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Was wäre, wenn die Vereinigten Staaten bei der Wahl des Kongresses dem Beispiel ihrer Schwesterrepublik Schweiz folgen würden?

Julien Jaquet
3rd November 2020

Heute wird nicht nur der US-Präsident gewählt, sondern auch alle 435 Sitze im Unterhaus und ein Drittel der 100 Sitze im Senat. Hinsichtlich Föderalismus und Zweikammersystems gibt es grosse Ähnlichkeiten zwischen dem US-Kongress und der Bundesversammlung. Doch das Wahlsystem unterscheidet sich beträchtlich. In den USA wird nur nach Mehrheitswahlrecht gewählt und es besteht die Möglichkeit, Wahlkreise entlang von Parteienstärken zu verändern, das sogenannte Gerrymandering. Beides führt zur Wahl-Verzerrung. Auf der Basis der letzten Parlamentswahlen im Jahr 2018 zeigt folgende Analyse, inwiefern die Wahlergebnisse anders ausgefallen wären, wenn das US-Repräsentantenhaus ähnlich wie der Schweizer Nationalrat gewählt würde.

 
Zwei Staaten, ein föderales Modell?

Die Institutionen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Vereinigten Staaten von Amerika sind sich in vielem ähnlich [1]. Beide kennen einen dezentralisierten Bundesstaat, der den föderalen Einheiten wichtige Kompetenzen überträgt, das Parlament beider Länder besteht aus zwei Kammern mit einer Vertretung der Kantone (oder der Staaten) und einer Kammer des Volkes und es gibt direktdemokratische Instrumente auf Staatsebene. Die gegenseitige Inspiration zwischen den beiden Ländern im 18. und 19. Jahrhundert erklärt, weshalb sie so viele Ähnlichkeiten aufweisen.

Bei der Ausarbeitung der Bundesverfassung von 1848 orientierte sich die für die Grundsteinlegung des modernen Schweizer Bundesstaates zuständige Tagsatzungskommission, insbesondere auf Anregung des Philosophen und Arztes Ignaz Paul Vital Troxler, an der amerikanischen Verfassung von 1787 (Hutson 1991). Zu den wichtigsten Grundsätzen gehörten ein Föderalismus mit doppelter Souveränität - d.h., dass die Souveränität zwischen dem Zentralstaat und den föderierten Einheiten geteilt wird - und ein Zweikammersystem. Auf der Ebene des Bundesparlaments übernahm der eingesetzte Ständerat die Struktur des US-Senats, in dem jeder Staat zwei Vertreter hat. Der Nationalrat übernahm die Struktur des Repräsentantenhauses, in dem jeder Staat über eine der Bevölkerungszahl proportionalen Anzahl von Sitzen verfügt.

Mehrheit versus proportionales Wahlsystem

Während die Struktur des Kongresses und die der Bundesversammlung auch heute noch ähnlich sind, gibt es einen wichtigen Unterschied im Wahlsystem. In den Vereinigten Staaten wird traditionell das System der (relativen) Mehrheit nach dem Mehrheitswahlrecht ("first-past-the-post") angewandt. Pro Wahlkreis kann nur eine Kandidatin oder ein Kandidat gewählt werden, nämlich diejenige Person, die am meisten Stimmen erhält. In einigen amerikanischen Städten fanden zwar zu Beginn des 20. Jahrhunderts Experimente mit einem Proprozwahlsystem statt, doch die amerikanische Wählerschaft ist an ihr "Winner-takes-all"-Wahlsystem gewöhnt.

In der Schweiz stimmten Volk und Stände 1918 nach drei Anläufen der Einführung des Proporzwahlrechts für die Nationalratswahl zu. Nach dessen Einführung gewannen bei den eidgenössischen Wahlen von 1919 die Bauernpartei (heute SVP) und die Sozialdemokraten (SP) 25 bzw. 21 Sitze gegenüber der vorherigen Wahl, bei der noch das Mehrheitswahlsystem zur Anwendung kam. Somit verloren die Radikal-Liberalen (heute FDP) ihre bis dahin gehaltene Mehrheit [2].

