschränkt.

Die Ambivalenz von Rückzügen

Wenn Gesuchstellende ihr Einbürgerungsbegehren zurückziehen, dürften sie in vielen Fällen einen Negativentscheid der Gemeinde antizipieren und damit eine offizielle Ablehnung vorwegnehmen. Davon ist auszugehen, da es unplausibel ist, anzunehmen, dass Gesuchstellende ihren Einbürgerungswunsch im Laufe des kommunalen Verfahrens verlieren.

Ein Rückzug bei einem bevorstehenden Negativentscheid an der Gemeindeversammlung schützt Gesuchstellende vor einer Blossstellung vor versammelter Stimmbürgerschaft. Da ein Rückzug von der gesuchstellenden Person ausgeht, verunmöglicht er aber auch das erfolgreiche Beschreiten des Rechtsweges im Falle eines Willkürentscheids.

Solche Willkürentscheide dürften im Rahmen direkter Demokratie häufiger vorkommen, als wenn der Gemeinderat über ein Gesuch entscheidet. Dies vor allem deshalb, weil die Stimmbürgerschaft an einer Gemeindeversammlung bei einem Rekurs, im Gegensatz zum Gemeinderat, keine negativen Konsequenzen zu tragen hat. Gleichzeitig sind die Rückzugsanreize bei einem bevorstehenden Entscheid an der Gemeindeversammlung besonders gross: Zum Fakt, dass Gesuchstellenden Einbürgerungsgebühren bei einem Rückzug teilweise vollständig erlassen werden, kommt die Ablehnung vor versammelter Stimmbürgerschaft hinzu.

Begründungspflicht bei Ablehnungen

Urnenabstimmungen über Einbürgerungen führten in der Vergangenheit auf Grund der anonymen Stimmabgabe schweizweit zu willkürlichen und zu ethnisch diskriminierenden Entscheiden (Hainmueller und Hangartner 2013). Mit Berufung auf das verfassungsmässig garantierte Diskriminierungsverbot erklärte das Bundesgericht solche Abstimmungen 2003 für unrechtmässig – und legte eine Begründungspflicht bei der Ablehnung von Einbürgerungsgesuchen fest. Ablehnende Einbürgerungsentscheide zu begründen dürfte vor allem dann schwierig sein, wenn die Gemeindeversammlung dem Antrag des Gemeinderates auf Einbürgerung nicht folgt. Oder auch dann, wenn der Gemeinderat Gesuchstellende aufgrund von gesetzlich unzulässigen Entscheidungskriterien abweist.

Marginalisierte ziehen ihr Gesuch doppelt so häufig zurück als Nicht-Marginalisierte

Während in den 2000er Jahren Personen aus der Türkei sowie aus den Staaten Ex-Jugoslawiens bei direktdemokratischen Einbürgerungsentscheiden ethnisch diskriminiert wurden (Hainmueller und Hangartner 2013), zählen heute auch Personen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika zu den Marginalisierten unter der Migrationsbevölkerung. Sie sind besonders häufig mit ethnischen Vorurteilen konfrontiert (Betz 2017).

Das verfassungsmässig garantierte Diskriminierungsverbot sollte dem entgegenwirken, indem es gerade sie vor einer willkürlichen Nutzung des Ermessensspielraums bei der Beurteilung von Integrationskriterien (s. Box) schützt. Dies kann es aber nur dann, wenn eine offizielle Ablehnungsverfügung vorliegt, gegen die rekurriert werden kann. Die Abbildungen zeigen, dass Marginalisierte im Untersuchungszeitraum sowohl im Gemeinderat als auch an der Gemeindeversammlung nicht nur mehr als doppelt so häufig abgelehnt wurden als Nicht-Marginalisierte, sie zogen ihr Einbürgerungsgesuch auch mehr als doppelt so häufig zurück.

Daten und Methodik der Untersuchung
Ich habe in meiner Arbeit den Einfluss direkter Demokratie auf Einbürgerungschancen im Kanton Zürich von 2008 bis 2017 untersucht. Ein neuer, vom Kanton Zürich eigens für diese Arbeit zur Verfügung gestellter Datensatz ermöglichte es dabei, Rückzüge von Einbürgerungsgesuchen im kommunalen Einbürgerungsverfahren statistisch zu erfassen. Eine eigene Datenerhebung erlaubte es ergänzend dazu, jedes Einbürgerungsgesuch dem jeweils zuständigen Einbürgerungsorgan zuzuordnen. Insgesamt sind 2'445 ordentliche Einbürgerungsgesuche von im Ausland geborenen Erwachsenen aus 42 Zürcher Gemeinden in die Analysen eingeflossen.

Die Datenstruktur sowie der Umstand, dass der Wechsel der kommunalen Einbürgerungszuständigkeit vom Bundesgericht und damit exogen angestossen wurde, ermöglichten die Anwendung eines natürlichen Experiments mittels Two-Way-Fixed-Effects- -Regression. Natürliche Experimente schliessen unbeobachtete Faktoren, die den interessierenden Zusammenhang stören könnten, per Forschungsdesign fast vollständig aus. Damit kann davon ausgegangen werden, dass die Wirkung der Gemeindeversammlung auf die individuelle Rückzugswahrscheinlichkeit von rund 30 Prozent ursächlich ist. Wegen der dichotomen abhängigen Variable (Ablehnung vs. Rückzug) habe ich lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle berechnet. Diese habe ich mit individuellen Kontrollvariablen (Herkunft, Alter, Zivilstand und Geschlecht) ergänzt. Die Einteilung der Gesuchstellenden in die Kategorien «marginalisiert» und «nicht marginalisiert» habe ich theoretisch, auf der Grundlage bestehender Literatur, und empirisch, ausgehend von bisheriger Forschung zu ethnischer Diskriminierung bei Einbürgerungsentscheiden, hergeleitet.


Referenz:

Ramp, Daniela (2020): Der Einfluss direkter Demokratie auf Einbürgerungschancen im Kanton Zürich 2008-2017. Ein natürliches Experiment. Masterarbeit (erweiterte Ausgabe). Zürich: Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.

 

Quellen:

  • Betz, Hans-Georg (2017): Populism and Islamophobia. In: Heinisch, Reinhard C./ Holtz-Bacha, Christina/ Mazzoleni, Oscar (Hrsg.): Political Populism. A Handbook. Baden-Baden: Nomos, 373-389.
  • Hainmueller, Jens/ Hangartner, Dominik (2013): Who gets a Swiss Passport? A Natural Experiment in Immigrant Discrimination. American Political Science Review 107(1), 159-187.