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Die Reform des Ständerates – ein Gedankenexperiment

Adrian Vatter
30th September 2020

Der Ständerat verschärft die schon vorhandenen Repräsentationsdefizite der Volkskammer und er vertritt nicht die Interessen der kantonalen Behörden. Der Beitrag skizziert, wie sich diese beiden Probleme durch eine kombinierte Reform lösen lassen.

Ständeratsbuch

Die frühe Kritik von Leonhard Neidhart (1970) am Ständerat, dass seine föderalistische Repräsentationsfunktion nicht eindeutig genug sei und als soziale Vertretung nicht der gesellschaftlichen Interessenstruktur entspreche, hat in Bezug auf die funktionalen Schwächen der Zweiten Parlamentskammer im Grundsatz bis heute wenig von ihrer Gültigkeit eingebüsst. Sowohl die ungenügende direkte Vertretung kantonaler Interessen als auch die politisch und gesellschaftlich einseitige Zusammensetzung des Ständerates haben sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte nicht abgeschwächt. Daran ändert auch die im Herbst 2019 erfolgte Wahl von vier mehrheitlich jungen Frauen der Grünen in die 46-köpfige Kammer wenig.

Kein perfektes Reformmodell

Die Evaluation von zehn ausgewählten Reformodellen anhand verschiedener Kriterien wie föderale Interessenwahrung, Minderheitenschutz und Mässigung der Gewalten lässt den Schluss zu, dass keiner der bisher eingebrachten Reformvorschläge gleichzeitig alle funktionalen Defizite der Zweiten Parlamentskammer auf einmal beheben kann (vgl. hierzu ausführlich Vatter 2020). Während einzelne Varianten wie der Übergang zur Proporzwahl, die demografische Gewichtung der Stände oder der Wechsel zum Einkammersystem nicht zu überzeugen vermögen, erfüllen immerhin drei Modelle je rund die Hälfte der aufgestellten Kriterien.

So erweist sich auf der einen Seite der an das deutsche Bundesratsmodell angelehnte Vorschlag einer Personalunion von Stände- und Regierungsrat als effektive Regelung zur wirksamen Stärkung der föderalen Interessenwahrung und zur Abschwächung der parteipolitischen Polarisierung. Auf der anderen Seite überzeugt der visionäre Vorschlag eines Minderheiten- bzw. Zukunftsrates durch seinen gezielten Ausgleich der gesellschaftlichen Repräsentationsdefizite, den Schutz kultureller Minderheiten, die spezifische Stärkung der politischen Reform- und Steuerungskapazitäten sowie die zukunftsorientierte Umsetzung der Idee einer chambre de réflexion. In Bezug auf den Ausgleich der Repräsentationsdefizite schneidet trotz einiger Schwächen das Losverfahren ebenfalls gut ab und setzt zudem genau dort an, wo das Modell des Zukunftsrates eine demokratietheoretische Schwäche besitzt, nämlich bei der konkreten Auswahl seiner Mitglieder. 

Ein kombinierter Reformansatz

Fasst man langfristig einen grundlegenden Umbau des Ständerates ins Auge, ohne dabei nach der kurzfristigen Machbarkeit und Akzeptanz zu fragen, so spricht vieles für eine sinnvolle Kombination der soeben kurz skizzierten Reformmodelle (vgl. Abbildung). Die drei Varianten ergänzen sich in Bezug auf die funktionalen Erfordernisse in nahezu idealer Weise. Während das Bundesratsmodell zu einer wirkungsvollen Stärkung des föderativen Elementes führt, gleicht das Minderheitenratsmodell gezielt die gesellschaftlichen und kulturellen Vertretungslücken der Ersten Kammer aus.

Ein weiterer Vorteil eines kombinierten Reformmodells liegt mit der Entsendung je eines kantonalen «Aussenministers» und eines kantonalen Minderheitenvertreters in der Beibehaltung der bewährten Ständevertretung mit zwei Abgeordneten pro Kanton. Wichtige Stärken des heutigen Systems, nämlich die grundsätzliche Gleichbehandlung der Kantone sowie die funktionalen Vorteile eines vergleichsweise kleinen Organs, blieben dadurch erhalten. Während sich als Wahlorgan des kantonalen Aussenministers das kantonale Volk anbietet, könnte der Minderheitenvertreter entweder per Wahl oder per Los ausgewählt werden.

 «Föderative Antizipative»

Die Ergänzung der Volkskammer als klassische Legislative durch eine «föderative Antizipative» stellt angesichts der hohen Akzeptanz und der nach wie vor unbestritten vorhandenen Stärken des Ständerates keinen kurzfristig zu realisierenden Reformvorschlag dar. Vielmehr rückt dieses Reformmodell als langfristig angelegtes Gedankenexperiment den Ausgleich grundlegender struktureller und repräsentationsspezifischer Schwächen der schweizerischen Demokratie in den Mittelpunkt. Mit der Verbreiterung des Repräsentationsgedankens, indem neben der demokratischen auch eine räumliche und zeitliche Vertretung berücksichtigt werden, handelt es sich um ein zukunftsträchtiges institutionelles Arrangement – zur Erhöhung der Legitimation von Politik, zur Verbesserung der staatlichen Steuerungs- und Konfliktbearbeitungskapazitäten einerseits und für eine zeitgemässe Umsetzung der Integration von alten und neuen Minderheiten andererseits.

Abbildung:  Der kombinierter Ansatz als langfristiges Reformmodell der Zweiten Kammer in der Schweiz


Referenzen

  • Leonhard Neidhart (1970). Reform des Bundesstaates: Analysen und Thesen, Bern: Francke.
  • Adrian Vatter (2020). Reformansätze unter der Lupe: Modelle für die Reform des Ständerats, in: Mueller, Sean und Adrian Vatter (Hrsg.): Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.

Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern