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Demonstrativer Bullshit in der politischen Kommunikation

Romy Jaster, David Lanius
20th August 2020

In der Politik findet sich zunehmend ein sprachliches Mittel, das wir demonstrativen Bullshit nennen. Populisten und Demagogen setzen ihn ein, um die Normen des politischen Diskurses in ihrem Sinn zu verschieben, wie unsere Analyse aufzeigt.

Aarauer Demokratietage

Lügen und Bullshit

Politiker lügen von Zeit zu Zeit. Einer gängigen Definition zufolge ist eine Lüge eine Behauptung, die der Sprecher für falsch hält und mit der Absicht tätigt, den Adressaten in Bezug auf den Inhalt zu täuschen. Neben klassischen Lügen offenbart die gegenwärtige öffentliche Kommunikation jedoch auch in besonderem Maße ein verwandtes Phänomen, das in der philosophischen Fachliteratur als »Bullshit« bezeichnet wird. Im Unterschied zum Lügner, der über die Tatsachen täuschen will, zeichnet sich Bullshit durch die vollständige Gleichgültigkeit des Sprechers gegenüber der Wahrheit aus. Ein gutes Beispiel für Bullshit ist Donald Trumps Behauptung, bei seiner Amtseinweihung habe es im Moment seiner Vereidigung zu regnen aufgehört und die Sonne habe geschienen. 

Demonstrativer Bullshit

Normalerweise bemühen sich Bullshitter darum, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit zu verschleiern. In der politischen Kommunikation lässt sich allerdings in jüngerer Zeit ein Phänomen beobachten, das wir demonstrativen Bullshit nennen wollen: Das Aufstellen von Behauptungen, ohne an der Wahrheitsfindung interessiert zu sein und ohne den Versuch zu unternehmen, die eigene wahrheitsindifferente Haltung zu verbergen. Trumps Behauptung, die Sonne habe während seiner Amtseinweihung geschienen, ist ein solcher Fall.

Die Administration Trump hat sich demonstrativen Bullshit immer wieder zunutze gemacht. So etwa als sein Pressesprecher Sean Spicer auch dann noch behauptete, die Menschenmenge bei Trumps Amtseinführung sei größer gewesen als bei Obamas Einführung, als Fotos vorlagen, die die deutlich kleinere Menschenmenge bei Trumps Veranstaltung belegten. Trumps Beraterin Kellyanne Conway rechtfertigte Spicers Behauptung später mit der Aussage, Spicer habe mit seiner Aussage lediglich »alternative Fakten« angeboten. Ähnlich argumentierte Newt Gingrich, als er in einem Interview mit der Journalistin Alisyn Camerota äußerte, Gefühle seien für ihn als Politiker wichtiger als Tatsachen.

Auch in Deutschland haben Politiker begonnen, den Wert der Wahrheit ganz offen in Zweifel zu ziehen. So bemerkte beispielsweise der AfD-Pressesprecher Christian Lüth dem Faktenfinder der ARD gegenüber explizit: »Wenn die Message stimmt, ist uns eigentlich egal, woher das Ganze kommt oder wie es erstellt wurde. Dann ist es auch nicht so tragisch, dass es Fake ist« (Becker, 2017).

Ziele des demonstrativen Bullshittens

Die Ziele demonstrativer Bullshitter sind vielfältig. Wir wollen hier nur eines nennen: Demonstrativer Bullshit kann ein wirksames Mittel sein, um die Normen des politischen Diskurses in eine Richtung zu verschieben, die Populisten und Demagogen in die Karten spielt. Wenn politische Akteure öffentlichkeitswirksam und regelmäßig demonstrativ bullshitten, dann widersetzen sie sich damit ganz explizit den Normen der Wahrheitsfindung im gesellschaftlichen Diskurs. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, die Grundlage für demokratische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse zu zersetzen.

Das ist nicht nur ein moralisches Problem. Zwar sind sich die großen deontologischen und konsequentialistischen Moraltheorien einig, dass Lügen und Bullshitten moralisch falsch sind. Entscheidender für unsere Zusammenhänge ist aber, dass die Erosion der genannten Erkenntnisnormen Demokratien erheblichen Schaden zufügen kann.

