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COVID-19 in der Schweiz – eine netzwerkanalytische Perspektive

Karin Ingold, Manuel Fischer
2nd Juni 2020

Die COVID-19-Krise stellt die Politik vor grosse Herausforderungen. Wir zeigen, wie sich die politischen Entscheide im Allgemeinen und die politischen Netzwerke im Konkreten im Zuge der Pandemie in der Schweiz verändern könnten.

Die COVID-19-Pandemie ist in vieler Hinsicht ein Schockmoment. In Bezug auf politische Netzwerke ist davon auszugehen, dass COVID-19 Netzwerkstrukturen zu verändern vermag. Etablierte Interaktionen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren werden zumindest kurzfristig in Frage stellt. So könnte sich die Position von traditionellen Schlüsselakteuren innerhalb des Netzwerkes vom Zentrum hin zur Peripherie verschieben, währenddem andere Akteure zentraler werden.

Wir unterscheiden in unserem Beitrag zwischen den Strukturen des gesamten Netzwerkes einerseits und Teilen des Netzwerkes andererseits, und legen unsere hypothetischen Erwartungen dar, wie dieser Schockmoment die Netzwerke auf diesen beiden Ebenen beeinflussen könnte.

Entscheiden in politischen Netzwerken
Politische Entscheidungen werden in Netzwerken getroffen. Dabei interagieren verschiedene öffentliche und private Akteure miteinander, um die Gestaltung der Politik zu beeinflussen. Einige dieser Akteure haben formelle Entscheidungskompetenzen, beispielsweise das Parlament oder der Bundesrat. Andere Akteure unterstützen das Finden von politischen Entscheiden, zum Beispiel die öffentliche Verwaltung, welche konkrete Vorschläge für die zu treffenden Entscheidungen ausarbeitet.

Weitere Akteure, die nicht direkt an der politischen Entscheidungsfindung teilnehmen dürfen, versuchen durch den Austausch von Wissen, Informationen oder anderen Ressourcen die formellen Entscheidungsträgerinnen und -träger zu beeinflussen. Diese wiederum sind häufig auf die Informationen und Mitarbeit der anderen Akteure angewiesen. Somit entsteht ein grosses Netzwerk von Akteuren, in welchem Entscheide über Netzwerkbeziehungen von Informationsaustausch, Vertrauen oder gemeinsamen Aktivitäten beeinflusst werden.

Gesamtes Netzwerk: Das Netzwerk an Akteuren in der Schweizer Politik gilt generell als hochintegriert, da viele Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren bestehen. Der relativ enge innere Kern der einflussreichsten Entscheidungsträger hat sich in den letzten Jahrzehnten aber tendenziell erweitert.

Abbildung 1: Politisches Netzwerk in der Schweiz

 

Ähnlich wie bei stark internationalisierten Entscheidungsprozessen, wo Lösungsoptionen vorgegeben sind und die Zeit drängt, führt ein Schockmoment wie COVID-19 dazu, dass Entscheidungskompetenzen in den Händen von Regierungs- und Verwaltungsakteuren auf nationaler Ebene und ausgewählten wissenschaftlichen Expertinnen und Experten zentralisiert werden.

Für andere gesellschaftliche Akteure, welche normalerweise von ausgedehnten Konsultationsmechanismen und entsprechenden Netzwerken profitieren, ist eine Einflussnahme in dieser Ausnahmesituation schwieriger.

Das Netzwerk während der Krise verändert sich in Richtung einer stärkeren Kern – Peripherie Struktur (mit einem kleinen Kern welcher stark integriert ist, und losen peripheren Akteuren, die am Kern hängen) oder einem sternförmigen Netzwerk mit eindeutiger Macht im Zentrum des Netzwerkes. Das etablierte Regime der dezentralisierten und stark einbindenden Entscheidungsfindung dürfte aufgrund dieser Krise in der Schweiz kaum längerfristig hinterfragt werden.

Eine entsprechende Diskussion von Vor- und Nachteilen von verschieden dezentralisierten und inklusiven Entscheidungsstrukturen könnte aber losgetreten werden. Dies wäre insofern zu begrüssen, als dass stark verankerte Institutionen wie der Föderalismus oder das Subsidiaritätsprinzip nicht nur als gegeben angesehen werden müssen, sondern neu bestätigt oder allenfalls revidiert werden könnten.

Traditionelle Konfliktlinien verlieren durch COVID-19 an Wichtigkeit

Teile des Netzwerkes: Manche Akteure des Netzwerkes gehen miteinander Koalitionen ein und stehen so anderen Koalitionen entlang der bekannten politischen Konfliktlinien gegenüber.

Durch den Schockmoment des COVID-19 verlieren allerdings bekannte Themen wie beispielsweise die Sozial- oder Europapolitik, welche die politischen Konfliktlinien in der Schweiz stark prägen, vorläufig an Aufmerksamkeit. Zudem ist der Wille und die Möglichkeit, diese Konflikte öffentlich auszutragen, bei den Akteuren zur Zeit nur eingeschränkt vorhanden, weil politische Akteure dazu tendi,eren in Schock- oder Bedrohungsmomenten gegenüber den externen Gegnern zusammenzustehen, was traditionelle Konfliktlinien weniger scharf erscheinen lässt (Varda et al. 2019).

Die normalerweise eher im Hintergrund agierenden Verbände sind im Gegensatz zu den in der Öffentlichkeit präsenteren Parteien mit mehr Ressourcen, Expertise und direkten Kontakten in die Wirtschaft und Gesellschaft ausgestattet und für die kurzfristige Problemlösung einsatzbereit.

Abbildung 2: Kern und Peripherie des Netzwerks

Angepasst von Balliu et al. 2016

 

Im Gegensatz dazu haben die Parteien, welche tendenziell von einer öffentlichen Diskussion profitieren, mehr Mühe, sich kurzfristig mit diesem neuen Thema auf der politischen Agenda auseinanderzusetzen. Die während der COVID-19 Krise dominierenden Themen wie die öffentliche Gesundheit, der Gang der Wirtschaft oder die Mobilität dürften längerfristig dennoch entlang der traditionellen Konfliktlinien und wieder sehr konfliktreich diskutiert werden. Ob dieser Schockmoment zukünftige Auswirkungen auf Konfliktlinien und Koalitionsstrukturen hat, darf darum bezweifelt werden.

COVID-19 als Herausforderung für die Gestaltung öffentlicher Politik

Im Rahmen unserer Analysen haben wir herausgearbeitet, wie sich Netzwerkinteraktionen während und nach COVID-19 verändern könnten, basierend auf Interpretationen der Ereignisse, wie sie durch den Bundesrat kommuniziert und von Medien und Öffentlichkeit aufgenommen wurden.[1]

  • COVID-19 hat sowohl kurz- wie langfristig das Potential, die thematische Aufmerksamkeit und Ausrichtung der Schweizer Politik zu verschieben. Seit Mitte März wurden fast alle Themen auf der politischen Agenda der nationalen und kantonalen Ebene grösstenteils in die Zukunft verschoben. Das Schweizer Parlament hat seine Session zwischenzeitlich unterbrochen und damit wichtige Dossiers wie die Klima-Gesetzgebung, die parlamentarische Stellungnahmen zur Konzernverantwortungsinitiative oder die Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose vorerst auf Eis gelegt. Auch die Parlamentskommissionen setzen sich zur Zeit weniger intensiv mit ihren eigenen Geschäften auseinander, sondern verfassen u.a. Mitberichte zu Geschäften, die direkt mit COVID-19 zusammenhängen.
  • Eine Konsequenz der Verschiebungen der politischen Agend ist, dass einige akute Konfliktlinien in laufenden Geschäften nun kurzfristig in den Hintergrund rücken. Zum einen sind beispielsweise inhaltliche Unstimmigkeiten zwischen SP und den Grünen bezüglich der Ausgestaltung der Schweizer Klimapolitik oder zwischen FDP und SVP zu höheren Sozialleistungen im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit vorerst beigelegt. Zum anderen demonstrieren aber gerade diese beiden Links- beziehungsweise Rechts-Partnerschaften grosse Einigkeit in der Interpretation der bundesrätlichen Anordnungen rund um COVID-19, wie es auch die parlamentarischen Entscheide während der ausserordentlichen Session Anfang Mai gezeigt haben.
  • Ursprüngliche Netzwerkstrukturen beeinflussen natürlich auch aktuelle Entscheide unter COVID-19. Das Wechselspiel zwischen Bund und Kantonen sowie Regierung und Bevölkerung hat dazu geführt, dass in der Schweiz der "Lockdown" in Etappen eingeführt wurde. Diese eher sanfte Herangehensweise wurde vom In- und Ausland kritisiert, entspricht aber durchaus den föderalen, resilienten Netzwerkstrukturen der Schweiz.
  • Die ausserordentliche Lage führt auch dazu, dass Interessensgruppen und Wirtschaftsvertreter, Konsumentenschützerinnen und Gewerkschaften ihren Fokus verschieben. Strategisches und langfristig ausgerichtetes Lobbieren im Zusammenhang mit COVID-19-Verordnungen in fachspezifischen Politikfeldern ist (vorläufig) dem Umsetzen, Kommentieren und (kurzfristigen) Beeinflussen von Regierungsaufträgen gewichen.
  • In der momentanen Situation sind in den Medien und im politischen Geschehen eine eindeutig eingeschränktere Anzahl Akteure sichtbar. Dabei gibt es einen klaren Kern an Akteuren, wie die nationalen Behörden und ausgewählte Experten und Beraterinnen aus dem Gesundheitsbereich. Weitere Akteure befinden sich eher in der Peripherie (wie beispielsweise Interessensgruppen, Gewerkschaften, sektorale Verbände) und versuchen dabei, gezielt mit den zentralen Akteuren im Kern zu interagieren.
  • Dies hat zur Folge, dass die Verbindungen zwischen den Akteuren im Netzwerk zum Teil andere sind als dies in etablierten oder themenspezifischen Netzwerken der Fall ist. In der politischen Netzwerkliteratur wird oft zwischen politischer und technischer Information oder Kommunikation unterschieden. Während ersteres eher Lobbieren und strategisches Koordinieren zwischen den Akteuren umfasst, geht es beim technischen Informationsaustausch mehr um inhaltliche und experten-basierte Entscheide. Unter COVID-19 nehmen Expertinnen eine starke Rolle ein und politische Entscheide werden mehr denn je anhand von (zum Teil unterschiedlichen) Evidenzen gerechtfertigt. Technischer Informationsaustausch dürfte daher in der aktuellen Situation wichtiger sein als politischer Informationsaustausch.
Schlussfolgerungen auch für die Zukunft?

