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Wieso die vorläufige Umsetzung von Initiativen Volks- und Ständerechte schwächt

Karl-Marc Wyss
8th Juni 2020

Dieser Beitrag ordnet das Phänomen der vorläufigen Umsetzung von Volksinitiativen ein und zeigt dabei auf, dass die vorläufige Umsetzung einer Volksinitiative den Bundesrat zum Ersatzgesetzgeber macht, was die Volks- und Ständerechte schwächt.

In den letzten Jahren hat das Stimmvolk vier eidgenössische Volksinitiativen angenommen, die den Bundesrat beauftragen, das Initiativbegehren auf Verordnungsstufe umzusetzen – und zwar auf ein bestimmtes Datum hin und/oder in Abhängigkeit von einer Bedingung. Es sind dies die 1. August-, die Zweitwohnungs-, die Abzocker- und die Masseneinwanderungsinitiative. Bei dreien dieser vier Volksinitiativen erliess der Bundesrat Verordnungsrecht für die Zeit bis zum Inkrafttreten des ordentlichen Gesetzes (vorläufige Umsetzung):

Abbildung 1: Anwendungsfälle der vorläufigen Umsetzung

Verfassungsgrundlage: Kriterien, Vorkommen und Entstehung

Eine Verfassungsnorm ermöglicht eine vorläufige Umsetzung bzw. sieht eine solche vor, wenn sie gleichzeitig die folgenden vier Kriterien erfüllt:

  • Sie hat ihren Ursprung darin, dass Volk und Stände eine entsprechende Volksinitiative (Form des ausgearbeiteten Entwurfs) an der Urne angenommen haben;
  • sie ermächtigt und verpflichtet den Bundesrat – zumindest subsidiär – zum Erlass von Ausführungs­bestimmungen (Kompetenzgrundlage für selbstständiges Verordnungsrecht);
  • und macht dabei zumindest eine zeitliche Vorgabe zu Beginn und/oder Ende der Dauer, für die der Bundesrat gegebenenfalls derartige Bestimmungen erlassen soll.
  • Es darf sich aber nicht um eine notrechtliche Kompetenzgrundlage im Sinne von Art. 184 Abs. 3 oder Art. 185 Abs. 3 BV handeln.

Ob der Initiativtext eine vorläufige Umsetzung vorsieht oder nicht, bestimmen die Initiant*innen. Im Verfahren auf Verfassungsteilrevision bestehen keine Schranken, die einer Volksinitiative spezifisch entgegenstehen, weil ihr Initiativtext eine vorläufige Umsetzung fordert.

Vorläufige Umsetzung von Volksinitiativen
Heissen Volk und Stände an der Urne eine Volksinitiative (Form des ausgearbeiteten Entwurfs) gut, tritt der Initiativtext als neue Verfassungsbestimmung(en) in Kraft (Art. 195 BV). Normalerweise erfüllt und konkretisiert die Bundesversammlung den damit verbundenen Auftrag (Forderung des Initiativtexts), indem sie ein entsprechendes Bundesgesetz erlässt. Der neue Verfassungstext kann jedoch vorsehen, dass der Bundesrat vorher eine Verordnung erlässt. Eine entsprechende Verordnung kann sich noch auf kein Gesetz abstützen, sondern nur auf die neue Verfassungsnorm. Konkretisiert der Bundesrat die Initiativforderung entsprechend in einer solchen Verordnung für die Zeit bis das Bundesgesetz in Kraft tritt, so spricht man von einer vorläufigen Umsetzung der Volksinitiative.

Komplexer ist die juristische Fachdefinition dazu: Als vorläufige Umsetzung einer Volksinitiative gilt die Konkretisierung der mit Annahme durch Volk und Stände in Kraft getretenen neuen Verfassungsbestimmungen durch den Erlass von selbständigem, nicht notrechtlichem Verordnungsrecht, dessen Geltungsdauer – in der Regel – durch das Inkrafttreten der ordentlichen Ausführungsgesetzgebung begrenzt ist.

Eine Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung im Initiativtext wirkt sich institutionell nicht auf das Verfassungsrevisionsverfahren aus. Die Verfahrensschritte, also die Initiativlancierung, die Erarbeitung der bundesrätlichen Botschaft, die Gültigkeitsprüfung durch die Bundesversammlung, die Abstimmung und im Falle einer Annahme das Inkrafttreten des Verfassungsentwurfs, sind bei jeder Volksinitiative die gleichen, unabhängig davon, ob das Volksbegehren eine vorläufige Umsetzung fordert oder nicht.

Gründe, weshalb Initiativkomitees eine vorläufige Umsetzung in den Initiativtext aufnehmen

Mit Annahme einer Volksinitiative durch Volk und Stände findet ein Initiativanliegen Eingang in die Verfassung. Auf Bundesebene besteht anschliessend aber keine Möglichkeit, einen erfolgreichen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens im Parlament zu erzwingen.