Wie Bernard Williams anmerkt, neigen Politiker zu illegitimen Handlungen, die ohne eine entsprechende Informiertheit der Bürger nicht aufgedeckt werden können: »Governments are disposed to commit illegitimate actions which they will wish to conceal [...]. It is in citizens’ interest that these be checked. They cannot be checked without true information.« (Williams, 2010, S. 207)

Darüber hinaus beruht die Qualität der öffentlichen Debatte insgesamt wesentlich auf dem Zugang der Bürger zu hinreichend genauen und korrekten Informationen und damit auf der Wahrhaftigkeit derer, die an ihr teilhaben (z.B. Fishkin, 2009, S. 126). Versteht man die öffentliche Debatte als entscheidenden Teil des demokratischen Deliberationsprozesses und in dieser Funktion als grundlegend für die Legitimität politischer Entscheidungen, ist Wahrhaftigkeit als Norm zudem eine zentrale Bedingung dafür, dass die erfolgten politischen Entscheidungen legitim sind und als solche anerkannt werden sollten (Cohen, 1997; Habermas, 1998, S. 141).

Eine Normenverschiebung, die den Wert der Wahrhaftigkeit in Bedrängnis bringt, ist also eine direkte Bedrohung für das Funktionieren der öffentlichen Debatte und damit für die (deliberative) Demokratie als solche. Man kann davon ausgehen, dass einige populistische Akteure sie aus genau diesem Grund aktiv anstreben. Demonstratives Bullshitting kann ein wirkmächtiges politisches Instrument sein, um demokratische Deliberationsprozesse zu unterminieren. Es lässt sich strategisch einsetzen, um Bullshitting als Form des politischen Diskurses zu etablieren und die Wahrheitsfindungsprozesse der demokratischen Institutionen nach und nach zu unterlaufen.

Herausforderungen für die politische Bildung

Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass ein Ziel politischer Bildung darin bestehen sollte, Erkenntnisnormen wie Orientierung an der Wahrheitssuche, Streben nach Wahrhaftigkeit und Einfordern von Rechtfertigung in der öffentlichen Debatte zu stärken. Die Prävalenz demonstrativen Bullshits unterminiert die epistemischen Normen, die für das Funktionieren einer Demokratie, einschließlich des demokratischen Deliberationsprozesses, von zentraler Bedeutung sind. Dieser Entwicklung entgegenzuwirken erfordert zweierlei: eine Vermittlung der Wirkweise demonstrativen Bullshits und eine Stärkung der unter Beschuss stehenden Erkenntnisnormen selbst.

Das beinhaltet unter anderem die Problematisierung von Kommunikationsstrategien, die diese Werte systematisch unterlaufen, und die Stärkung eines selbstständigen, reflektierten und kreativen Umgangs mit diesen Kommunikationsstrategien durch Bürgerinnen und Bürger.

Beides erfordert die Förderung von drei, miteinander verbundener Einsichten:

  • Wahrheit ist ein kostbares Gut.
  • Bullshit in der Politik ist problematisch, destruktiv und in letzter Konsequenz demokratiegefährdend.
  • Bürgerinnen und Bürger stehen als Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien in der Pflicht, Informationen ausreichend zu prüfen; und selbiges sollten sie auch von anderen Menschen einfordern, indem sie Bullshit und die (stillschweigende) Akzeptanz von Bullshit sozial sanktionieren.

 Anders gewendet: Es ist eine drängende Aufgabe politischer Bildung, Dispositionen der Bürgerinnen und Bürger zu stärken, sich an der Wahrheitsfindung zu orientieren.


Literatur:

  • Becker, K. (2017). AfD teilt falsches Antifa-Foto: Fake? Egal! »Es geht um die Message«. ARD-Faktenfinder. https://web.archive.org/web/20180330201709/http://faktenfinder.tagesschau.de/inland/falsches-antifa-foto-101.html. Abgerufen am 12.08.2020.
  • Cohen, J. (1997). Deliberation and Democratic Legitimacy. In J. Bohman & W. Rehg (Hrsg.), Deliberative Democracy: Essays on Reason and Politics (67–92). Cambridge, MA: MIT Press.
  • Frankfurt, H. G. (2005). On Bullshit. Princeton: Princeton University Press.
  • Habermas, J. (1998). Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Williams, B. (2010). Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy. Princeton: Princeton University Press.

 

Bild: wikimedia commons