Netzwerk-Konstellationen haben sich unter dem COVID-19 Regime sehr wahrscheinlich verändert. In absehbarer Zukunft wird es vor allem interessant sein, zu sehen, ob sich einige dieser neuen Strukturen stabilisieren oder ob alle themen- und dossierspezifischen Netzwerke wieder in ihre ursprüngliche Form zurückfallen. Denn möglicherweise stärkt die Krise einige der jetzt starken Allianzen so sehr, dass sie sich auch in anderen Politikfeldern etablieren können. Dies könnte vor allem der Fall sein, wenn in einigen Themenbereichen die Konsequenzen der Krise noch langjährige Diskussionen mit sich ziehen.

In der Schweiz wurde im Zusammenhang mit COVID-19 die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden wie dem Bundesrat und den wissenschaftlichen Experten aus der Bundesverwaltung sichtbarer als je zuvor. Es wird sich zeigen, ob wissenschaftliche oder praxis-orientierte Task Forces nun auch in Bereichen wie Klima oder Personenfreizügigkeit die gleiche Aufmerksamkeit und starke Rolle erhalten.

Die jetzige Situation könnte auch Anschauungsunterricht für eine stärkere Rolle von wissenschaftlicher Expertise in der Politik sein. Möglicherweise gelten Entscheidungsträgerinnen und -träger, die sich auf wissenschaftliche Evidenz beziehen, in den Augen der Bürgerinnen und Bürger als glaubwürdiger. Allerdings kann wissenschaftliche Expertise auch die traditionelle Rechenschaftspflicht gefährden: die politischen Entscheide müssen noch immer die formellen politischen Entscheidungsträger fällen, und diese dürfen ihre Rechenschaftspflicht nicht hinter Evidenz aus wissenschaftlicher Expertise verstecken.

Interessanterweise haben nationale und internationale Expertinnen und Behörden den Schweizer Notfallplan als langsam und träge eingestuft. Aus einer Netzwerk-Perspektive könnte man argumentieren, dass dies den starken und resilienten Netzwerkstrukturen geschuldet ist und einer damit verbundenen, traditionellen Ablehnung von zentraler Macht.

Andere erklären dies mit der Schweizer Konsens- und direkten Demokratie, welche die Regierung dazu zwingen, schrittweise vorzugehen so dass top-down Entscheide mit dem sich entwickelten Risiko-Bewusstsein der Bevölkerung getaktet sind. Auch diese Tatsache, und die (teils öffentliche) Diskussion über den Vergleich mit anderen Ländern, könnte für das Verständnis des Funktionierens von Politik in unserem Land durchaus positive Konsequenzen haben.

 

[1] Die politischen Entscheide und Geschehnisse wurden für den ersten Monat der COVID-19 Krise in der Schweiz beobachtet. Konkret umfasst das die Zeitspanne vom 25. Februar 2020, wo die erste COVID-19 infizierte Person in der Schweiz gemeldet wurde, bis zum 23. März 2020. Alle Artikel zu COVID-19 in der Schweiz der Neuen Zürcher Zeitung und des Le Temps, sowie die Pressemitteilungen der Regierung veröffentlicht auf www.admin.ch/gov wurden heran gezogen.


Referenzen

  • Danielle M. Varda, Rich Forgette, David Banks und Noshir Contractor (2009). Social Network Methodology in the Study of Disasters: Issues and Insights Prompted by Post-Katrina Research. Population Research and Policy Review (28/1). 
  • Weible, Christopher M., Daniel Nohrstedt, Paul Cairney, David P. Carter, Deserai A. Crow, Anna P. Durnova, Tanya Heikkila, Karin Ingold, Allan McConnell und Diane Stone (2020). COVID-19 and the policy sciences: initial reactions and perspectives, in Policy Sciences.