Vor allem die Sozialdemokraten fühlten sich durch das Mehrheitssystem am stärksten benachteiligt und hatten sich für dessen Einführung eingesetzt [3]. Eine interessante Parallele zu den Vereinigten Staaten, denn es sind die Demokraten, die auf die Einführung des Porporzwahlsystem drängen. Im Jahr 2019 brachten sie einen Gesetzesentwurf - den Fair Representation Act - ein, der die Einführung eines Ranked-Choice-Abstimmungssystems vorschlägt, bei dem die Wählerschaft nach der Rangfolge der Kandidierenden abstimmen würde.

Gerrymandering

In der Schusslinie der Demokraten befindet sich auch das so genannte Gerrymandering. Der Begriff Gerrymandering bezieht sich auf das Ziehen von Wahlkreisgrenzen zum Zweck der Begünstigung einer Partei oder einer Kandidatur. Gerrymandering bedeutet nichts anderes als Wahlkreisschiebung und meint im Prinzip die Manipulation von Wahlkreisgrenzen in einem Mehrheitswahlsystem, was zu einer wahlbedingten Verzerrung der Repräsentation führt. Mittels Gerrymandering wird eine Lücke zwischen der Anzahl der Stimmen, die jede Partei oder jede Kandidatur erhält, und der tatsächlichen Sitzverteilung geschaffen. Abbildung 1 veranschaulicht dieses Prinzip.

 

Abbildung 1: Auswirkung des Wahlsystems und der Wahlkreiseinteilung auf die Anzahl der erhaltenen Sitze im Parlament

Die 3 Grafiken sind electoral maps. Links: Proportionales Wahlsystem, nur ein Wahlkreis (Schweizer Kantone); Mitte und rechts: Mehrheitswahlsystem, 5 Wahlkreise, 1 pro Kandidat (amerikanische Bundesstaaten)

 

Die linke Grafik (Abbildung 1) zeigt das Ergebnis einer Wahl im Porporzwahlsystem wie in den Schweizer Kantonen bei der Nationalratswahl. Jede Partei erhält eine Anzahl von Sitzen im Verhältnis zur Anzahl der erhaltenen Stimmen. Die beiden anderen Grafiken (in der Mitte und auf der rechten Seite) zeigen das Ergebnis in einem Mehrheitssystem, wie es in den amerikanischen Bundesstaaten für die Wahl des Repräsentantenhauses zur Anwendung kommt. In diesen Staaten ist lediglich eine (relative) Mehrheit der Stimmen erforderlich. In einem Zweiparteiensystem bedeutet dies fünfzig Prozent der Stimmen + 1 Stimme. Es zeigt sich, dass je nach Aufteilung und Wahlsystem die Zahl der Sitze, die die beiden Parteien tatsächlich erhalten, sehr unterschiedlich ist. In der mittleren Situation führt es zu einer Wahl-Verzerrung von +2 Sitzen für Partei B (und damit -2 Sitze für Partei A) im Vergleich zur Volksabstimmung, während es in der rechten Situation zu einer Wahl-Verzerrung von +1 Sitz für Partei A kommt.

Zwar kommt dieses Prinzip, wie wir sehen werden, sowohl den Demokraten als auch den Republikanern zugute, aber es scheint, dass die Republikaner die Anwendung dieses Prinzips offener annehmen, wie ihr REDMAP-Projekt (wörtlich: "Rote Karte", je nach den Farben der Partei) beweist.

Verzerrung bei den Wahlen der Mitglieder des US-Repräsentantenhaus

Um die bestehende Wahl-Verzerrung bei der Wahl zum Repräsentantenhaus aufzuzeigen, soll berechnet werden, wie das Ergebnis in jedem der fünfzig amerikanischen Bundesstaaten ausgefallen wäre, wenn ein Proporzwahlsystem wie bei der Wahl des Nationalrats zur Anwendung gekommen wäre [4]. Zusätzlich zur proportionalen Sitzteilung würde jeder Staat einen Wahlkreis repräsentieren (siehe linke Grafik, Abbildung 1).

Abbildung 2 zeigt die Wahl-Verzerrung in Bezug auf den Gewinn oder Verlust von Sitzen für Demokraten zwischen dem aktuellen Wahlmodus und einer hypothetischen Situation, so wie sie bei der Nationalratswahl in der Schweiz vorherrscht.

 

Abbildung 2: Wahl-Verzerrung (in Bezug auf den Gewinn oder Verlust von Sitzen für Demokraten) bei den Zwischenwahlen zum US House of Representatives 2018

Positive Werte bedeuten einen Gewinn an Sitzen für Demokraten, während negative Werte einen Gewinn an Sitzen für Republikaner anzeigen (das heisst, ein Verlust für die Demokraten).

 

Zunächst einmal sehen wir, dass die Ergebnisse für die sieben Staaten mit nur einem Sitz im Unterhaus des Kongresses logischerweise die gleichen gewesen wären. In einem Fall wie diesem entspricht ein proportionales System einem relativen Mehrheitssystem. Für sechs weitere Staaten zeigt die Analyse keine Wahl-Verzerrung, d.h. die Einführung eines proportionalen Wahlsystems hätte die Anzahl der von Demokraten und Republikanern gewonnenen Sitze in diesem Staat nicht verändert.

Auf der anderen Seite erzeugt das gegenwärtige System für 37 der 50 Staaten irgendeine Form von Wahl-Verzerrung. In 16 dieser Staaten gibt es eine Wahl-Verzerrung zugunsten der Demokraten und in den übrigen 21 Staaten zu Gunsten der Republikaner. Kalifornien ist der Bundesstaat, in dem die Verzerrung am stärksten zu Gunsten der Demokraten ausfällt. Die Demokraten erhalten elf zusätzliche Sitze im Vergleich zu einer Situation, in der ein proportionales System angewendet worden wäre.

Eine andere Art, diese Wahl-Verzerrung zu betrachten, ist, dass die Demokraten 65,7 Prozent der Stimmen für den gesamten Staat, aber 86,8 Prozent der Sitze erhielten. Auf der anderen Seite gibt es Texas, das eine Wahl-Verzerrung zu Gunsten der Republikaner um fünf Sitze aufweist. Die Republikaner gewannen nur 50,4 Prozent der landesweiten Stimmen, aber erhielten damit 63,9 Prozent der Sitze. Diese beiden Ergebnisse sind kein Zufall, wenn man bedenkt, dass es sich um die beiden bevölkerungsreichsten Bundesstaaten handelt, die mit 53 bzw. 36 Sitzen die meisten Sitze im Unterhaus des Kongresses haben. Darüber hinaus veranschaulichen diese beiden Staaten eine unterschiedliche Art der Wahlkreiseinteilung.

In Kalifornien sind die Wahlbezirke, in denen eher Republikaner wählen, größer (in Bezug auf die Fläche), weniger städtisch und weiter von der Küste entfernt, wo sich die größten Städte befinden. Entlang der Küste und in den großen städtischen Zentren gibt es eine Vielzahl von Wahlbezirken, was zur Zunahme der Anzahl von Abgeordneten für die Demokraten führt. In Texas sind die drei bevölkerungsreichsten Städte des Bundesstaates (Houston, San Antonio und Dallas, 16 Prozent der Gesamtbevölkerung des Bundesstaates), in denen tendenziell mehr Demokraten gewählt werden, in vielen Fällen in mehrere Wahlbezirke aufgeteilt, die jeweils Vororte und/oder ein mehr oder weniger überwiegend weißes Wahlkampfgebiet umfassen, in denen es im Allgemeinen mehr republikanische Wählerinnen und Wähler gibt.

Der entscheidende Faktor, der diese Unterschiede in Bezug auf die Wahl-Verzerrung erklären kann, ist die Parlamente der Bundesstaaten (State Legislature). In den meisten Staaten ist es die State Legislature, die die Einteilung in Wahlkreise kontrolliert. Unsere Analyse zeigt, dass in den elf Staaten (mit mehr als einem Sitz im Unterhaus), die von Demokraten dominiert werden (d.h. Mehrheit in beiden Häusern), die durchschnittliche Wahl-Verzerrung bei den Demokraten 2,5 Sitze beträgt. Umgekehrt beträgt die durchschnittliche Wahl-Verzerrung in den 29 von Republikanern dominierten Staaten 0,9 Sitze zu ihren Gunsten. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Staaten im Durchschnitt weniger Sitze im Repräsentantenhaus haben (9,1 gegenüber 13,7 für die 11 demokratischen Staaten), was die Unterschiede erklären könnte.

