1

Schlechtere Chancen für die Begrenzungsinitiative wegen der Corona-Krise

Silvia Decadri, Giorgio Malet, Marco Martini, Stefanie Walter
6th Juli 2020

Am 27. September 2020 stimmt die Schweiz über die Begrenzungsinitiative der SVP ab. Die Annahme der Initiative würde nicht nur den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU beenden, sondern auch das Ende für den bilateralen Weg bedeuten. Wir zeigen in diesem Beitrag, dass die Begrenzungsinitiative im Zuge der Corona-Krise bei der Schweizer Stimmbevölkerung an Zustimmung verloren hat.

Die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative war ursprünglich für Mai 2020 geplant. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde sie jedoch auf den September 2020 verschoben. Was bedeutet das für die Erfolgschancen der Initiative? Hat die Pandemie die Annahme der Begrenzungsinitiative wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht?

Begrenzungsinitiative
Die Initiative "Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)" verlangt eine eigenständige Regelung der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern in die Schweiz ohne Personenfreizügigkeit. Sie verlangt vom Bundesrat, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu kündigen, falls es der Schweiz nicht gelingt, das Abkommen innert Jahresfrist auf dem Verhandlungsweg ausser Kraft zu setzen.

Aus theoretischer Sicht ist der Einfluss der Corona-Krise auf das Abstimmungsverhalten unklar. Die Pandemie hat nationalistische Trends weltweit verstärkt, die Gesundheitsrisiken des grenzüberschreitenden Personenverkehrs offen gelegt, aber auch die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung demonstriert.

Die Personenfreizügigkeit wurde während der Krise vorübergehend ausgesetzt. Diese Massnahme blieb aber nicht ohne Folgen: Die Schweizer Wirtschaft wurde durch die Krise deutlich geschwächt, was die Risiken einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen für Schweizer Unternehmen und Arbeitnehmende erhöht.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Einstellung zur Begrenzungsinitiative aus?

Abbildung 1 zeigt, dass die Gegnerschaft der Begrenzungsinitiative während der Corona-Krise leicht zugelegt hat. Im Mai 2020 gab eine Mehrheit von 62,4 Prozent der Befragten an, sicher oder wahrscheinlich gegen die Begrenzungsinitiative stimmen zu wollen, während sich im Herbst 2019 noch 59,7 Prozent gegen die Initiative ausgesprochen hatten.

Die überwiegende Mehrheit der Befragten hat ihre Abstimmungsabsicht im Verlauf der Corona-Krise nicht geändert. Von denjenigen, die im Herbst sicher für die Initiative stimmen wollten, sprachen sich im Mai nur noch knapp drei Viertel weiterhin sicher dafür aus. Dagegen blieben 91 Prozent der erklärten Gegner der Initiative dabei, dass sie sicher gegen die Begrenzungsinitiative stimmen würden. Bei denjenigen, die im Herbst noch keine feste Meinung hatten, zeichnet sich insgesamt eher ein Trend gegen die Initiative ab.

Abbildung 1: Abstimmungsabsicht bei der Begrenzungsinitiative

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Daten und Methoden
Die empirischen Analysen basieren auf einer Online-Panelbefragung, die im Rahmen des vom ERC finanzierten Forschungsprojekts "The Mass politics of disintegration" (Grant Agreement Nr. 817582) von Stefanie Walter konzipiert und vom gfs.bern durchgeführt wird. Die erste Befragungswelle fand vom 25. Oktober bis 11. November 2019 statt, 2'535 Personen haben daran teilgenommen. 1'794 Personen (71%) nahmen auch an der zweiten Befragungswelle teil, die vom 13. bis 28. Mai 2020 durchgeführt wurde. Unsere Analyse konzentriert sich auf die Befragten, die an beiden Wellen teilgenommen haben. Die Stichprobe ist nach Alter, Geschlecht und Sprachregion repräsentativ für das Schweizer Stimmvolk. Die deskriptiven Ergebnisse in den Grafiken sind gewichtet, um den Unterschieden bezüglich Bildungsniveau und Parteizugehörigkeit zwischen unserer Stichprobe und der Schweizer Stimmbevölkerung Rechnung zu tragen.