Die Umsetzung einer Volksinitiative kann sich daher über Jahre oder gar Jahrzehnte hinziehen; ein Beispiel dafür ist die Mutterschaftsversicherung. Die Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung scheint dieser fehlenden Umsetzungssicherheit zeitlich entgegenzuwirken: Sie schreibt eine erste rechtssatzmässige Umsetzung auf ein Datum nach der Volksabstimmung vor, wenn auch bloss auf Verordnungsstufe. Der Bundesrat kann das Verordnungsgebungsverfahren dabei schneller abschliessen als die Bundesversammlung ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren abschliessen kann.

Volksinitiativen, die eine vorläufige Umsetzung fordern, haben bessere Aussichten, dass der Staat sie umsetzt. Dies liegt m.E. daran, dass im Verordnungsgebungsverfahren klarer ist, wer den Misserfolg einer Erlassvorlage politisch zu verantworten hat.

Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist dies schwieriger zu beurteilen bzw. die Antwort stark von politischen Sichtweisen geprägt: So lässt sich die politische Verantwortung beim Scheitern einer Gesetzesvorlage nicht eindeutig nur einem Akteur, wie z.B. einer Bundeshausfraktion oder einzelnen Parlamentarier*innen zuweisen.

Der Gesamtbundesrat bzw. die zuständige Departementsvorsteherin oder der Departementsvorsteher kann sich dagegen beim weitgehend verwaltungsintern erfolgenden Verordnungsgebungsverfahren kaum aus der Verantwortung stehlen und böte entsprechend Angriffsfläche für politische Kampagnen. Bis anhin existiert im Verfassungstext aber kein Initiativanliegen mit Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung, welches die Rechtsetzungsorgane nicht umsetzten.

Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung in Initiativtexten und Verfassung

Obwohl das Konzept der vorläufigen Umsetzung erst 1993 über die 1. Augustinitiative in die Verfassung eingegangen ist, tauchte es bereits 1910 anlässlich der Initiative Proporzwahl des Nationalrates erstmals in einer eidgenössischen Volksabstimmung auf. Von den bis März 2019 zustandegekommenen 333 ausformulierten Volksinitiativen weist im Schnitt rund jede siebte eine Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung auf. Eine markante Zunahme trat ab den 1980er-Jahren ein (Abbildung 2).

Abbildung 2: Zunahme der Vorgaben zur vorläufigen Umsetzung der Volksinitiative

Mögliche Schranken und Folgen der vorläufigen Umsetzung im Einzelfall

Im Einzelfall können einer vorläufigen Umsetzung namentlich weitergehende besondere Gesetzesvorbehalte als Schranke entgegenstehen – z.B. betreffend den schwerwiegenden Grundrechtseingriff (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV) oder betreffend den Freiheitsentzug (Art. 31 Abs. 1 BV). Dies trifft zu, wenn dem Gesetzesvorbehalt gegenüber der Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung ein Vorrang zukommt, was im Einzelfall von der Auslegung der jeweiligen rechtlichen Normkonstellation abhängt.

Geniesst der Gesetzesvorbehalt dabei Vorrang vor der Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung, so fehlt dem Bundesrat im entsprechenden Sachbereich die Kompetenz zum Erlass von vorläufigem Verordnungsrecht. Erlässt er dann ohne hinreichende Verfassungsgrundlage solches Verordnungsrecht, handelt er verfassungswidrig: Es liegt eine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes vor, die Betroffene vor Gericht geltend machen können.

Ein Beispiel dazu bietet die Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung der Abzockerinitiative (Art. 197 Ziff. 10 i.V.m. Art. 95 Abs. 3 BV) im Verhältnis zum besonderen Gesetzesvorbehalt betreffend den Freiheits­entzug (Art. 31 Abs. 1 BV). Umstritten ist dabei, ob der Bundesrat mit der Aus­führungsverordnung (VegüV; SR 221.331), die er allein gestützt auf Art. 95 Abs. 3 i.V.m. Art. 197 Ziff. 10 BV erliess, eine hinreichende Rechts­grundlage für die Anordnung von Freiheitsstrafen schaffen konnte. Dies trifft m.E. nicht zu.

Angesicht dieser bundesgerichtlich nicht geklärten Auslegungsfrage ist zumindest aus politischer Sicht verständlich, dass die Exekutive im Zweifelsfall der Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung Vorrang einräumt und den Verfassungsauftrag zur Verordnungsgebung ausführt. Sie nimmt sich so selbst aus der Schusslinie, spielt den Entscheid der Justiz zu und öffnet den Weg für ein klärendes höchstrichterliches Urteil.

Wirkung und Gefahren der vorläufigen Umsetzung einer Volksinitiative

Bei der Volksinitiative in Form des ausgearbeiteten Entwurfs gestaltet das Initiativkomitee und nicht die Bundesversammlung den Initiativtext und damit im Erfolgsfall den oder die neuen Verfassungsartikel. Die vorläufige Umsetzung verkürzt die parlamentarische Rechtsetzungskompetenz zusätzlich, indem sie eine erste Konkretisierung des neuen Verfassungsrechts durch ein anderes Organ als die Bundesversammlung ermöglicht. So nimmt der Bundesrat als Ersatzgesetzgeber vorübergehend oder gar längerfristig eine Aufgabe wahr, die primär der Bundesversammlung vorbehalten ist. Er durchbricht damit die auf Verfassungsstufe sorgfältig austarierte Verteilung der Rechtsetzungskompetenzen sowie das in Art. 164 BV verankerte Gesetzmässigkeitsprinzip.

Die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gewährleistete Qualitätssicherung und Legitimation der Rechtsetzung fallen weg. Die vorläufige Umsetzung führt zu einer Schwächung der Volks- und Ständerechte: Zum einen sind im verwaltungsinternen Verordnungsgebungsverfahren die Berücksichtigung der politischen Stärkeverhältnisse und des bundesstaatlichen Elements, wie beispielsweise der Einfluss der Kantonsvertreter in der Entscheidfindung, nicht gleich institutionalisiert wie im parlamentarischen Verfahren. Zum anderen entfallen das fakultative Referendum und die damit verbundene faktische Wirkung auf den vorangehenden Rechtsetzungsprozess sowie die Möglichkeit des Stimmvolks, darüber zu entscheiden.

Die provisorische Verordnungslösung des Bundesrats kann zur dauerhaften Rechtsetzung werden, falls ein Ausführungsgesetz auf Jahre hinaus oder gar komplett ausbleibt. In der Praxis galten die vorläufigen Verordnungen – den Spezialfall der Bundesfeiertagsverordnung ausgenommen – immerhin bis zu sechs Jahre, bis die jeweilige Ausführungsgesetzgebung sie ablöste. Bis die Aktienrechtsrevision im Obligationen die VegüV (SR 221.331), die vorläufige Umsetzung der Abzockerinitiative, ablösen wird, dürften es sogar neun oder mehr Jahre werden.

Neben der Langlebigkeit der Verordnungsregelung besteht die Gefahr, dass die vom Bundesrat verankerte Verordnungslösung aus Gründen der Rechtssicherheit vom Gesetzgeber weitgehend übernommen werden müsste (Präjudizierungsgefahr). Der Bundesrat verkäme damit nicht nur zum zeitlich limitierten Ersatzgesetzgeber, sondern auch zum vorprägenden Rechtsetzungsorgan.

Die vorläufige Umsetzung unterliegt zudem der Verfassungsgerichtsbarkeit, womit zumindest in strittigen Fällen nicht der Bundesrat, sondern letztlich die Judikative wichtige politische Entscheide anstelle von Parlament und Stimmvolk trifft. Die bundesrätliche Erstumsetzung gewinnt auf diese Weise über die Geltungsdauer des vorläufigen Verordnungsrechts hinaus an Bedeutung, was zugleich die damit einhergehenden staatsorganisationsrechtlichen Bedenken verstärkt.

Aus demokratischer Sicht unschön ist die Möglichkeit, dass eine der entstehenden Gesetzesvorlage ähnliche vorläufige Umsetzung in Kraft tritt, die fast identische ausführungsgesetzliche Regelung später aber in der Referendumsabstimmung scheitert. Trotzdem bliebe die materiell-rechtliche Regelung – welche die Stimmbevölkerung auf Gesetzesstufe verhinderte – auf Verordnungsstufe vorerst in Kraft.

Weshalb die Forderungen, Volksinitiativen vorläufig umzusetzen, zunehmen werden

Die Praxiszahlen, Auswirkungen und Beweggründe (Beschleunigungs-/Durchsetzungsfunktion) sprechen dafür, dass die Forderung nach einer vorläufigen Umsetzung der Volksinitiative in Initiativtexten eher zur Regel wird, als dass sie wieder verschwindet. Die Vorteile wie z.B. die Erhöhung der Umsetzungschancen leuchten sofort ein. Die staatsrechtlichen Gefahren wirken dagegen eher abstrakt und fanden bisher kaum Eingang in den politischen Diskurs. Entsprechend klein ist die Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Kräfte auf den Einsatz der Vorgabe zur vorläufigen Umsetzung verzichten, vor allem dann nicht, wenn der politische Gegner diese ebenfalls einsetzt.

Die Rechtslehre bleibt daher gefordert, die staatsrechtlichen Bedenken gegenüber der vorläufigen Umsetzung in das schnelllebige – primär auf sachspezifische Erfolge fokussierende – Alltagsgeschäft der Politik einzubringen. Es geht darum, ein Verständnis zu schaffen für den beständigen Wert und die Bedeutung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, der Gesetzesvorbehalte und der Gewaltenteilung.


Quelle:

Der Beitrag ist die Kurzfassung von Die vorläufige bundesrechtliche Umsetzung eidgenössischer Volksinitiativen auf dem Verordnungsweg im LeGes 2019/3 (open access). Die zugrundeliegende gleichnamige Dissertation erschien im April 2020 im Dike Verlag. Seit Mitte April 2021 ist die Publikation über Boris (OpenAcces Universität Bern) frei zugänglich.

Bild: DeFacto