Demokraten - Republikaner: ein Unentschieden?

Letztlich scheinen die Demokraten im Durchschnitt tatsächlich einen größeren Vorteil zu haben als die Republikaner, allerdings in einer geringeren Anzahl von Staaten. Das vielleicht interessanteste Ergebnis ist, dass sich auf aggregierter Ebene die Parteienzusammensetzung des Repräsentantenhauses nur um einen Sitz ändern würde, was darauf hindeutet, dass die oben beobachtete Verzerrung aufgehoben wird. Somit bestünde die Parteizusammensetzung eines als unser Nationalrat gewählten Repräsentantenhauses aus 231 Sitze für die Demokraten (-1 Sitz), aus 202 Sitze für die Republikaner (gleich) und aus einem Sitz für die Libertäre Partei (+1) [5].

Dennoch sollte unsere Analyse mit Vorsicht betrachtet werden. Wenn in den Vereinigten Staaten ein echtes Porporzwahlsystem eingeführt würde, würde dies möglicherweise die Tür für neue politische Parteien öffnen, was das politische Angebot für die Wählerschaft erhöhen würde. In ähnlicher Weise basiert unsere Analyse auf der Annahme, dass die Stimmen die wahren Präferenzen der Wählerschaft widerspiegeln. Es ist möglich, dass einige Wählende es vorgezogen hätten, eine andere Partei zu wählen, sich aber aus strategischen Gründen für die Demokraten oder Republikaner entschieden haben, weil die Kandidatur, die sie ursprünglich vorzogen, keine Chance gehabt hätte, gewählt zu werden.

Der hypothetische Vergleich, den wir angestellt haben, legt nahe, dass das Problem der Wahl-Verzerrung am häufigsten auf der Ebene der Bundesstaaten auftritt. Auf Bundesebene heben sich, zumindest was die Wahl des Repräsentantenhauses betrifft, innerstaatliche Verzerrungen gegenseitig auf. Auf der anderen Seite ist die Präsidentschaftswahl - abgesehen davon, dass sie auf einem Wahlkollegium basiert - vielleicht problematischer, wenn man bedenkt, dass in 48 der 50 Bundesstaaten (und zusätzlich dem District of Columbia) die Delegierten vollständig dem einen oder anderen Kandidaten zugeteilt werden, im Gegensatz zur Wahl des Repräsentantenhauses, bei der man innerhalb desselben Bundesstaates gewählte Funktionäre beider Parteien haben kann. Die Debatte über das Wahlsystem und die Wahlkreiseinteilung in den Vereinigten Staaten ist deshalb noch lange nicht zu Ende und ist nur ein weiterer Punkt in einer bereits langen Liste politischer Fragen.


[1] Der Begriff "Schwesterrepubliken", inspiriert durch den Titel des Buches von James Hutson (1991), soll am 14. April 1778 von Johann Rodolph Valltravers, Stadtrat der Stadt Biel, verwendet worden sein.

[2] Vom Majorz zum Proporz: Wie kam es 1919 zur ersten Proporzwahl?

[3] In strategischer Hinsicht hatten sie erklärt, dass die Mehrheit der Liberal-Radikalen nicht angefochten werden würde, was vom statistischen Amt bestätigt wurde (siehe Fussnote 2).

[4] Es ist jedoch zu beachten, dass auch das schweizerische Proporzwahlsystem nicht frei von Wahl-Verzerrung ist. Siehe zum Beispiel diesen Artikel von Adrian Vatter.

[5] Gegenwärtig gibt es eine Reihe von freien Sitzen, darunter einen, der derzeit von der Libertarianischen Partei gewählt wird, die unter den republikanischen Farben gewählt wurde.

 

 

Bibliographie:

Hutson, James H. (1991). The Sister Republics. Switzerland and the United States from 1776 to the Present. Washington DC: Library of Congress.