Insgesamt hat die Corona-Krise die öffentliche Meinung in Bezug auf die Begrenzungsinitiative also nicht dramatisch verändert, doch sie hat die Ablehnung des Volksbegehrens etwas wahrscheinlicher gemacht.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung?

Unsere Daten ermöglichen es, die Mechanismen für diese Entwicklung genauer zu untersuchen. Wir konzentrieren uns dabei auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Einstellungen betreffend Einwanderung, internationaler und insbesondere europäischer Zusammenarbeit, wirtschaftliche Sorgen sowie auf die Zufriedenheit mit der Regierung.

Abbildung 2 vergleicht die Einstellung zu Migration vor und während der Pandemie. Unabhängig davon, ob wir nach den Auswirkungen der Einwanderung auf das Leben insgesamt, die Kultur oder die Wirtschaft gefragt haben, bewerteten die Befragten die Einwanderung im Mai 2020 insgesamt positiver als im Herbst 2019. Diese Einstellungsänderungen sind mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit verbunden, der Begrenzungsinitiative zuzustimmen.

Abbildung 2: Unterstützung für Migration

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Krisenbedingte Sorgen um die Wirtschaft

Anlässlich der Lancierung des Abstimmungskampfes gegen die Begrenzungsinitiative argumentierten sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften, dass die Annahme der Begrenzungsinitiative der durch die COVID-19-Pandemie bereits geschwächten Schweizer Wirtschaft weiteren Schaden zufügen würde. Teilt die Schweizer Stimmbevölkerung diese Sorgen?

Abbildung 3 zeigt, dass sich die Einschätzung der Wirtschaftslage in der Schweiz in den letzten Monaten eingetrübt hat. Während sich im November 2019 noch eine Mehrheit mit der wirtschaftlichen Situation in der Schweiz zufrieden zeigte, waren im Mai 2020 zehn Prozent sehr und über 25 Prozent eher unzufrieden mit der Wirtschaftslage — auch wenn sich, angesichts der COVID-19-Krise vielleicht überraschend, eine grosse Mehrheit der Befragten immer noch «eher zufrieden» zeigt (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Zufriedenheit mit der Wirtschaft

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Gleichzeitig sorgen sich 53 Prozent der Befragten über einen Verlust ihres Arbeitsplatzes. Befragte, die sich grössere Sorgen um den Verlust ihres Arbeitsplatzes machen scheinen tendenziell eher für die Begrenzungsinitiative zu stimmen (Abbildung 4). Allerdings zeigen unsere statistischen Analysen, dass Befragte, die besorgt um ihren Arbeitsplatz sind, seit dem Herbst moderater in ihrer Einstellung geworden sind. Diese Befragten sind nun im Schnitt weniger stark für die Initiative als noch im Oktober und November. Dies legt nahe, dass Befragte, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind, einen weiteren Schlag gegen die Schweizer Wirtschaft eher vermeiden wollen.

Abbildung 4: Abstimmungsabsicht bei der Begrenzungsinitiative unter Berücksichtigung der Sorge um den Arbeitsplatz

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

COVID-19 und die Bewertung von internationaler und europäischer Zusammenarbeit

Auch die Einstellung der Bevölkerung zu internationaler Kooperation im weiteren Sinne ist ein wichtiger Faktor im Kontext der Begrenzungsinitiative. Einerseits ist sich eine grosse Mehrheit der Befragten von achtzig Prozent einig, dass die durch die COVID-19-Krise verursachten medizinischen und wirtschaftlichen Probleme nur gelöst werden können, wenn alle Länder zusammenarbeiten. Diese Ansicht korreliert stark mit einer Ablehnung der Begrenzungsinitiative (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Abstimmungsabsicht bei der Begrenzungsinitiative unter Berücksichtigung der Einstellung zur internationalen Zusammenarbeit

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Andererseits sind die Befragten gegenüber der europäischen Zusammenarbeit und den international koordinierten Bemühungen zur Bewältigung der Krise skeptisch. Die Haltung zur EU hat sich im Vergleich zum Herbst 2019 nicht wesentlich verändert. Die Beurteilung der Krisenbewältigung durch die EU und die WHO fallen uneinheitlich aus, vor allem im Vergleich zur Corona-Strategie der Schweiz, die sehr positiv bewertet wird (siehe Abbildung 6). Sowohl die positive Beurteilung der schweizerischen Corona-Strategie als auch des Umgangs der EU mit der COVID-19-Pandemie korrelieren mit einer höheren Ablehnung der Begrenzungsinitiative.

Abbildung 6: Bewertung der Corona-Politik durch die Befragten - nach Akteuren

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Das Schweizer Stimmvolkes ist mit dem Bundesrat und dem Status quo zufrieden — trotz Corona-Krise

Die positive Bewertung der Schweizer Corona-Krisenstrategie spiegelt sich auch in einer deutlichen Zunahme in der Zufriedenheit mit der Regierung und der Demokratie im Allgemeinen wider (siehe Abbildung 7).

Wenn die Zufriedenheit und das Vertrauen in den Bundesrat weiterhin hoch bleiben, könnte dies dem entschiedenen und einheitlichen Appell des Bundesrats für ein Votum gegen die Begrenzungsinitiative mehr Gewicht verleihen und den Druck auf die Initiative erhöhen.

Abbildung 7: Zufriedenheit mit Regierungsmassnahmen und Demokratie

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Gleichzeitig spricht die gesteigerte Zufriedenheit der Befragten auch für eine grosse Unterstützung für den Status Quo. Die Annahme der Begrenzungsinitiative würde für diesen Status Quo eine grosse Herausforderung darstellen. Dies ist ebenfalls ein Faktor, der erklärt, warum die Unterstützung für die Initiative im Verlauf der Pandemie leicht nachgelassen hat. Vereinfacht gesagt, deuten unsere Analysen darauf hin, dass die Schweizer Stimmberechtigten möchten, dass mit der EU alles so bleibt, wie es ist.

Abbildung 8: Abstimmungsabsicht beim Rahmenabkommen

Hinweis: 1.781 Befragte, die Daten wurden so gewichtet, dass sie einer repräsentativen Stichprobe der Schweizer Bevölkerung entsprechen.

 

Eine starke Unterstützung für den Status Quo könnte jedoch an einem anderen Ort für Probleme zwischen der Schweiz und der EU sorgen: dem Rahmenabkommen. Auch dieses Abkommen bedeutet eine Abkehr vom Status Quo, wenn auch in Richtung einer verstärkten Zusammenarbeit. Abbildung 8 zeigt, dass zwar eine Mehrheit der Befragten weiterhin das Rahmenabkommen befürwortet, dass aber der Anteil der Gegner im Vergleich zum Herbst 2019 leicht angestiegen ist. Hier bedeutet die Zufriedenheit mit dem Status Quo weniger Bereitschaft zur Vertiefung der Beziehungen Schweiz-EU.

Hier droht jedoch Ungemach. Die EU hat deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, den in der Schweiz so beliebten bilateralen Weg ohne ein Rahmenabkommen so weiter zu gehen wie bis anhin. Ohne ein Rahmenabkommen würden die bilateralen Verträge nicht mehr aufdatiert, sodass es im bilateralen Verhältnis zunehmend harzen würde. Der Status Quo ist in der Schweiz zwar sehr beliebt, langfristig aber keine Option mehr.

Doch dies ist eine Herausforderung für die Zukunft. Zunächst muss das bilaterale Verhältnis die Hürde der Begrenzungsinitiative bestehen. Hier sieht es momentan danach aus, dass die COVID-19-Pandemie eine ernsthafte Destabilisierung der Beziehungen Schweiz-EU eher zu verhindern hilft.


Referenzen: 

Bild: Bundesverwaltung